Al’Jebal hatte wahr gesprochen. Es gab sie also – jene Wesen, halb Mensch, halb Skorpion, von welchen einst eines in Amalea aufgetaucht war.
Scorpios …
Die von den Felswänden widerhallenden Trommelschläge endeten abrupt. Sämtliche Augenpaare waren jetzt auf den Schatten östlich des Wüstenkessels gerichtet. Alle Soldaten, Zauberkundigen und Pioniere starrten den Wüstenkrieger an, der sich von der Düne dort erhob wie von einem steinernen Fundament. Als verkörperte er das gesamte Ausmaß der Bedrohung. Eine, die noch nicht sichtbar war, aber die mit seinem Auftauchen ein allzu greifbares Gesicht bekommen hatte. Ein Todesbote …
Siralens Handinnenflächen waren feucht geworden. Ein Blick in die Augen der Soldaten und es stand außer Frage, dass die Männer und Frauen im Grunde nicht wissen wollten, was sie hinter den Dünen und der Gestalt, die sich auf einer von ihnen erhob, tatsächlich erwartete. Sie konnte es ihnen nicht verübeln.
Unwillkürlich spähte Siralen zu Chara. Die Assassinin schien wie gebannt, ja fasziniert von diesem Wesen, das jedem von ihnen einen vernichtenden Eindruck seiner Verletzlichkeit vermittelte. Doch selbst Chara durfte allzu klar sein, dass Diplomatie hier der bessere Ratgeber war.
Egal, wie viele ihnen nun tatsächlich hinter den Dünen auflauerten, sie saßen in der Falle. Für eine Flucht war es zu spät. Diese Tatsache stand in sämtliche Gesichter geschrieben, die das gewaltige Wesen musterte, das sich dort auf dem weißen Sand abzeichnete.
Erneut wurden Trommelschläge laut. Das stumme Warten hatte ein Ende. Ein an den Nerven nagender rasselnder Laut zerriss den Morgen und fügte sich nach und nach in den aufdringlichen Rhythmus der Trommeln ein. Auf dem schmalen Grat der Düne tauchten drei weitere Gestalten anderer Größe und Farbigkeit auf. Rot, Braun, Sandfarben … Ein Anführer und seine drei … ja, was? Berater? Kommandanten? Schildmänner? Oder einfach nur drei weitere Kreaturen, die darauf aus waren, sie zu töten.
„Drei Fragen“, murmelte Chara an Siralens Seite.
„Wie bitte?“
„Gibt es etwas Fesselnderes als den Augenblick vor einem Kampf?“
Realisierte Chara überhaupt, dass sie neben ihr stand?
„Ist es möglich, dass wir am Ende dieses Tages noch leben?“
Chara nahm ihren Rucksack ab und ließ ihn auf den staubigen Boden fallen. Dann verfiel sie in Schweigen.
„Und drittens?“, fragte Siralen.
„Hm?“
„Du sagtest, es wären drei Fragen …“
„Ach so …“ Chara spähte zu Lindawen, der sich zusammen mit Kerrim vom Norden her näherte. „Vergiss es.“
Siralen runzelte die Stirn und folgte Charas Blick. Nach allem, was sie wusste, hatten der Lichtjäger und der Assassine schon in der Nacht die Gegend abgesucht, aber keine verstörenden Berichte über anrückende feindliche Armeen abgegeben. Ihre Warnung wäre aber auch eindeutig zu spät gekommen.
„Und, hast du Antworten auf deine ersten beiden Fragen?“, murmelte sie.
Chara lächelte, obgleich ihr zum Schreien zumute hätte sein sollen.
„Wir könnten sterben.“
„Wir werden.“ Seltsam, aber auf einmal war auch Siralen zum Lächeln zumute.
Chara sah sie an. „Befreiend, nicht wahr?“
„Auf eine exzentrische Art, ja.“ Unfassbar! Ein unsterbliches Wesen wie sie … Die Gewissheit, dass sie sterben würde, hinterließ doch tatsächlich eine Art heilsame Belustigung. Da standen sie nun, die Assassinin und die Elfenkriegerin, und lächelten sich im Angesicht des Todes zu. Zum ersten und vielleicht letzten Mal.
Werde ich vor meinem Tod noch die Gelegenheit haben, Lindawen zu sagen, was er mir bedeutet?
Die Trommeln wurden lauter. Hinter den Dünen tat sich etwas. Alle vier Scorpios hatten sich Richtung Osten gewandt. Waren es Späher? Kommandanten? Wartete ihre Streitmacht hinter den Dünen auf weitere Befehle?
Jetzt geriet der Dünenkamm sichtbar in Bewegung. Chara fühlte die Nervosität wie kleine, feine Stiche unter ihrer Haut. Sie stieg mit jedem Atemzug. Ein gutes Gefühl.
Ja, die Scorpios hatten gewartet. Oder besser, sie hatten sie erwartet. Und nun rollte die Armee des Gegners wie schweres Gerät über den Grat der Sanddünen und offenbarte ihre Monstrosität in den vier Farben ihrer Anführer.
Die Trommeln verstummten, und ein messerscharfes Rasseln erklang. Dann hoben auch die Trommeln wieder an und verfielen nun in einen scharfen, harten Rhythmus.♫ Die vier Scorpios auf den Dünen gaben etwas an ihre Truppen weiter: Kommandos. Schwarze, braune und sandfarbene Skorpionkrieger bezogen in drei Blöcken Position. Es waren Hunderte der fremdartigen Wesen, die kleinsten davon – es waren die sandfarbenen – etwa dreimal so groß wie ein Mensch und mit ihren Chitinpanzern ungleich robuster.
Beim Anblick der gegnerischen Streitmacht ging ein aufgebrachtes Murmeln durch die Menge der Soldaten. Dann erscholl der Befehl O’Haras. Das zweite Bataillon marschierte in vier Blöcken zu je hundertsiebzig Mann Infanterie einschließlich Bogenschützen und Späher bis an den Rand der Felsplattform. Die Zauberkundigen und KEZS hielten sich abseits der hinteren Reihen. Das Allianz-Heer bezog Stellung.
Chara ließ ihre Fingerknöchel knacken. Die Soldaten des zweiten Bataillons wandten sich nun wie ein Mann der feindlichen Streitmacht zu. Zum ersten Mal begriff Chara, dass die Motivationsreden vor einer Schlacht ihren Sinn hatten. Es bedurfte einer wohlgestalteten Illusion, um selbst die hartgesottensten Männer bei einem solchen Gegner aktiv werden zu lassen. Und plötzlich hätte sie gerne geredet. Sie wollte, dass die Männer und Frauen des zweiten Bataillons den Augenblick als das begriffen und erlebten, was er tatsächlich war: Der Moment vor einer großen Schlacht. Möglicherweise vor einer großen Niederlage. Aber in jedem Fall ein denkwürdiger. Einer, den sie mit Leib und Seele spüren sollten. Sie sollten erkennen, dass sie im Augenblick noch lebten und dass der Tod nur ein weiterer Gegner war, den es zu bezwingen galt. Sie wollte, dass sie diese Erregung fühlten, die der Ausblick auf einen Kampf in ihren eigenen Körper pflanzte. Sie wollte, dass sie begriffen, dass das Chaos einen entscheidenden Teil eines Kriegers ausmachte, der erst im Angesicht des Todes wirklich zu sich selbst fand. Sie wollte, dass sie den furchtlosen Krieger als eine Schöpfung des Chaos begriffen und verstanden, dass es das Chaos war, das sie in Situationen wie diesen mit dem Gesang des Todes auf den Lippen auf das Schlachtfeld stürmen ließ. Aber es waren nicht ihre Männer. Es war nicht ihre Schlacht. Denn sie alle standen, kämpften und fielen für die Ordnung.
Und wofür kämpfte sie?
Lindawen und Kerrim tauchten neben ihr auf.
„Wie viele?“, fragte Chara.
„Eh … Ich glaube, dich nicht wirkelich interessiert die genaue Żahl, Schwesterchen.“
Kerrim hatte recht. Wen interessierten schon Zahlen. Die Prognose für Morgen stand sowieso fest.
Nachdem die beiden auch Siralen keinerlei Bericht gaben, machte sich die Elfenkriegerin auf zum Brigadier. Es war klar, was jetzt kam. Sie würden verhandeln. Und so sehr es Chara auch reizte, einfach zu kämpfen, Siralen traf die richtige Entscheidung. Es würde nur sehr wahrscheinlich nichts bringen.
Nach einer Weile kehrte Siralen zurück. Sie hatte sich von dem Gelehrten Garan Lefnui einen Slarpon anlegen und sich vom Brigadier eine Eskorte aus zehn Soldaten aufschwatzen lassen. Das ganze Prozedere dauerte fast ein halbes Glas lang – Zeit, die benötigt wurde, um den Slarpon behutsam an die Veränderung seiner neuen, organischen Umgebung heranzuführen und damit der Gefahr vorzubeugen, dass er sich dauerhaft und gewaltsam mit seinem Wirt verband. Viel Zeit für Chara, wenig für alle, die eine Konfrontation mit dem befremdlichen Gegner verhindern, oder doch zumindest hinauszögern wollten. Und der Gegner wartete. Er griff nicht an. Er gab ihnen Zeit zu kapitulieren, oder anders, das Weite zu suchen.
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