„Machst du dir Sorgen, Siralen?“
Siralen blickte zu Chara. „Natürlich. Du etwa nicht?“
„Ich schätze, niemand hat mir je beigebracht, dass es lohnt, sich Sorgen zu machen.“
„Ich nehme an, das ist ein nicht von der Hand zu weisender Vorteil, wenn man Entscheidungen zu treffen hat. Keinerlei Sorgen, wie die Konsequenzen aussehen könnten …“
„Da hast du wahrscheinlich recht.“ Sie beschleunigte ihren Schritt, als wollte sie sich samt ihren Leibwachen wieder nach vorne absetzen. Siralen blieb an ihr dran und ließ Irwin und Darcean zurückfallen.
„Denkst du, dass es sich bei den Angreifern auf den Stützpunkt um jene Wesen handelt, von welchen eines einst in Amalea auftauchte und sich Al’Jebals Leuten anschloss?“
„Eines wie Schangra?“ Ein Schulterzucken, dann wechselte Chara das Thema. „Wir sollten spätestens ein Glas vor Mittag lagern und frühestens drei Glas später weitermarschieren.“
Das war der Rat, den Siralen als Befehlshaberin der Expedition leider mehr als nötig hatte. Chara war einigermaßen vertraut mit den Bedingungen in der Wüste. Es hieß, bevor sie in Al’Jebals Dienste getreten war, hatte sie mit Telos Malakin und zwei weiteren mittlerweile verstorbenen Begleitern die aschranische Wüste durchquert – vom Valianischen Imperium über Icarian bis nach Billus, oder zumindest fast. Man erzählte sich, dass sie kurz vor Billus von Al’Jebals Orks und Assassinen aufgegriffen und in den Kerker geworfen worden war, zusammen mit ihren drei Begleitern. Erst danach schworen sie und Telos Al’Jebal die Treue. Und Chara wurde eine von seinen Hatschmaschin, obgleich man dem Alten vom Berg nachsagte, er würde niemals einen von anderer Hand ausgebildeten Assassinen in seinen Reihen tolerieren. Wie dem auch sei, Chara kannte die Tücken eines Marsches durch die Wüste. Darum gaben auch sie und Kerrim die nötigen Instruktionen an die Landstreitkräfte weiter, mit anderen Worten an sie, Siralen, und Brigadier O’Hara.
Gerade schob die Sonne ihren leuchtenden Kugelleib über den Horizont. Der Morgen brach an. Und so erhaben und schön das Bild auch sein mochte, es kündete von gleißendem Licht und sengender Hitze. Beides würde ihren Marsch durch die Wüste zum grauenvollen Gewaltmarsch werden lassen. Spätestens in zwei Glas stand die Sonne an einem Punkt des blassblauen Himmelszeltes, an dem sie ihre Strahlen wie glühende Pfeile durch ihre Körper jagen und ihnen den Schweiß auf die Haut treiben würde. Spätestens dann wäre selbst Lindawen zur Abwechslung mal ihrer Meinung und würde nicht, wie sonst, gegen sie arbeiten. Es gab nun mal keinen Elfen, den die Hitze kalt ließ.
Ein Blick zur Seite signalisierte Siralen, dass sie noch immer an dem kleinen Flüsschen entlangmarschierten, das sich Richtung Westen durch die Wüste schlängelte. So würden sie sich bis zur von den Zauberkundigen gesichteten Quelle durchschlagen und danach das lebensspendende Wasser Richtung Südwesten verlassen, um in die „echte“ Wüstenödnis vorzustoßen. Damit sie den tödlichen Kreaturen begegnen konnten, die sich am Rande des gesichteten Hügellandes aufhielten und sie aller Wahrscheinlichkeit nach erwarteten.
„Ich hab’s ja gesagt!“, drang MacOsborns verzweifelte Stimme an ihre Ohren. „Die Sonne versengt mir die Haut. Gibt es denn niemanden, der meinen Sonnenschirm reparieren kann?“
Es gab jedenfalls niemanden, der es für wert befand, Irwin MacOsborn zu antworten.
Siralen zog sich die Kapuze ihrer Leinentunika über den Kopf und schielte erneut zu Chara. Sie verbarg ihr Gesicht bereits unter einem schwarzen Schal. MacOsborn hingegen … Siralen musste lächeln. Vielleicht sollte sie ihm den Gefallen tun, ihm ihr Tuch zu reichen, damit er sein Gesicht darunter verbergen konnte. Andererseits … Nachdem sie noch vor Mittag ein Lager aufschlagen würden, sollte der Barde die Folgen des Sonnenglasts eigentlich überleben.
„Nicht schlapp machen, Irwin!“, rief Chara über die Schulter. „Noch zwei Glas, dann bist du die Sonne für ein Weilchen los.“
Nicht schlapp machen, Siralen!, sagte sie sich selbst. Jeder schweißtreibende Schritt weiter in die mörderische Wüste machte die Last auf ihren Schultern schwerer. Was erwarteten die Soldaten von der Kommandantin der Landstreitkräfte, wenn sie erst dem Feind gegenüberstanden? Wie viele Fehler würden ihr in der kommenden Schlacht unterlaufen? Denn sie ging davon aus, dass es eine Schlacht geben würde. Eine große, eine vernichtende. Vielleicht ihre letzte. In Gedanken zeichnete sie ein Bild von Schangra, einem monströsen Ungetüm, mindestens doppelt so groß wie ein Mensch und mindestens dreimal so gefährlich wie ihre fähigsten Krieger …
Endlich verzog sich die Hitze und Chara blieb stehen. Es war dämmrig geworden, und die Nacht würde bald über die Wüste hereinbrechen.
„Eilmarsch!“, donnerte der Befehl des Brigadiers über die Köpfe der Soldaten hinweg, die sofort einen Zahn zulegten. Nicht mehr lange, und Lindawen würde an ihrer Seite auftauchen, so, wie er es auch die letzten zwei Tage während ihres Fußmarsches getan hatte. Nicht mehr lange, und sie würden das Nachtlager nebeneinander aufschlagen. Nicht mehr lange, und sie würde neben dem Lichtjäger liegen, und sich einmal mehr fragen, was sie so eng aneinanderfesselte, dass sie den Gedanken nicht ertragen konnte, ihn zu verlieren. Lindawen hatte ihren Handel mit den Dragatisten vertuscht und sie damit geschützt. Aus Liebe? Aus Pflichtgefühl dem Sandkorn gegenüber? Oder weil er sich einen bestimmten Nutzen davon versprach? Weil er an ihr dranbleiben und dafür ihr Vertrauen gewinnen musste – als Lichtjäger, als ein das Chaos jagender Elfenspion, der sie als Chaossympathisantin entlarvt hatte und sein Naheverhältnis zu ihr ausnutzen wollte?
Die Wüste hatte sie verschlungen. Seit sie das Flüsschen hinter sich gelassen und gen Südwesten gezogen waren, fühlte es sich an, als würde ihr Trupp Schritt für Schritt im Sand verloren gehen. Und Chara spürte das anhaltende Verlangen, sich selbst in dieser Ödnis zu verlieren. Ihr neues, herrenloses Ich. Die Wüste war wie ein Spiegel ihrer selbst – leer, gleichförmig und ohne sichtbare Grenze, an der man sich orientieren konnte. Verloren zu gehen war ein verlockender Gedanke – in Lindawen, in der Mission, die sie vor einem Jahr und vier Monden begonnen hatte, in sich selbst, wo nichts war … Plötzlich erschienen ihr Lask Cischs Worte wie die Rettung aus der Nichtigkeit aller Dinge, wie ein Wegweiser, der sie aus der Orientierungslosigkeit führen konnte:
Doch ich ziehe in Zweifel, dass dieser Weg, dass der einfache Weg der weisere ist.
Das waren seine Worte gewesen. Das waren ihre Worte.
Ihr alle, die ihr da draußen zusammen mit mir um die Wahrheit kämpft und Licht ins Dunkel bringen wollt – denkt nach! Erschafft euch neu, findet Prinzipien, die es würdig sind, ihnen zu folgen. Erkennt die Grenzen, doch nehmt sie nicht als endgültig wahr. Wenn ihr einen Weg findet, überrennt sie, sprengt sie, schreitet über sie hinweg. Das ist es, was das Chaos beherrscht und wofür es sich lohnt, chaotisch ambitioniert zu sein …
Drei Glas später fand Chara sich auf ihrer Lagerstatt unter freiem Himmel wieder. Sie konnte nicht schlafen. Lindawen neben ihr schlief prächtig, oder zumindest tat er so als ob.
Sie hatten auf einem steinernen Plateau über einem Talkessel nahe dem Hügelland ihr Lager aufgeschlagen. Nördlich und nordwestlich des Plateaus wuchs schroffer Fels in den Himmel. Es war die dritte Nacht nach ihrem Aufbruch vom Stützpunkt. Die ersten beiden hatten sie ohne unliebsame Unterbrechung überstanden.
Chara starrte in die Dunkelheit. Es war kalt geworden, eine jener Wüstennächte mit sternenklarem Himmel. Es würde eine von vielen schlaflosen Nächten werden. Wie lange schlief sie eigentlich schon nicht mehr? War Al’Jebals Freispruch der Auslöser für ihre Schlaflosigkeit gewesen? Oder die Nacht mit Lomond? Oder … Wann hatte das Problem mit der Schlaflosigkeit angefangen?
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