»Dass der Redakteur in der Zeitung Reveil die Anwesenheit des besagten Kriminalbeamten in Caudebec verkündet.«
»Richtig, und da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder beißt der Fisch – ich meine Cahorn – nicht an, dann geschieht nichts. Oder, und das ist die wahrscheinlichere Hypothese, er eilt zitternd herbei. Und so fleht mein Cahorn einen meiner Freunde um Hilfe gegen mich an.«
»Es wird immer origineller.«
»Natürlich verweigert der Pseudo-Kriminalbeamte zunächst seine Hilfe. Darauf folgt das Telegramm von Arsène Lupin.
Entsetzen des Barons, der meinen Freund von Neuem anfleht und ihm soundsoviel dafür bietet, wenn er ihn bewacht. Der Freund nimmt an, bringt zwei Burschen aus unserer Bande mit, die nachts, während Cahorn von seinem Beschützer bewacht wird, eine Reihe von Gegenständen durch das Fenster transportieren und sie mit Hilfe von Seilen in eine zu diesem Zweck gemietete Schaluppe gleiten lassen.
Das ist so einfach wie Lupin.«
»Das ist herrlich«, rief Ganimard, »und ich kann die Kühnheit des Einfalls und die Scharfsinnigkeit der Einzelheiten nicht genug bewundern. Aber ich kann mir kaum einen so berühmten Kriminalbeamten vorstellen, durch dessen Namen der Baron dermaßen hätte beruhigt werden können.«
»Es gibt einen, es gibt nur einen.«
»Welchen?«
»Den des berühmtesten, des persönlichen Feindes Arsène Lupins, kurz, des Inspektors Ganimard.«
»Ich!«
»Du selbst, Ganimard, deswegen wird es ja so delikat: Wenn du dorthin fährst und der Baron sich entschließt, auszuplaudern, wirst du zu dem Schluss kommen, dass es deine Pflicht ist, dich selbst zu verhaften, wie du mich in Amerika verhaftet hast. He! Die Revanche ist köstlich: Ich lasse Ganimard durch Ganimard verhaften!«
Arsène Lupin lachte aus vollem Hals. Der ziemlich verärgerte Inspektor biss sich auf die Lippen. Ihm schien der Spaß keinen solchen Freudentaumel zu rechtfertigen.
Der Eintritt eines Wärters gab ihm Zeit, sich wieder zu fassen. Der Mann brachte die Mahlzeit, die sich Arsène Lupin durch Sondergenehmigung von einem benachbarten Restaurant bringen ließ. Nachdem er das Tablett auf den Tisch gestellt hatte, entfernte er sich. Arsène setzte sich zurecht, brach sein Brot, aß zwei, drei Brocken und fuhr fort:
»Aber sei ruhig, mein lieber Ganimard, du wirst nicht dorthin fahren. Ich will dir eine Sache anvertrauen, die dich in Erstaunen versetzen wird: Die Affäre steht kurz davor, zu den Akten gelegt zu werden.«
»Was?«
»Kurz davor, zu den Akten gelegt zu werden, sagte ich.«
»Das ist nicht möglich, ich habe gerade den Chef des Sicherheitsdienstes verlassen.«
»Und? Weiß Herr Dudouis mehr über mich als ich? Du wirst erfahren, dass Ganimard – entschuldige –, dass der Pseudo-Ganimard sehr gute Beziehungen zu dem Baron aufrechterhalten hat. Dieser, und das ist der Hauptgrund, warum er nichts gestanden hat, hat ihn mit der sehr delikaten Aufgabe betraut, mit mir geschäftlich zu verhandeln, und zu dieser Stunde ist es mit Hilfe einer bestimmten Summe wahrscheinlich, dass der Baron wieder in den Besitz seiner lieben Kleinigkeiten gekommen ist. Als Gegenleistung wird er seine Klage zurückziehen. Also, kein Diebstahl mehr. Also muss die Staatsanwaltschaft wohl oder übel aufgeben …«
Ganimard betrachtete den Häftling verblüfft.
»Und woher weißt du das alles?«
»Ich habe gerade das Telegramm erhalten, das ich erwartete.«
»Du hast eben ein Telegramm erhalten?«
»Im Augenblick, lieber Freund. Aus Höflichkeit wollte ich es nicht in deiner Gegenwart lesen. Aber wenn du erlaubst …«
»Du machst dich über mich lustig, Lupin.«
»Sei so gut, mein Lieber, und schlag vorsichtig das obere Ende von diesem weichen Ei. Du wirst selbst feststellen, dass ich mich nicht über dich lustig mache.«
Mechanisch gehorchte Ganimard und schlug das Ei mit der Messerklinge auf. Ein überraschter Schrei entfuhr ihm. Die leere Schale enthielt ein blaues Blatt Papier. Auf Arsènes Bitte faltete er es auseinander. Es war ein Telegramm, oder eher der Teil eines Telegramms, von dem man die Stempel der Post abgerissen hatte. Er las:
»Vertrag abgeschlossen. Hunderttausend Piepen ausbezahlt. Alles in Ordnung.«
»Hunderttausend Piepen?« fragte er.
»Ja, hunderttausend Francs. Das ist wenig, aber die Zeiten sind schlecht … Und ich habe so viele Ausgaben. Wenn du mein Budget kennen würdest … ein Großstadtbudget!«
Ganimard stand auf. Seine schlechte Laune war verflogen. Er überlegte einige Sekunden, durchging die ganze Affäre noch einmal in Gedanken, um einen schwachen Punkt zu finden. Dann sprach er in einem Ton, der offen die Bewunderung des Kenners durchblicken ließ:
»Gott sei Dank gibt es kein Dutzend von deiner Sorte, sonst könnten wir uns alle zur Ruhe setzen.«
Arsène Lupin setzte eine bescheidene Miene auf:
»Pah, ich musste mich zerstreuen, meine freie Zeit totschlagen … umso mehr, als die Sache nur gelingen konnte, während ich im Gefängnis saß.«
»Wie?« rief Ganimard: »Dein Prozess, deine Verteidigung, die Untersuchung, alles das genügt dir also nicht zur Zerstreuung?«
»Nein, denn ich habe beschlossen, meinem Prozess nicht beizuwohnen.«
»Aha!«
Arsène Lupin wiederholte bedächtig:
»Ich werde meinem Prozess nicht beiwohnen.«
»Wirklich?«
»O nein, mein Lieber! Glaubst du, dass ich auf dem feuchten Stroh krepieren will? Du beleidigst mich. Arsène Lupin bleibt nur so lange im Gefängnis, wie es ihm gefällt, keine Minute länger.«
»Es wäre vielleicht klüger gewesen, gar nicht erst hineinzugehen«, wandte der Inspektor ironisch ein.
»Ah, der Herr verspottet mich? Der Herr erinnert sich daran, dass er die Ehre gehabt hat, meine Verhaftung zu bewirken? Du solltest wissen, mein ehrwürdiger Freund, dass niemand, du nicht mehr als ein anderer, hätte Hand an mich legen können, wenn mich nicht eine weitaus interessantere Sache in diesem kritischen Augenblick beschäftigt hätte.«
»Du verblüffst mich.«
»Eine Frau schaute mich an, Ganimard, und ich liebte sie. Verstehst du, was in dieser einfachen Tatsache liegt: von einer Frau angeschaut zu werden, die man liebt? Alles andere war mir unwichtig, das schwöre ich dir. Darum bin ich hier.«
»Schon ziemlich lange; du erlaubst mir doch diese Feststellung?«
»Ich wollte es eigentlich vergessen. Lach nicht. Das Abenteuer war so entzückend gewesen, ich denke noch mit Rührung daran. Außerdem habe ich etwas schwache Nerven. Das Leben ist heutzutage so gehetzt. In gewissen Augenblicken muss man das, was man eine Kur der Zurückgezogenheit nennt, machen können. Dieser Ort ist der geeignetste, den es für Kuren dieser Art gibt. Man erlebt hier die Kur der Santé in vollem Ausmaß.«
»Arsène Lupin«, warf Ganimard ein, »du machst dich über mich lustig.«
»Ganimard«, versicherte Lupin, »wir haben heute Freitag. Nächsten Mittwoch rauche ich um vier Uhr nachmittags in der Rue Pergolèse meine Zigarre bei dir.«
»Ich erwarte dich.«
Sie drückten sich die Hände wie zwei gute Freunde, die sich nach ihrem wahren Wert schätzen, und der alte Kriminalbeamte wandte sich zur Tür.
»Ganimard!«
Er drehte sich um.
»Was ist los?«
»Ganimard, du vergisst deine Uhr.«
»Meine Uhr?«
»Ja, sie hat sich in meine Tasche verirrt.«
Er gab sie ihm unter Entschuldigungen zurück.
»Verzeih… eine schlechte Gewohnheit … Weil sie mir meine weggenommen haben, habe ich noch lange keinen Grund, dich deiner zu berauben. Umso mehr, als ich hier einen Chronometer habe, über den ich mich nicht beklagen kann und der meinen Bedürfnissen vollauf entspricht.«
Er zog aus der Schublade eine große goldene Uhr, kompakt und praktisch, die eine schwere Kette schmückte.
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