Für den Musikcomputer MDZ71 wurde der Atari ST über das MIDI-Protokoll mit einem Yamaha-Synthesizer TX802 verbunden, der die – damals hochmoderne – Frequenz-modulierte Synthese von Tönen ermöglichte. Der TX802 realisierte damit die Klangfarbe von Tonereignissen als Elemente eines unendlich-dimensionalen Funktionenraums. Für die Implementierung der eigentlichen MDZ71-Software konnte ich meinen ehemaligen Kommilitonen Christof Blum gewinnen, der damit seine Diplomarbeit realisierte. Für den MDZ71 wurde eine Verallgemeinerung »Score« des bekannten Prinzips der Partitur programmiert. Die Parameter der Tonereignisse wurden als geometrische Parameter modelliert und dargestellt. Es war dann möglich – aber freilich nicht immer sinnvoll, etwa die Tonart eines Stücks zu verändern oder die Abspielgeschwindigkeit. Man konnte auch, einfach so, die Parameter komplett austauschen, etwa Einsatzzeit versus Tonhöhe, was dann eine aleatorisch anmutende Musik im Ergebnis ergab.
Der Musikcomputer MDZ71 auf der Basis des Atari ST und des Yamaha-Synthesizers TX802. Das ist der Aufbau auf einem Tisch im Gebäude der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, wenige Minuten vor der Vorführungfür Herbert von Karajan im Mai 1988. Die Fotographie wurde von Christof Blum zur Verfügung gestellt .
Während des MDZ71-Musikcomputer-Projekts sollte ich, wie so viele andere Kolleginnen und Kollegen sicher auch, eine wichtige Erfahrung machen. Die Programmierung des MDZ71 wurde nicht – mehr – von mir selbst ausgeführt. Ich war unversehens in die Rolle eines »IT-Projekt-Managers« hinein geraten: Ich plante, wer von den Programmierern wann und was realisieren sollte, motivierte die Programmierer und kontrollierte das Ergebnis. Ich fand mich so in der Rolle wieder, die Projektergebnisse gegenüber Guerino Mazzola und anderen Interessierten zu vertreten. Ich hatte ohne große Absicht die Ebene eines quasi »Meta-Informatikers« erreicht, mit einer kleinen Projekt- und Personal-Verantwortung. Das war ein Quantensprung.
Am 24. und 25. Mai 1988 fand ein Symposium der Herbert-von-Karajan-Stiftung bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien statt. Wir hatten dort einen Vortrag zur Präsentation des MDZ71 eingereicht. Guerino Mazzola hatte es zudem arrangiert, dass sich Herbert von Karajan, der im Jahr 1988 der wohl bekannteste Musiker der Welt war, den MDZ71 persönlich und exklusiv vorführen lassen wollte. Wir hatten den MDZ71 für den Termin in einem Büro des Wiener Musikvereinsgebäudes aufgebaut. Herbert von Karajan »rauschte heran« mit seinem Hofstaat von der Deutschen Grammophon. Karajan hatte ein irrwitziges Auto, einen Porsche 959. Das könnte damals das wohl schnellste Serienauto der Welt gewesen sein. Unvergesslich ist mir unsere MDZ71-Vorführung. Der bereits schwer gehbehinderte von Karajan trug einen dunkelblauen ausgebeulten Trainingsanzug. Wir durften bei dieser Begegnung leider keine Erinnerungsfotos aufnehmen, die Herbert von Karajan persönlich gezeigt hätten.
Dr. Christof Blum, Eschborn
Exkurs – Über Musik mit Menschen und Maschinen
Wenn man das so liest, so wird einem bewusst, wie gut sich die Geschichte der Digitalisierung mit ihren verschiedenen Entwicklungsstufen der vergangenen 40 Jahre anhand der technischen Entwicklungen in der Musik erzählen lässt.
Im MDZ71 wurden Tonereignisse verarbeitet, deren Merkmale nahe an der Notenschrift liegen. Ein Ereignis wird durch Tonhöhe, Einsatzzeit, Dauer und Lautstärke beschrieben. Der angeschlossene Synthesizer erzeugte hieraus Klänge mithilfe von Schwingungsgeneratoren. In gleicher Weise, wie sich die graphische Datenverarbeitung der 1980er-Jahre in Richtung digitaler Bildverarbeitung entwickelte, zog die digitale Signalverarbeitung in der Musik ein. Das Pendant des Pixels ist das Sample. Digitale Signalverarbeitung ermöglicht nicht nur die Reproduktion beliebiger natürlicher Klänge sondern auch eine stark komprimierte Signalspeicherung, wie sie dem MP3-Format zugrunde liegt.
Wie kein weiteres Kürzel steht »MP3« für den digitaltechnikbedingten Umbruch einer ganzen Branche. Physische Tonträger gehören seitdem der Vergangenheit an. Musik ist immateriell geworden. Nein, die MP3-Erfinder kommen nicht aus dem Silicon Valley, sondern vom Fraunhofer-Institut in Erlangen. Freilich hat effiziente Signalverarbeitung nichts mit »Verstehen« zu tun. Auch dies kann am Beispiel der Musik gut illustriert werden. Die populäre Shazam-App »erkennt« in Sekundenschnelle gespielte Musiktitel und nennt Interpreten und Namen des Stückes. Schier endlos scheint die Musikdatenbank zu sein, auf die hier zugegriffen wird. Und der Abgleich erfolgt beeindruckend schnell. Wer aber meint, die App verstehe etwas von Musik, der irrt.
Das Thema »Computer machen Musik« ist heute so spannend wie in den 1980er-Jahren. Technische Innovationen und geändertes Nutzungsverhalten sind grundsätzlich eher lose miteinander gekoppelt. Das soll heißen, dass nicht jeder technologische Quantensprung unmittelbar die Welt verändert, aber im Einzelfall können vergleichsweise kleine technische Fortschritte eine Lawine an Verhaltensänderung hervorrufen. Die Flut an Bildern und Tönen, von denen wir heute umgeben sind, war vor 40 Jahren so nicht vorstellbar. Auch wenn auf Technikebene in weiten Teilen »nur« quantitative Effekte (Netzbandbreite, Prozessorleistung) die Entwicklung prägten, auf Nutzungsebene vollzogen sich fundamentale Veränderungen. Jedem Hobbymusiker steht heute im Internet eine weltweite Bühne bereit. Die Explosion an Kreativität ist spürbar. Musik ist überall. Und mit dem neuen Licht kommt auch ein neuer Schatten, denn die Musik ist nicht mehr ortsgebunden. Die weltweite Bühne steht in weltweiter Konkurrenz. Musik ist billig. Ist sie damit auch »wertlos« geworden? Wie kann ihr Wert geschützt werden?
Freilich ist die Flut an Quellen und Kanälen und die Überwindung von Ortsgebundenheit und klassischen Redaktionsprozessen in der Musik vergleichsweise die kleinere Herausforderung für die Menschheit, bedenkt man die sich im Zeitalter der »Fake News« zuspitzende Frage der Vertrauenswürdigkeit von Nachrichtenkanälen. Hätten wir uns vor 40 Jahren die gesellschaftliche Brisanz vorstellen können, die von Kurznachrichtendiensten ausgeht? Es scheint, als liege trotz Informationsflut der Höhepunkt der Aufklärung bereits hinter uns. Musik hilft zur Beruhigung und Versöhnung. Heute wie damals. Digital wie analog.¶
Der MDZ71 spielte in Wien das Stück »Der Dichter spricht« aus dem Zyklus »Kinderlieder« von Robert Schumann. Guerino Mazzola hatte die Papier-Partitur – Ton per Ton – in den MDZ71 eingetippt. Aber bevor wir zur eigentlichen Vorführung der Möglichkeiten des MDZ71 kommen konnten, den geometrischen Manipulationen der »Score«, schritt von Karajan bereits nach den ersten Takten heftig ein. »Das ist falsch, das Stück ist ja ganz falsch gespielt!« Er hatte das Stück in der Originaltonart h-moll erwartet. Offenbar hatte er insoweit ein absolutes Gehör. Guerino Mazzola zeigte, dass es dem MDZ71 per lineare Translation sehr einfach möglich ist, die Tonart eines Stücks komplett zu ändern. Der durchaus Technik-affine Herbert von Karajan war am Ende der Vorführung schon beeindruckt, er meinte, mit dem System MDZ71 könnte man ihn »die ganze Nacht allein lassen«.
Abends dann saßen Guerino Mazzola, Christof Blum und ich auf den allerbesten Plätzen »Balkon Mitte« im großen Goldenen Saal im Musikvereinsgebäude in Wien. Wir hatten für den Abend eine Einladung der Herbert-von-Karajan-Stiftung erhalten. Diesen Saal kennt das internationale Publikum als den Aufführungsort der berühmten Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker. Wir hörten die Berliner(!) Philharmoniker in Wien(!) mit »Ein Heldenleben« von Richard Strauss. Von Karajan hatte einen Fahrradsattel als einen Sitz am Dirigentenplatz montieren lassen, weil er nicht mehr so gut stehen konnte. Einer der Einsätze der Posaunen nach einer Generalpause misslang, das Dirigat des Perfektionisten Herbert von Karajan war an dieser Stelle einfach zu unpräzise. Diesen Fehler sollte ich als Amateur-Musiker – der aber immerhin das Strauss-Stück einigermaßen kannte – mein Leben lang im Ohr behalten. Der große Herbert von Karajan war offenbar auch nicht unfehlbar – er hatte sich im Dirigat vertan.
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