Kapitel „Ehrlich gesagt wissen wir nicht, was es ist, Jorin“, erklärte Annabel, während sich das Beamerbild an der Wand aufbaute. „Du wirst gleich verstehen, warum Jacob niemandem davon erzählen wollte.“ Der Rahmen eines Videoprogramms erschien und Annabel drückte auf Play. Sofort veränderte sich die Atmosphäre des Raumes. Als die grünlich fluoreszierende Nachtbild-Aufnahme einer kargen, winterlichen Landschaft auf der Wand erschien, hielten alle den Atem an. Ein schlangenförmiges Lichtband flimmerte über den Himmel, ein Polarlicht. Windrauschen war zu hören. Jorins Augen begannen zu tränen, so angestrengt starrte er auf die unwirkliche Szene: Ein flacher, mit kahlem Unterholz bestandener Hang, von dem sich ein Wildpfad hinabschlängelte, um an der linken Bildkante zwischen Felsbrocken und Schneeflecken zu verschwinden. Einige windschiefe Büsche begrenzten das Bild, während im Hintergrund, wie starre Wächter, eine Reihe haushoher, zylinderförmiger Tanks zu sehen waren. An einigen Stellen schienen sie durchgerostet, schartige Löcher klafften in den Wänden. „Was ist das für ein Ort?“, raunte Jorin, wurde aber sofort zum Schweigen gebracht, indem Annabel ihre Hand auf seinen Arm legte. Und dann sahen sie das, was die Kamera ausgelöst hatte. Etwas Riesiges bewegte sich im Schutz der Felsen von links ins Bild. Pupillen glühten, als sich der mächtige Schädel eines Braunbären um die Ecke schob. Er schnüffelte, reckte den muskelbepackten Hals, hob den Kopf in die Höhe und sog die Luft ein. Frostige Atemwolken bildeten sich um seine Schnauze, die Nüstern zuckten, als hätten sie eine Witterung aufgenommen. „Ein Bär? Schlafen die nicht im Winter?“, wagte sich Jorin mit einer zweiten Frage vor. „Alles ist im Wandel, Jo, das Klima, das Verhalten der Tiere, einfach alles“, flüsterte Smuts. „Aber, wenn du das schon eigenartig findest ...“ Nur einen Herzschlag später wurden in der Videoaufnahme knirschende Schritte vernehmlich. Am rechten Bildrand erschien eine menschliche Gestalt auf der Hügelkuppe, die sich, in einen dicken Anorak gehüllt, den Pfad hinab auf den von Felsen verborgenen Bären zubewegte. Eine Kapuze verdeckte ihr Gesicht. Sie trug eine schuhkartongroße Kiste vor der Brust und stapfte arglos weiter, nicht ahnend, dass sie nur wenige Meter von einem riesenhaften Raubtier trennten. Die Gestalt schien tief in Gedanken versunken, doch plötzlich hielt sie inne und drehte den Kopf nach rechts. Da explodierte die Polarnacht. Der Bär brüllte, jagte aus seinem Versteck und riss das Maul auf. Reißzähne blitzten. Doch der Mensch tippte sich nur mit den Fingern an die Schläfe und machte einen Schritt zurück. Grollend richtete sich der Bär zu seiner vollen Größe auf, sodass Jorin vor Schreck die Luft anhielt. „Jetzt“, hauchte Njeri neben ihm und presste ihre Hände vor den Mund. Noch bevor das Tier seine Pranken auf den Menschen niedersausen lassen konnte, jagte ein flirrender Schemen ins Bild und schien sich mit knochenbrechender Wucht auf den Bären zu werfen. Dessen Körper bog sich wie von einem Kinnhaken getroffen. Sein Schädel flog zurück, Schnittwunden zeigten sich im Fell. Ein metallisches Knacken ertönte, als sei eine Messerklinge gebrochen. Der Bär taumelte unter unsichtbaren Hieben. Plötzlich erhob sich das riesige Tier wie von Geisterhand in die Luft, schwebte kurz über dem Boden und dann schleuderte ihn etwas wie ein Spielzeug in hohem Bogen Richtung Kamera davon. Das Bild wackelte, als das Tier aufschlug. Röchelndes Schnaufen war zu hören. „Himmel“, flüsterte Jorin, „was war das?“ Die gesamte Attacke hatte sich binnen weniger Sekunden abgespielt. Neben dem Menschen kauerte nun etwas, ein Wesen, dessen Umrisse wie die Luftspiegelung einer Fata Morgana flirrten. Nahezu unsichtbar! Der schlanke Körper verschmolz mit der Umgebung. Nur wenn es sich ruckartig bewegte, bildeten die Konturen Schlieren. Jorin konnte nicht einmal sagen, ob es zwei oder mehr Arme besaß. Bloß der Schädel wirkte unnatürlich langgezogen und ganz kurz glaubte er, eine Batterie aus Augen zu erkennen, wie bei einer Jagdspinne über- und nebeneinander angeordnet. „Krass ...“ Jorin schauderte. Der Mensch tippte sich noch einmal mit den Fingern gegen die Schläfe, woraufhin das geisterhafte Wesen zwischen den Felsen verschwand und dabei eine feine Tröpfchenspur im Schnee zurückließ. Bärenblut? Mit einer Wendung des Kopfes streifte der Mensch seine Kapuze zurück, klemmte sich die metallene Kiste unter den Arm und setzte seinen Weg zu den Gebäuden fort, als sei nichts gewesen. Noch immer hatte er kein einziges Wort gesagt. Ein letztes Mal drehte er sich in Richtung des Bären und kehrte dabei sein Gesicht zur Kamera. Hier stoppte Annabel das Video und fror die Gestalt ein. Fenjas Stöhnen war im Raum zu hören, Jorins Herz machte einen Satz. Beide hatten den Jungen sofort erkannt, die leicht abstehenden Ohren und die Wuschelmähne. „Adam!“ Jorin stützte sich an der Wand ab. In der Tat, es war Borax Doschs mächtigste Waffe, Adam, der seelenlos kalte Anführer der iKIDS. Fenjas ... Bruder. 6. Kapitel Jorin zitterte, sofort schossen ihm die Bilder der letzten Nacht auf der Eidechseninsel durch den Kopf: der Countdown vor der Sprengung und die spektakuläre Flucht mit Fenja und Konrad im Einbaum durch das dunkel gluckernde Wasser der Meeresbucht und – Adam. Adam, wie er mit Borax Dosch und den beiden anderen iKIDS, Chloé und Dorian, im Helikopter davonflog, während sich die Insel unter ihnen in ein tosendes Flammenmeer verwandelte. „Adam“, wiederholte Jorin aufgebracht. Seine gletscherwasserblauen Augen blitzten. „Kann mir mal jemand sagen, was das für ein merkwürdiges Wesen war?“ Eiseskälte kroch seinen Nacken hinauf bei der Erinnerung an die ruckenden Bewegungen des Schemens und an die unbezwingbare Kraft, die einen riesigen Bären durch die Luft geschleudert hatte. „Ich meine, ein Geist war das offensichtlich nicht, also muss es irgendetwas anderes gewesen sein, oder?“ Fragend blickte er sich zu den Erwachsenen um. „Wir nehmen an“, Samuel vermied es dabei Fenja anzusehen, „dass es sich hier um eine mörderische Weiterentwicklung der iKIDS handelt ...“ Der Agent spreizte die Finger, als versuche er etwas äußerst Flüchtiges zu erhaschen. „Was es auch ist, Kinder, es ist definitiv Teil von Borax Doschs Plan. Und wo Adam zusammen mit diesem ... Geist auftaucht, kann Dosch nicht weit sein.“ „Wo genau ist das Video denn aufgenommen worden?“, wollte Fenja wissen, die nach der virtuellen Begegnung mit Adam zutiefst aufgewühlt wirkte. „Eine gute Frage.“ Annabel tippte auf ihrem Tablet und auf der Leinwand erschien ein Kartenausschnitt. „Die verlassene Walfangstation liegt in der Ambra-Bucht an der Barentssee, im Grenzgebiet zwischen Norwegen und Russland. Seit Tagen versuchen wir Jacob, Njeris Vormund, zu erreichen, um Genaueres über die Hintergründe zu erfahren. Aber seine Universität in Finnland sagt nur, dass er im Feld unterwegs ist, also Daten in der Natur sammelt. Deswegen habe ich noch mal mit Camaphos Kontakt aufgenommen, um herauszufinden, was Adam dort zu suchen hatte, und vor allem, ob sich Dosch in der Nähe aufhält. Zum Glück hat er sich breit erklärt mit uns zu sprechen.“ Sie beugte sich erneut über das Tablet. „Das Gefängnis war zu einer Sondergenehmigung bereit, wir erwarten seinen Anruf jeden Augenblick.“ „Camaphos ...“ Jorin kniff die Augen zusammen. Erst Adam und das unsichtbare Monstrum und nun auch noch der Glatzkopf! Was für ein Albtraum! Seit seiner Flucht von der Eidechseninsel hatte Jorin es vermieden, an den Cheftechniker des Mimesis-Projektes zu denken. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen an ihr Zusammentreffen im Labor auf der Insel. Bei der Gelegenheit hatte Camaphos Jorin eröffnet, dass dessen Eltern nicht bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen waren, sondern dass Dosch sie hatte beseitigen lassen, weil sie sich gegen seine Pläne gestellt hatten. Camaphos hatte dann im letzten Moment die Seiten gewechselt und sich der Polizei gestellt. Während Jorin auf seiner Unterlippe herumkaute, öffnete Annabel ein Programm, mit dessen Hilfe eine abhörsichere Konferenzschaltung aufgebaut werden konnte. Ihr Gesicht erschien im rechten Teil des Bildschirms, während der linke schwarz blieb. Aufgeregt rückten Samuel, Njeri und Fenja näher heran, bis auch ihre Gesichter im Bildausschnitt zu sehen waren. Plötzlich ertönte eine Anrufmelodie, Annabel nahm das Gespräch an, woraufhin sich vor ihren Augen eine Gestalt aufbaute: Camaphos. Sein teigiges, blasses Gesicht füllte das Bild fast vollständig aus; er wirkte kränklich, dunkle Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet. Camaphos’ Blick zuckte rastlos über den Bildschirm vor sich, als suchte er etwas. Schließlich meldete er sich mit weicher Stimme zu Wort. „Frau Biron, ich hatte Ihnen doch zu verstehen gegeben, dass ich nur mit dem jungen Flugbrand sprechen werde, mit niemandem sonst. Wenn Jorin nicht da ist, lege ich unverzüglich auf.“ Nervös fuhr er sich über die Glatze und machte Anstalten, eine Taste am Rechner zu drücken. „Warten Sie, Jorin ist hier!“ Annabel griff nach dem Jungen und zog ihn vor den Bildschirm. Einen Moment lang starrten sich die beiden an. Camaphos’ Augen weiteten sich im Wiedererkennen, dann wich er Jorins wütendem Blick aus und atmete stockend ein. „Okay.“ Er nickte langsam. „Okay, das ist gut. Flugbrand, hör zu, ich habe mich nur bereit erklärt, dieses Gespräch zu führen, um dich zu warnen. Such nicht nach Dosch! Folge unter keinen Umständen den Spuren, die die A.KI.A. in diesem Video gefunden zu haben glaubt, sonst teilst du das Schicksal der Wanderer. Die A.KI.A. bringt dich in Lebensgefahr, die haben nicht den Hauch einer Chance gegen Dosch. Ihr habt keine Vorstellung davon, was für ein Mensch er wirklich ist. Er ...“ Camaphos brach ab, rieb sich mit beiden Händen durchs Gesicht und stöhnte. „Ich bin dir was schuldig, Flugbrand, dir und deiner Familie. Ich habe geschwiegen, habe weggeschaut und Befehlen gehorcht, ohne sie zu hinterfragen.“ Jorin starrte wie gebannt auf den Bildschirm. „Wenn Dosch erfährt, was ich dir erzähle ...“ Wieder unterbrach sich der schwere Mann, um ängstlich über seine Schulter zu blicken. „Sein Plan ist bösartiger, als du es dir je ausmalen könntest. Selbst die A.KI.A. hat keinen blassen Schimmer, auf was für einen Kampf sie sich eingelassen hat! Projekt Mimesis war nur der Anfang. Es geht um viel mehr als um Täuschungsmaschinen. Im Zentrum steht ein Computer-Virus: Projekt Oblivion.“ Totenstille herrschte in der Untergrundzentrale. „Verstehst du, Flugbrand? Oblivion, das Vergessen“, fuhr Camaphos eindringlich fort. „Borax Dosch droht mit dem totalen Vergessen, mit der Löschung von Europas digitalem Gedächtnis!“ Entsetzen breitete sich in der Kammer aus. Samuel Smuts räusperte sich im Hintergrund und schob sein Gesicht etwas näher an den Bildschirm heran. „Nun, ich sehe, worauf Sie hinauswollen, Camaphos. Aber Sie vergessen einen wichtigen Punkt. Dank Jorins Hilfe ist es uns gelungen, Mimesis zu stoppen, den Hauptrechner im Labor zu zerstören. Es existieren lediglich vier iKIDS und eines davon steht auf unserer Seite. Ganz ehrlich? Ich glaube nicht, dass es Dosch gelingen wird, eine nächste Generation von künstlichen Menschen aus dem Boden zu stampfen, ohne Backup und ohne die Hilfe von seinem Cheftechniker! Oder irre ich mich da?“ Camaphos kniff die Augen zusammen und legte beide Hände flach auf den Tisch. „Richtig, Smuts, das war ein herber Rückschlag für Dosch. Jorins Einsatz hat ihn Zeit gekostet, eine Planänderung nötig gemacht. Aber Dosch ist nicht dumm, zeitgleich zum Labor auf der Eidechseninsel hat er im Norden eine Fabrik aufgebaut. Dort laufen aber keine iKIDS oder iMEN und iWOMEN vom Band, die so menschenähnlich sind, dass niemand den Unterschied erkennt. Viel zu kompliziert, viel zu zeitaufwändig! Das hat das Schulexperiment auf der Insel gezeigt. Deshalb hat sich Dosch nun von der Tarnung auf Angriff verlegt. Er wird den Oblivion-Virus nicht still und heimlich in die Metropolen tragen, sondern mit einer Invasion! Zu diesem Zweck produziert seine Fabrik seit Monaten auf Hochtouren. Flugbrand, halte dich von Smuts und dem zerlumpten Haufen von A.KI.A.-Agenten fern. Ihr habt keine Chance gegen Dosch, er hat alles bedacht, ist euch Meilen voraus! Nimm meine Warnung ernst! Dosch wird den Oblivion-Virus nach Europa bringen und zwar mit einer ganzen Armee. Dann muss er nur noch den Aktivierungscode senden und das digitale Gedächtnis Europas wird ausgelöscht, sämtliche Daten zerstört!“ Jetzt lachte Annabel hysterisch auf und schüttelte den Kopf. „Armee? Das ist doch lächerlich! Was denn bitte für eine Armee?“ Camaphos starrte düster vor sich hin. „Eine Armee aus Geistern und Dämonen.“ Danach brach die Verbindung ab und der Bildschirm wurde schwarz. 7. Kapitel Jorins Brustkorb zog sich zusammen, als hätte man ihn in einen Schraubstock gezwängt. Er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Mit einem Mal hatte sich ein Schatten auf seine Welt gelegt, unter dem sich Kälte und Furcht verbreiteten und mit geisterhaften Fingern nach seinem Herzen griffen. „Geister und Dämonen.“ Immer noch glotzte er auf den Bildschirm, aus dem ihm lediglich die entsetzten Gesichter seiner Freunde entgegenblickten. Er fragte sich, warum Camaphos sich dazu durchgerungen hatte, ihn zu warnen. Aus schlechtem Gewissen? Oder steckte mehr dahinter? Als Erster regte sich der blonde Agent, richtete sich mit knackenden Gelenken auf und knetete seinen Nacken. „Ich fürchte, in einem Punkt hat Camaphos recht“, seufzte Smuts. „Annabel, es ist unverantwortlich, wenn wir Jo und Njeri in Gefahr bringen. Auf der Insel hatten wir Glück, das weißt du. Dosch hat mehr als einmal bewiesen, wie skrupellos er ist. Wir ... können diese Verantwortung nicht übernehmen“, sagte er laut, doch die Stimme der A.KI.A. im Lautsprecher blieb stumm. „Stimmt“, hörte Jorin sich zu seiner Verwunderung selbst sprechen, „das könnt ihr nicht.“ Die Mädchen, Annabel und Sam drehten sich verblüfft zu ihm um. „Das können wir nur selbst“, sagte Jorin entschieden. „Wenn es wahr ist, was Camaphos behauptet, und Dosch mit einer dämonischen Armee einen Virus in ganz Europa verbreiten will, dann sind diesmal nicht nur Kinder in Gefahr! Smuts, ich habe euch auf der Eidechseninsel geholfen und jetzt werde ich bestimmt nicht kneifen! Ich komme mit und suche diese verdammte Fabrik!“ Jorins Blick war so hart, dass ihm niemand länger als einen Wimpernschlag standzuhalten vermochte. Zu helfen, das war er dem Andenken seiner Eltern schuldig. Sie hatten sich gegen Dosch gestellt, er würde dasselbe tun, koste es, was es wolle! Nun richtete sich auch Njeri auf, strich ihr T-Shirt mit dem schielenden Einhorn glatt und nickte. „Was auch immer ihr vorhabt – yeah! – ich bin dabei.“ Da reckte Fenja ihre Fäuste in die Höhe und rief: „Na endlich! Ich warte schon Ewigkeiten darauf, Adam in die Mangel zu nehmen!“ Annabel und Samuel starrten sich lange an. Man sah deutlich, wie sich jeder einzelne Gedanke, jedes Für und Wider, in ihren Mienen Bahn brach. Die Kinder hielten den Atem an. Eine nervöse Spannung hatte sich in der Untergrundzentrale breitgemacht. Annabel tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe, schaute zum Deckenlautsprecher empor und fragte: „Was sagen Sie?“ Sekundenlang war nur Knistern zu hören. Dann meldete sich die Stimme wieder und Jorin hatte das Gefühl, eine bleischwere Mattigkeit habe sich ihrer bemächtigt. „Mut und Naivität“, begann sie stockend, „das ist nicht gerade die vielversprechendste Mischung, um zu einer Mission aufzubrechen, aber wir müssen alle Kräfte mobilisieren. Folgt Doschs Spur zum Polarkreis, zu seiner Fabrik. Konzentriert euch auf den Oblivion-Virus, findet diesen Aktivierungscode, wir halten euch in der Zentrale den Rücken frei. Und, Smuts – hab ein Auge auf die Kinder!“ Samuel nickte. „Geht klar.“ Nach diesen Worten verstummte der Lautsprecher und die Freunde blieben allein zurück. „Also gut“, Smuts rieb sich die Hände, „wenn wir Domingo sofort anrufen, hat er die Maschine in zwei Stunden startklar. Bleibt uns gerade noch genug Zeit, um die Ausrüstung zu checken.“ Annabel nickte, zog sich mit ihrem Kommunikator in eine Zimmerecke zurück und führte ein leises Gespräch, während Samuel die Türen mehrerer Schränke aufriss, die ein beachtliches Waffen- und Munitionslager bargen. „Okay Kinder, euren Mut in Ehren, aber jetzt müssen wir gucken, dass wir euch mit heiler Haut in die Sache rein- und vor allem wieder rausbekommen. Zum Glück haben wir von der A.KI.A. ein paar Spezialanfertigungen für euch parat. Am besten ziehen wir uns direkt um.“ Ohne Vorwarnung warf der Agent Jorin einen Rucksack zu und schob ihm einen Karton vor die Füße. Neugierig lupfte Jorin den Deckel. Seine Augen weiteten sich. Vorsichtig kniete er sich hin, fuhr mit den Händen in den Karton, schob das knisternde Seidenpapier beiseite und zog die coolsten Klamotten hervor, die er je gesehen hatte: Expeditionsstiefel und Teile einer ultraleichten Körperrüstung mit Arm- und Beinschienen sowie einer Brustplatte. Tarnfarben! Mit aufgenähten Fächern und Taschen. Hinzu kamen eine leichte, aber extrem warme Jacke, Hosen und ein Kapuzenshirt, ebenfalls tarnfarben. Der Stoff floss förmlich zwischen seinen Fingern hindurch, wirkte dabei aber so dicht gewebt, dass es Jorin nicht verwundert hätte, wenn er einen Schwerthieb aufhalten könnte. „Domingo weiß Bescheid, er kümmert sich um die Papiere und erwartet uns“, bestätigte Annabel mit hochgestrecktem Daumen. An Fenjas und Njeris Seite wühlte sie durch weitere Kartons, um sich schließlich völlig ungeniert vor Jorins Augen umzuziehen. Verschämt drehte der sich weg und schlüpfte aus der alten Hose, die sich um seine Fußgelenke krumpelte. „Mist!“ Dann verstaute er das Foto seiner Eltern zusammen mit dem Taschenmesser in einem mit Reißverschluss versehenen Spezialfach seiner neuen Hose. Die selbstgeschnitzte Schleuder stopfte er sich in den Bund. Nach Minuten voll Geächze und Gezerre war Jorin Flugbrand nicht mehr wiederzuerkennen. Die Klamotten schmiegten sich wie eine zweite Haut an seinen Körper und verliehen ihm in Kombination mit der unauffälligen Körperpanzerung in Flecktarnmuster ein geradezu kämpferisches Aussehen. Zugegeben, das Aussehen eines etwas pummeligen Kämpfers mit wilder Frisur, aber daran störte sich niemand. „Leute, wie cool ist das denn!“ Njeri betrachtete sich hingerissen im Spiegel, wobei ihr Blick auf Smuts fiel, der sich gerade ein Pistolenholster umschnallte und Kästchen mit Spezialmunition und Sprengfallen in seinem Rucksack verstaute. Anschließend nahm der Agent eine Jagdschleuder mit Unterarmstabilisator aus dem Waffenschrank, um sie Jorin in die Hand zu drücken. „Die ist schlagkräftiger als deine alte Zwille, Jo, aber mit der Munition musst du höllisch aufpassen. Die Pellets haben es in sich.“ Er reichte dem Jungen aufgewickelte Patronengurte, auf denen in zwei parallel nebeneinanderliegenden, durchsichtigen Schläuchen matt schimmernde Metallkugeln aufgereiht waren. Probehalber schlang sich Jorin einen Gurt über die Schulter und drückte an einem Spender an der Hüfte die erste Kugel heraus. Schwer wie eine Murmel lag sie auf seiner Hand, dabei huschte ein sonderbares Irisieren wie von eingelagerten Lichtpunkten über ihre Oberfläche. „Hey Jo, du siehst aus wie ein extrem gefährlicher Kaugummiautomat“, kicherte Njeri. Fenja trat an seine Seite, um die Kugel in Jorins Handfläche zu betrachten. Behutsam hob sie das Projektil auf und hielt es sich vor die Augen. „Sag mal, Smuts, was können die Dinger denn?“, fragte das iKID und presste Daumen und Zeigefinger langsam zusammen. „Nicht!“, schrien Samuel und Annabel gleichzeitig, doch es war schon zu spät – die Kugel flachte ab, Micro-Spikes4 schossen aus ihrer Oberfläche und bohrten sich durch die Kunsthaut von Fenjas Fingerkuppen. Dann explodierte die Murmel, ein blauer Kugelblitz brach hervor und das iKID sackte kraftlos in sich zusammen. Spikes (engl., sprich: spaiks) = spitze Dornen, Stacheln 8. Kapitel „Fenja, hörst du mich? Fenja!“ Jorin rüttelte das Mädchen leicht an den Schultern, schloss dann aber kurz seine Augen, da auf der Netzhaut immer noch das Nachbild des blauen Kugelblitzes flackerte. Fenjas linkes Augenlid sprang auf und ruckelte wieder herunter, wie ein verhakter Rollladen. Anschließend zuckte das rechte Augenlid empor und schloss sich erneut. „Sag doch was!“, fluchte Jorin. Besorgt beugten sich auch die anderen über das iKID-Mädchen, dessen Finger immer noch die Reste der bizzelnden Schleuderkugel umklammerten. Smuts schob Jorin beiseite und versuchte Fenjas Finger auseinanderzubiegen. „Die Pellets sind elektroaktive Störmunition. Sie wirken bei Mensch und Maschine, verursachen eine anhaltende Betäubung oder einen Kurzschluss und legen sämtliche Leitungsbahnen lahm. Ich hoffe allerdings stark, dass wir sie gar nicht erst einsetzen müssen.“ Er kniete sich auf Fenjas Unterarm und zwang ihren Zeigefinger so weit zurück, dass Annabel das Projektil aus den leicht berußten Fingerballen puhlen konnte. Sofort schlug Fenja die Augen auf und sagte: „Blimnup puddel-dööö ...“ „Shit, ist sie jetzt kaputt?“ Erschrocken starrte Njeri auf das iKID. Da setzte sich Fenja so abrupt auf, dass Smuts eine Kopfnuss bekam und stöhnend zu Boden ging. Orientierungslos blickte sie sich um, fixierte Jorin, der immer noch ihre Hand hielt, und lächelte. Aber nur mit der linken Gesichtshälfte. „Die Dinger sind ja der Hammer!“, stieß Fenja mit doppelter Sprechgeschwindigkeit hervor und versuchte ihren rechten Arm anzuheben. „Mensch, Leute, die hauen einen echt um, von den Socken, aus den Latschen, knipsen dir die Lampen aus. Uiuiui, Blauauge, du solltest dich besser nicht auf so ein Ding setzen.“ Sie grinste, doch das Lächeln erstarrte auf ihrem Gesicht. „Ist es eigentlich normal, dass ich meinen Arm nicht bewegen kann? Er ist ganz taub, fühlt sich an wie zerkochte Makkaroni. Oder Wackelpudding. Oder Quallenmatsch. Guck mal, Jo!“ Fenja drehte ihren Oberkörper und schleifte die leblose rechte Hand über den Boden. „Uiuiui, ob das mal gesund ist. Was meinst du, Blauauge?“ „Weiß nicht“, murmelte Jorin und sah aus dem Augenwinkel, wie sich Smuts aufrappelte und dabei eine Hand an die Stirn presste. „Vielleicht solltest du erst mal ruhig sitzen bleiben, Fenja.“ „Sitzen?“, fragte sie mit verzerrtem Lächeln. „Hocken, kauern, lungern, thronen ...“ Plötzlich zogen sich ihre Pupillen bis auf Stecknadelkopfgröße zusammen. Ein Zittern lief über ihr sommersprossiges Gesicht und hörte so abrupt auf, wie es eingesetzt hatte. Anschließend öffneten sich ihre Pupillen wieder bis auf normale Größe und das Mädchen schüttelte den Kopf. „Oh“, stöhnte sie benommen, „das war heftig.“ Erleichtert stieß Jorin die angehaltene Luft aus und lachte. „Geht’s wieder?“, fragte Njeri, während sie abschätzig die Brauen hochzog. „Ich dachte schon, bei dir ist ’ne Sicherung durchgebrannt.“ „Sicherung?“ Das iKID löste vorsichtig ihre Hand aus Jorins und kniff die Lippen zusammen. „Ich bin doch kein Toaster, Njeri!“ „Lasst es uns mal positiv sehen“, ging Annabel beschwichtigend dazwischen, „zumindest wissen wir jetzt, dass die Munition funktioniert. Wollen wir hoffen, dass sie auch Geister außer Gefecht setzt. Meinst du, du kannst gehen, Fenja?“ Das iKID machte ein entrüstetes Gesicht, rollte sich auf den Rücken, drückte ihre Schultern durch und schnellte in einer einzigen fließenden Bewegung in den Stand hoch. „Ich hab mir die Bewegungsabläufe von Kampfsportarten aus Computerspielen runtergeladen“, erklärte sie, als sie Jorins staunenden Blick bemerkte. „Scheint zu funktionieren.“ Alles, was sie für einen mehrtägigen Einsatz in unwegsamem Gelände brauchten, verteilten die Freunde auf ihre Rucksäcke: Proviant, Wasserbeutel, Thermounterwäsche, Überlebenspakete mit Erste-Hilfe-Utensilien, Klappspaten und Axt, Biwaksäcke, zwei Satellitenhandys, Kartenmaterial, Notfallmedikamente und für Fenja eine Photovoltaikplane, die sie über den Rucksack spannen konnte, um ihre Batterien aufzuladen. Bei der Bewaffnung entschieden sich Annabel und Smuts für Pistolen mit aufsteckbaren Magazinen, in denen zahllose Kügelchen elektroaktiver Betäubungsmunition steckten; außerdem verstauten sie Wurfscheiben mit Magnetfunktion, die sich wie Mini-Frisbees schleudern ließen und eine ähnlich verheerende Wirkung entfalten konnten wie Jorins Pellets. Um sie zu aktivieren, musste man in der Mitte der Scheibe einen Schalter eindrücken und zur Seite schieben. Auch Njeri deckte sich damit ein und jauchzte kurz auf, als sie ein Paar schwarze metallverstärkte Handschuhe entdeckte, die ihr wie angegossen passten. „Liebes, mach keinen Unsinn mit den Dingern, die sind für den elektrischen Nahkampf konstruiert worden“, ermahnte Annabel das Mädchen. „Pro Handschuh hast du zehn Kugelblitz-Entladungen, danach ist Schluss mit Gewittern.“ „Wow“, sagte Njeri andächtig und musterte ihre ausgestreckten Hände. „Ich pass schon auf, versprochen. Wie funktionieren sie?“ „Auf der Innenseite sind Kontaktsensoren angebracht, die erkennen, dass du die Handschuhe gerade trägst“, erklärte Annabel. „Um sie zu aktivieren, musst du die Handrücken wie beim Morsen aneinanderschlagen. Einmal lang, zweimal rasch hintereinander und wieder einmal lang. Bei Kontakt mit einem Fremdkörper geht dann der Blitz los.“ Jorin war mit seiner neuen Schleuder hochzufrieden, während Fenja mit einem teleskopierbaren Kampfstab liebäugelte. Zusammengeschoben hatte er die Länge einer Taschenlampe und ruhte in einem Holster an ihrer Hüfte, ausgefahren wirbelte er zwei Meter lang um ihren Kopf und schoss Kugelblitze aus beiden Enden. Mini-Frisbees, Munition und Pelletschläuche landeten schließlich dick eingewickelt und vor Stößen geschützt in eigens dafür vorgesehenen Polstermappen mit zahllosen Einzelfächern, damit sie nicht versehentlich losgingen. Sprachlos sah Jorin sich um. Unverhofft hatte dieser Freitagnachmittag eine Wendung genommen, die ihn aus den Gezeitentümpeln der Langeweile hinausschleuderte ins tosende Abenteuer, hinauf in den eisigen Norden. Und das Wichtigste an der Sache war, dass sie die Fährte von Borax Dosch aufgenommen hatten, dem Mörder seiner Eltern. „Zieh dich warm an, Dosch, wir kommen!“, raunte er und rückte seine Ausrüstung am Gürtel zurecht. Kaum, dass die fünf schwer bepackt mit den Rucksäcken die Metallsprossen des Geheimschachts hochgeklettert waren und das Schrebergartenhäuschen in seinen Normalzustand zurückverwandelt hatten, holte Jorin seine privaten Schätze aus der Kammer, den blauen Plastikstreifen mit seinem Namen darauf und das Dietrichset, welches ihm bereits auf der Eidechseninsel gute Dienste geleistet hatte. Beides verstaute er in seiner Hosentasche und trat als Erster in den Nachmittag hinaus. Bienen schwirrten über Samuels Tomatenstauden, Grillduft waberte durch die Hecken, Lachen und Radiomusik waren zu hören. In der Schrebergartensiedlung Zum kleinen Glück stimmte man sich aufs Wochenende ein. Niemand ahnte von den Gefahren. Weder von Projekt Oblivion noch von den Heerscharen an Geistern und Dämonen, die sich in den weißen Nächten am Polarkreis zu regen begannen. Njeri schob sich mit ihrem Rucksack an Jorin vorbei und zwinkerte ihm zu; Fenja glühte förmlich vor Tatendrang, als sie auf den Kiesweg stürmte. Annabel folgte ihr etwas langsamer und war dabei bemüht, ihre Bewaffnung vor neugierigen Blicken zu verbergen. Als Letzter verließ Smuts das Haus, nachdem er in seinen wadenlangen schwarzen Ledermantel geschlüpft war, dessen Ärmel er mit einem wohligen Seufzen ausgeschüttelt hatte. Es knarzte leise, als er sich zu seinen Mitstreitern umdrehte und seine Sonnenbrille zückte. „Und? Bereit für die Geisterjagd?“ 9. Kapitel Schon nach wenigen Metern drückten Jorin die Schultergurte des Rucksacks und er verlagerte unauffällig das Gewicht. Er wollte sich vor Fenja keine Blöße geben, die leichtfüßig vorausging. Annabel kramte ihre Autoschlüssel hervor und Smuts setzte sich die schwarz getönte Sonnenbrille auf. Bei jeder Bewegung knarzte das Leder seines Mantels, wodurch ihr Abgang noch beeindruckender wirkte. Jorin konnte nicht anders, sein Blick haftete hingerissen an Fenjas Gestalt, wie Eisenspäne an einem Magneten. Das merkte er jedoch erst, als ihn Njeri freundschaftlich anrempelte. „Tu’s nicht, Jo!“, raunte sie mit erstaunlichem Nachdruck in der Stimme. „Was? Was soll ich nicht tun?“ Njeri deutete mit einem Nicken auf das blonde iKID, doch Jorin schüttelte verständnislos den Kopf. „Fenja“, presste Njeri hervor. „Verknall dich bloß nicht in den Toaster, das kann einfach nicht gut gehen!“ Damit ließ sie ihn stehen und legte einen kurzen Sprint ein, um zu Fenja aufzuschließen. Jorin klappte der Mund auf und er bekam nur am Rand mit, dass sie ein beständiger Strom aus Murmeln und Flüstern hinter den Hecken begleitete. An mehr als einem Grill flutschten Würstchen aus den Zangen, um dampfend im Gras zu landen. „Wie sehen die denn aus?“, raunte eine Frau hinter vorgehaltener Hand. „Helmut, schau doch mal ...“ Jorin hielt kurz inne, um das misstrauisch dreinblickende Ehepaar anzulächeln. Er ließ seine gletscherwasserblauen Augen blitzen und schlug seine Jacke zurück, damit die Schleuder zu sehen war. Als er seinen Weg fortsetzte, hörte er zufrieden, wie die beiden nach Luft schnappten. „Was für ein Aufzug! Helmut, hundertprozentig ist das so nicht erlaubt!“, fauchte die Frau in Jorins Rücken. „Jetzt sag doch auch mal was!“ Doch bevor Helmut zu Wort kommen konnte, hatten die Freunde schon den Parkplatz erreicht, wo Jorins überhebliches Agentengrinsen wie Brandungsschaum in sich zusammenfiel. Annabel Biron steuerte nämlich auf einen sonnenblumengelben Fiat Panda zu, der im Schatten eines Sommerflieders parkte. Agent Smuts schob seine Brille ein Stück den Nasenrücken hinab, um besser sehen zu können. „Exzellentes Undercover-Gefährt“, knurrte er. „Ich muss schon sagen, Annabel, was die Farbauswahl angeht, macht dir niemand was vor.“ „Jetzt nöl nicht rum, Sam, mein eigenes Auto ist in der Werkstatt, ich musste das von meiner Oma leihen.“ Mehr schlecht als recht bugsierten sie die Rucksäcke in den winzigen Kofferraum. Die Kinder mussten sich auf den Rücksitz quetschen, was Fenja als Einziger nichts auszumachen schien. Jorin presste seine Knie zusammen, da er sich in der Mitte zwischen den beiden Mädchen ein klein wenig überfordert fühlte; erst recht als sich Fenjas Finger kühl um sein Handgelenk schlossen. Es war, als würde in diesem Moment ein Prickeln seinen Arm hinaufschießen, bis zum Nacken empor, um dort sämtliche Härchen strammstehen zu lassen. Noch mulmiger wurde ihm zumute, als sich das iKID zu ihm hinüberbeugte und der Vanilleduft ihrer Haare seine Nase kitzelte. „Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich jetzt wasserdicht bin?“, fragte sie. „Hä?“ Jorin blinzelte nervös, rote Flecken zeigten sich auf seinen Wangen. „Zehn Meter!“ Fenja klopfte sich gegen die Stirn. „Die A.KI.A. hat in den letzten Monaten ein paar Schwachstellen an meiner Hardware behoben. Mein Akku hält jetzt länger und einen Kommunikator haben sie mir auch eingesetzt, direkt unter die Haut hinterm Ohr, cool, oder?“ „Sehr cool“, ätzte Njeri. Sie zupfte sich gähnend einen Fussel von der Hose, wobei sich ihr Ellbogen in Jorins Seite bohrte. „Fehlen nur noch Korkenzieher, Lupe und Nagelfeile.“ Während sich die Mädchen über Jorin hinweg anblitzten, wartete Annabel auf dem Fahrersitz darauf, bis sich Smuts zusammengefaltet hatte. „Von innen ist das Ding ja noch kleiner“, grunzte der und legte umständlich den Gurt an. Dann endlich fuhren sie los. Die Schrebergartensiedlung verlor sich im Rückspiegel und das Auto tauchte ins Schattenfeld der Hochhaustürme ein. Bevor sie jedoch die verspiegelten Betonschluchten erreichten, wurden sie an einer Polizeiabsperrung gestoppt. Auf der Fahrbahn vor ihnen war ein Lastwagen ins Schlingern geraten, Teile seiner Ladung lagen verstreut auf dem Asphalt. „Herrje, das hat uns noch gefehlt.“ Murrend folgte Annabel den Umleitungshinweisen auf eine Seitenstraße, die längs des Flussufers über den Industriehafen führte. „Dafür haben wir jetzt echt keine Zeit“, schimpfte sie, während rechter Hand die Hochhäuser zurückblieben und gleichförmige Industriequartiere an den Fenstern vorbeizogen. Wenig später tauchten die Verladekräne des Hafens auf. Wie gewaltige breitbeinige Klammern fuhren sie Schienen auf und ab, um ihre Fracht zu bewegen. Hinter hohen, mit Stacheldraht gesicherten Metallzäunen wurden Container von Schiffen gehievt und zu bunten Wänden aufgeschichtet oder direkt auf Sattelschlepper verladen. Gerade schwebte ein nachtblauer Container am Seilzug durch die Luft, auf dessen Seite ein sonderbares Symbol Jorins Aufmerksamkeit erregte: ein goldfarbener Stierkopf, dessen linke Hälfte sich in groben Pixeln aufzulösen schien. Kaum, dass der Kran schwenkte, verschwand auch der Container aus Jorins Sicht. Er rieb sich die Augen und gähnte, trotz der ganzen Aufregung machte ihn die stickige Luft im Auto schläfrig. Die Fahrt ging weiter, vorbei an Lastwagenkolonnen, die auf ihre Papiere warteten, bis sie endlich die Zufahrtsstraße zum Flugplatz erreichten. „Hört mal“, Annabel fixierte die drei im Rückspiegel, „am Flugplatz überlasst ihr bitte mir das Reden. Und, Njeri, du weißt, worüber wir vorhin gesprochen haben! Kein Wort!“ Jorin sah zu dem Mädchen hinüber, das sich auf die Unterlippe biss. „Kein Wort – worüber?“, fragte er Njeri, doch die drehte nur einen imaginären Schlüssel zwischen ihren Lippen herum und warf ihn aus dem Fenster. Jorin schüttelte genervt den Kopf. Er musste an seinen Flug mit dem auf Hochglanz polierten Privatjet von Borax Dosch denken. Damals war er offenen Auges in die Falle getappt. Zu leicht hatte er sich von all dem Prunk und Glanz blenden lassen. Diesmal würde es anders laufen. „Wir sind gleich da, Leute.“ Annabel steuerte auf den Eingang des privaten Flugplatzes zu, an dessen Sicherheitskontrolle die Schranke herabgelassen war und sich zwei Zollbeamte am Wärterhäuschen die Zeit mit ihren Smartphones vertrieben. Langsam fuhr die Agentin vor und ließ die Seitenscheibe herunterfahren. Sofort trat ein Uniformierter an sie heran, warf einen irritierten Blick auf das sonnenblumengelbe Auto mit seinen fünf bemüht harmlos lächelnden Insassen und öffnete den Mund. Doch bevor er seine Frage stellen konnte, hatte ihm Annabel schon ein Dokument unter die Nase gehalten und ihren A.KI.A.-Ausweis aufgeklappt. Der Mann nahm das Papier, las die Unterschriften, scannte einen Code ein und reichte das Dokument mit einem zackigen Nicken zurück. „Guten Flug. Passen Sie auf sich auf.“ Annabel grüßte ernst und legte den Gang ein, als die Schranke vor ihnen geöffnet wurde. Die letzten Meter bis zum Hangar klopfte Jorin das Herz bis zum Hals. Zum einen, weil er in dem windschnittigen, von einem einzigen Propeller angetriebenen Flugzeug, eine Cessna Pathfinder aus seinem Quartett-Kartenspiel wiedererkannte, das zur Grundschulzeit sein ständiger Begleiter gewesen war. Zum anderen, weil neben der Frachtluke ein alter Bekannter stand. Griesgrämig wie eh und je blickte ihnen Domingo Ribeira entgegen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wurde aber auch Zeit“, fluchte der A.KI.A.-Agent mit den dunklen Augenbrauen, der Jorin damals mit dem Boot zur Eidechseninsel übergesetzt hatte. Unwirsch riss er den Kofferraum auf, noch bevor Annabel den Motor ausgeschaltet hatte. Конец ознакомительного фрагмента. Текст предоставлен ООО «ЛитРес». Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию
Irgendein Idiot hatte die Kalibrierung1 vergessen, sodass der Dämon beim Verladen aus seinem Schlaf erwacht war. Das durfte nicht sein. Das brachte den Plan in Gefahr. Den großen Plan. Er packte das metallene Kästchen in seinen Händen fester und stapfte den Hang hinab auf die alte Walfangstation zu, wobei jeder seiner Schritte im harschen Schnee knirschte. Schon ragten die rostroten Zylinder der Tanks zu seiner Rechten auf, in denen früher der gekochte Waltran gelagert worden war. Wind fegte ihm um die Nase und er zog die Kapuze wieder über den Kopf, obwohl er Kälte nicht kannte. Nicht spürte. Sein Schöpfer dagegen schon, der so bitter enttäuscht worden war von dieser Verräterin! Zorn brodelte in ihm auf, bei dem Gedanken an das hellblonde Haar, an die Sommersprossen auf den Wangen seiner ... Ja, was? „Schwester?!“, stieß er hervor. Sie hatte gewagt, sich gegen das Projekt zu stellen. Sie hatte sich gegen ihren Ursprung entschieden und war dem langhaarigen, dumpfen Trottel nachgelaufen, hinein ins Verderben. Warum? Wegen seiner Augen? Wegen dieser gletscherwasserblauen Bälle aus Glibber und Schleim? Aus Freundschaft, hatte sie gesagt. „Jorin Flugbrand!“ Er fletschte seine Zähne und eine Bitternis breitete sich in ihm aus. Ihn verlangte es nach Rache! Jorin, der Auserwählte, der Liebling der Anti-KI-Allianz, der Saboteur und Zerstörer von Projekt Mimesis, musste in seine Schranken gewiesen werden. Ihn galt es in den Staub zurück zu treten, aus dem er sich erhoben hatte. Nein, besser noch, er gehörte zurück auf die Bäume zu seinesgleichen. „Dieser ... dieser ...“ Lodernd vor Zorn und Eifersucht ballte der Junge seine Rechte zur Faust und suchte nach dem abscheulichsten Schimpfwort, das sich in seinem Wortschatz fand. Widerwillig spuckte er es in die frostklirrende Nacht am Polarkreis. „Dieser Mensch!“ Kalibrierung = letzte Einstellungen werden vorgenommen, etwas wird auf eine bestimmte Aufgabe vorbereitet на ЛитРес.
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