Ächzend zog er den Kommunikator aus seinem Ohr. Er fingerte ihn gerade noch in die Halterung zurück, da erreichten ihn die Neuankömmlinge und schoben ihre Gesichter in sein verschwommenes Blickfeld. Annabel schüttelte missbilligend den Kopf; Njeri hielt sich die Seiten vor Lachen, wobei ihr ein baugleicher Kommunikator in Muschelform aus dem T-Shirt rutschte, um gut sichtbar an einem Silberkettchen über ihrem Schlüsselbein zu baumeln. iKID Fenja lächelte. „Hey, Blauauge, ich dachte, ihr Menschen seid schon ein bisschen länger von den Bäumen runter.“ „Ha ha“, machte Jorin, brachte ansonsten aber nur Grunzlaute zustande. Mit Annabels Hilfe rappelte er sich auf und streifte trockene Blätter von seinen Klamotten. Im nächsten Moment fiel ihm Fenja um den Hals und drückte ihn so fest, dass es Jorin die Luft abschnürte. Ihr Haar duftete nach Vanille und unter der Haut ihrer Arme erahnte er die stahlbiegende Kraft einer Kampfmaschine. Er spürte, wie seine Handflächen schwitzig wurden und ihm die Röte ins Gesicht stieg. Den Zustand kannte Jorin sonst nur, wenn er einen Löffel Cayenne-Pfeffer in seine Tütensuppe mischte. Schnell blinzelte er seine Verlegenheit weg und schluckte. „Fenja ...“ Sie hatte sich so gar nicht verändert. „Jetzt ist aber gut, Fenja, wir wollen Jorin auch begrüßen!“ Annabel befreite den überrumpelten Jungen aus der Umklammerung. Njeri blieb verlegen danebenstehen und schob ihre Hände in die Gesäßtaschen der Jeans. Keine von ihnen hatte vergessen, was Jorin auf der explodierenden Insel für ihre Rettung getan hatte. Nicht nur Annabel verdankte ihm ihr Leben. „Wovon weiß ich noch nichts?“, wollte Jorin wissen, erntete von Njeri jedoch nur einen Stupser gegen den Oberarm, bevor diese einen raschen Blick mit Annabel wechselte. „Äh …, dass wir da sind, das ist doch Überraschung genug, oder? Es ist so schön, dich zu sehen“, wich die zierliche Agentin aus und drückte dem verblüfften Jorin einen Kuss auf die Stirn. Dazu musste sie sich allerdings auf die Zehen stellen. Seit ihrer letzten Begegnung war Jorin ein gutes Stück gewachsen. „Leider haben wir nicht viel Zeit zum Reden“, fuhr Annabel fort und sah sich suchend um. „Wir müssen dringend zu Smuts. Es gibt Neuigkeiten, Jorin, Camaphos hat sich bereit erklärt, mit uns zu sprechen – endlich! Wo steckt Sam denn? Hockt der Kerl etwa wieder im Gemüsebeet?“ Kopfschüttelnd ließ die Agentin mit den katzengrünen Augen Jorin unter der Ulme stehen, um den Weg in die Schrebergartensiedlung hinab zu stapfen. „Jo“, nuschelte Jorin und betastete seine Stirn, „einfach nur Jo, wann kapiert die das endlich?“ Fenja strahlte über das ganze Gesicht. „Mensch, wie geht’s dir? Hattest du auch so eine coole Zeit? Ich sag dir, Blauauge, die Tage haben sich nur so gejagt. Es war der Hammer. Coole Frisur übrigens.“ Verlegen fuhr Jorin sich durch seine strubbeligen Haare. Njeri verdrehte hinter Fenjas Rücken die Augen, sodass nur Jorin es sehen konnte. „Ach ... äh ...“ Rasch schob er die Schleuder in seinen Hosenbund, denn just in dem Moment tauchte ein Rentner hinter der Hecke auf und drehte seinen Gartenzwerg in den Händen. „Tja“, hüstelte Jorin, „hier war auch mächtig was los ...“ 3. Kapitel Hinter Annabel passierten Fenja, Jorin und Njeri das Tor im Staketenzaun zum Schrebergartenhäuschen. Smuts kehrte ihnen den Rücken zu und zuckte zusammen, als Annabel mit harter Stimme rief: „Keine Bewegung, Smuts! Wenn du auch nur mit der Wimper zuckst ...“ Samuel hob die Arme bis auf Schulterhöhe, stieß sich dann aber zu Jorins Verblüffung mit dem rechten Bein aus der Hocke ab, um hinter den Komposthaufen zu hechten. Dort tauchte sein Haarschopf erst wieder auf, als aus Annabels Kichern schnaubendes Lachen wurde. „Sehr witzig, wirklich.“ Smuts erhob sich aus der Deckung und applaudierte mit erdverklumpten Fingern. „Hab lange nicht mehr so gelacht, Annabel.“ Jorin grinste, diese kleine Lektion geschah Smuts ganz recht. „Spaß beiseite.“ Das herzförmige Gesicht der A.KI.A.-Agentin wurde sofort wieder ernst. „Es gibt Neuigkeiten, mein Lieber. Nachdem ich Camaphos von dem Video erzählt habe, hat er sich tatsächlich bereit erklärt, mit uns zu sprechen. Unter einer Bedingung.“ Sie deutete auf Jorin, der verdutzt in die Runde blickte. „Video?“, fragte der. „Was für’n Video?“ Keiner beachtete seine Frage. Samuel nickte nur und sah auf seine Armbanduhr. „Phase zwei, wurde aber auch Zeit.“ Der Agent stapfte hinüber zur Gartenhütte, schlüpfte aus seinen Gummistiefeln und schob die Haustür auf. „Na los, rein mit euch, wir haben lange genug gewartet.“ Jorin klappte den Mund auf und wieder zu, um dann als Letzter über die Schwelle zu stolpern. Er kam sich geradezu unsichtbar vor. Alle redeten an ihm vorbei oder um ihn herum. Es war zum Haare raufen. Im Inneren des Häuschens, das seit einem Dreivierteljahr das Zentrum seines Lebens bildete, wirkten die Besucher völlig fehl am Platz. Die Gruppe aus Kindern und Agenten knubbelte sich in der winzigen Koch-Wohnnische, während sich Smuts am ersten Rollladen zu schaffen machte, um das Fenster zu verdunkeln. „Jo, wärst du so freundlich, den Damen die Räumlichkeiten zu zeigen?“ Jorin blinzelte. „Die – was?“ „Ich wäre dir wirklich sehr verbunden“, fuhr Smuts fort. „Habe hier noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen, bevor ich mich um das Wohlergehen unserer Gäste kümmern kann.“ Jorin ließ seinen Blick über die Nasszelle mit Klo und Dusche wandern, taxierte die winzigen Kammern mit den ungemachten Betten daneben und kehrte zu den erwartungsvoll lächelnden Gesichtern von Annabel, Fenja und Njeri zurück. „Äh ...“ Der größte Luxus, den Smuts sein Eigen nannte, war ein uraltes Telefon mit Wählscheibe und spiraligem Hörerkabel. Kein W-LAN, kein Rechner, nicht einmal ein Fernseher; sie hausten hier im tiefsten digitalen Mittelalter. „Äh, Damen“, begann Jorin und machte eine Geste, die alles umfasste: „Hütte!“ Damit war seine Wohnungsführung abgeschlossen. Hilfesuchend drehte er sich zu Smuts um, der den letzten Rollladen herabließ, woraufhin nur noch schmale Lichtstreifen zwischen den Schlitzen durchschienen. „Und jetzt?“ „Meine Güte, Sam!“ Annabel lehnte sich gegen die Tischplatte, auf der im Dämmer halbvolle Tassen und Teller mit Croissantkrümeln und Erdbeerkonfitüre zu sehen waren. „Ich muss schon sagen, du hast dich wirklich ins Zeug gelegt, um unserem jungen Freund die Umgangsformen eines wahren Gentleman nahezubringen. Jorin ist nicht nur charmant, sondern auch noch ... äh ... äußerst redegewandt.“ Die Mädchen kicherten, während Smuts die Haustür verriegelte. Er reckte sich nach einem ausgestopften Raubfischkopf, einem entenschnabeligen Hecht mit spitzen Dolchzähnen, der genau über dem Eingang hing, und drückte dessen rechtes Glasauge ein. Sofort senkte sich mit leisem Summen eine Fliese neben der Spüle in die Wand und fuhr beiseite, um eine blau leuchtende Scanfläche freizugeben. Fassungslos starrte Jorin auf das Leuchten, das Samuels Gesichtszüge aus der Finsternis schälte. Ein weiteres „Äh“ war alles, was Jorin zuwege brachte. Neun Monate lang hatte Smuts das vor ihm geheim gehalten?! Nun presste der Agent ungerührt seine Hand gegen den Scanner, woraufhin ein Lichtbalken diese abfuhr. Sekundenbruchteile später klickte es im Boden. Die Umrisse einer Falltür zeichneten sich im zerschrammten Linoleum vor dem Kühlschrank ab. „Ich glaub’s ja nicht!“ Jorins Augenlid begann zu zucken. Smuts kniete sich hin und öffnete die Luke, sodass ein erleuchteter Schacht sichtbar wurde, der in die Tiefe führte. „Ladies first“, sagte der Agent mit einer Verbeugung. Wie selbstverständlich schwang sich Annabel die Sprossenleiter hinab. Fenja klatschte vor Begeisterung in die Hände und folgte ihr. „Action“, hallte die Stimme des iKIDS aus dem Schacht.
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