Hoch oben im Baum grollte Jorin vor sich hin. Aus der Brusttasche seines Hemdes zog er ein knittriges, angesengtes Foto hervor, verpackt in eine Klarsichtfolie, auf dem seine Eltern, Cord und Edda, in einem Pulk von Labormitarbeitern standen. Doch bereits auf diesem Foto tauchte als Vorbote des Todes, zwei Reihen hinter seinen Eltern, der Glatzkopf von Camaphos auf, einem der gefährlichsten Handlanger von Borax Dosch. Um das Aufwallen seiner Gefühle zu stoppen, sah Jorin vom Foto hoch und starrte in die Ferne. Von Dosch und seiner Organisation fehlte noch immer jede Spur. Selbst die Anti-KI-Allianz tappte völlig im Dunkeln. Dabei konnte es doch nicht so schwer sein, einen selbstverliebten Großkotz mit Hollywoodgebiss ausfindig zu machen! An irgendeinem Schickimicki-Strand musste sich Dosch schließlich unter Palmen lümmeln oder mit seiner Yacht anlegen. Und Camaphos, der im Gefängnis schmorte, schwieg beharrlich, vermutlich aus Angst vor seinem ehemaligen Boss. Nichts war aus dem Mimesis-Cheftechniker herauszubekommen. Nicht der zarteste Hinweis auf Doschs Geheimversteck, geschweige denn auf dessen Pläne. Jorin spürte, wie das dumpfe Grollen in seiner Brust weiter anschwoll. Mit zittrigen Fingern steckte er das Foto zurück in seine Brusttasche. Hätte er die Zwischenzeit wenigstens für eine anständige Agentenausbildung nutzen dürfen! Doch nein, von Training keine Spur. „Null, nichts, nada.“ Alles, was neben der Schule auf dem Plan gestanden hatte, war groß und fett geschriebene Langeweile. Ätzende Langeweile. „Hier passiert aber auch echt gar nichts“, stöhnte er und gähnte erneut. Anfang der Sommerferien waren Konrad und Nele zu einem Zeltlager auf eine friesische Insel gefahren. Von dort hatten sie Jorin eine Postkarte geschickt, mit Möwen, Sandstrand und einem Leuchtturm vorne drauf. Vielleicht hätte er doch besser mitfahren sollen? Träge verlagerte Jorin sein Gewicht in der Astgabel, um die selbst geschnitzte Steinschleuder aus dem Hosenbund zu zerren. Sein Blick glitt über die Glasfassaden der Hochhaustürme, die ihre violetten Nachmittagsschatten bis zur Schrebergartensiedlung ausstreckten, über die Gemüse- und Blumenbeete, zwischen denen alte Leute herumdackelten, und landete schließlich bei seinem Mentor2, Samuel Smuts. Oder besser gesagt, seinem Nicht-Mentor, denn gelernt hatte er von Samuel tatsächlich ... „Nüscht.“ Jorin verengte seine Augen zu Schlitzen und hielt nach einem Ziel Ausschau. Wenn wenigstens Fenja da wäre. Das iKID mit den schwedenblonden Haaren und den Sommersprossen auf den Wangen hatte es ihm angetan. Dabei war es schon Monate her, dass er das Roboter-Mädchen getroffen hatte. Offenbar verfolgte die A.KI.A. andere Pläne mit ihr. Jorin versuchte, die Erinnerung an Fenjas schmales, fein geschnittenes Gesicht und ihre herrlich grauen Augen beiseite zu wischen, um sich auf ein Ziel für seine Schleuder zu konzentrieren. Er atmete tief durch, spürte, wie sich der Knoten in seiner Brust zu lösen begann. Smuts kniete zwischen Tomatenpflanzen, kehrte Jorin den Rücken zu und zog sich gerade die rutschende Hose über dem Gesäß hoch. „Hm, nee“, entschied Jorin und ließ seinen Blick über die angrenzenden Schrebergartenparzellen wandern, wo Herrschaften in Feinrippunterhemden vor ihrem Grill saßen und den Hochsommer genossen. Jorin seufzte. Obwohl er das Idyll unerträglich fand, erschien die Zeit bei Smuts immer noch besser, als all die Jahre, die er zuvor in einer Pflegefamilie verbracht hatte, ganz zu schweigen von seinem Nachtlager auf dem Alten Friedhof. Entschlossen griff Jorin in seine Hosentasche, friemelte einen haselnussgroßen Kiesel hervor und spannte seine Schleuder. Das linke Auge zugekniffen, die Zungenspitze zwischen den Schneidezähnen vorgeschoben, zielte er, hielt den Atem an und ließ schließlich die Zwille flitschen. Der Kiesel raste über drei, vier penibel gestutzte Hecken hinweg, um dahinter einen Plastik-Gartenzwerg von seinem Sockel zu fegen. „Yes, Volltreffer.“ Jorin grinste, klappte sein rostiges Taschenmesser auf und schnitt eine Kerbe in den Griff seiner Schleuder. Es war die achtundzwanzigste. Mentor = Förderer, erfahrener Berater 2. Kapitel Der Triumph des Jägers hielt bei Jorin gerade einmal zwei Minuten an, denn plötzlich breitete sich ein warmes Gefühl auf seiner Brust aus. Der Junge stutzte, kratzte sich durch den Stoff des T-Shirts, doch die Wärme strahlte weiter, nicht in seiner Brust, sondern tatsächlich auf ihr. Verdutzt lupfte er den Bund des Shirts und schaute an seinem Oberkörper hinab. Da war nichts, nur Speckröllchen und der Kommunikator in Gestalt eines muschelförmigen Anhängers, der wie eh und je über seinem Brustbein baumelte. Mit ihm hatte sich Jorin auf der Eidechseninsel mit der A.KI.A. in Verbindung setzen können. Aber wie der Rest der Welt hatte seitdem auch dieses Meisterwerk der Spionagetechnik keinen Mucks mehr von sich gegeben. Argwöhnisch zog Jorin den Anhänger hervor und spürte dessen Wärme in der Handfläche. „Was soll denn das jetzt?“ Seine Finger zitterten, als er den Kommunikator aus der Halterung löste, ihn einschaltete und sich die Keramik ins Ohr stopfte. Angenehm warm schmiegte sich die Muschelform in seinen Gehörgang, ein Knistern ertönte. „Hallo Junge“, meldete sich sofort eine vertraute Männerstimme zu Wort, sodass Jorin vor Schreck einen Satz machte. Hilflos ruderte er mit beiden Armen und umklammerte im letzten Moment einen dürren Ast. „He!“, schnaubte er. „Verdammt noch mal, finden Sie das etwa witzig? Ich sitz grade in einem Baum und wäre fast runtergefallen. Hätten Sie sich nicht mal zwischendurch melden können? Neun Monate tote Hose – nichts! Funkstille!“ Mit einem Mal brach der angestaute Frust aus Jorin hervor. „Ich dachte, ihr haltet eure Agenten besser bei Laune. Mit ’nem klitzekleinen Observierungs-Auftrag oder so. Aber was ist?! Ich krepiere hier vor Langeweile! Die Hälfte der Sommerferien ist rum. Hier gibt’s nicht mal ’ne Spielkonsole und Smuts redet mit Toma–“ Unwirsch unterbrach ihn die Stimme am anderen Ende.„Junge, wir haben keine Zeit für Plaudereien. Deine zweite Spionage-Mission startet in zehn, neun, acht, sieben ...“ Ein Knistern in Jorins Ohrmuschel verriet, dass die Verbindung gekappt worden war. Unwillkürlich zählte er weiter, bewegte dabei stumm die Lippen und blickte hektisch um sich. „... sechs, fünf, vier ...“ Bei drei hörte Jorin Schritte auf dem Kiesweg. „... zwei, eins ...“ Wie auf ein geheimes Zeichen hin bog in diesem Moment ein Mädchen um die von Faltern umtaumelte Ligusterhecke. Jorin traute seinen Augen nicht. „Njeri?!“ War das wirklich seine Klassenkameradin aus der Mimesis-Schule, die lässige, allseits beliebte Njeri? Das Waisenkind mit kenianischen Wurzeln? Kein Zweifel, der Klamottenstil aus zerschlissener Jeans und pinkem T-Shirt mit schielendem Einhorn darauf kam Jorin sehr bekannt vor. Ebenso die kunstvoll geflochtenen Reihen unterschiedlich breiter Haarzöpfe, Njeris Cornrows, deren Enden im Nacken leicht abstanden. Wie immer umspielte ihre Lippen ein kaum merkliches Lächeln. Gerade drehte Njeri ihren Kopf über die Schulter und wandte sich an eine Person, die noch von der Hecke verdeckt wurde: „Und er weiß wirklich nichts davon? Shit, das wird ihn aus den Socken hauen! Hoffentlich verplapper ich mich nicht.“ „Das hoffe ich auch, Njeri“, antwortete eine Frauenstimme, woraufhin Jorin der Atem stockte. Seine Zunge klebte am Gaumen fest, als im Gefolge von Njeri zwei weitere Gestalten auftauchten: A.KI.A.-Agentin Annabel Biron und – „Fenja!“ Einem Kometenschweif gleich zog der hellblonde Haarschopf des iKID-Mädchens an der Hecke vorbei und nun verlor Jorin endgültig den Halt. Wie ein betäubter Orang-Utan plumpste er aus dem Blätterdach und landete mit einem dumpfen Schlag zwischen den Wurzeln. Kurz wurde es ihm schwarz vor Augen, dann rollte er sich auf den Rücken und blinzelte heftig.
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