Bei der Begrüßung vor gut einer Stunde haben sie sich zu einer herzlichen Umarmung hinreißen lassen. So etwas wäre früher selbstverständlich nie vorgekommen. Im Gegenteil, sie hatten damals beide mit großem Spaß an ihren betont kühlen Umgangsformen herumgefeilt. Hatten sozusagen ihre Beziehung wie ein kleines Kunstwerk ständig inszeniert und verfeinert. Sehr zum Ärger ihrer Klassenkollegen, die einfach nie herausfanden, ob Tanner und Bruckner das ernst meinten oder sich auf Kosten der anderen einen Spaß erlaubten. Wussten sie es selber?
Bruckner hat denselben Tisch reservieren lassen, an dem sie früher gemeinsam viele Stunden verbracht hatten. Und er stellte wie immer das Menu zusammen und schaute nur am Ende der Bestellung Tanner fragend an. Dieser nickte bloß, auch wie immer, und so wurde die umfangreiche Bestellung in die Küche weitergeleitet. Bis der cinque terre bianco , dieser gar nicht so leichte, bernsteinfarbige Weißwein aus Ligurien auf den Tisch kam, der schon immer den Auftakt zu ihren kleinen Gelagen gebildet hatte, sprachen sie kein Wort. Auch dies eine Sitte, die sich die beiden von früher gemerkt hatten.
Als sie schweigend dasaßen, schoss Tanner ein verrückter Gedanke durch den Kopf. Waren die verflossenen Jahre wirklich real gewesen? Die Zeit, die sie sich nicht gesehen hatten, kam ihm plötzlich bloß wie eine kleine Unterbrechung vor. Zum Beispiel so lange, wie es braucht, um auf die Toilette zu gehen. Diese Erkenntnis traf ihn so unvermittelt, dass ihm schwindlig wurde. Er wusste zwar, dass er am Tisch saß, fühlte sich aber plötzlich wie losgelöst von allem. Vom Körperlichen. Vom Stofflichen. Wie frei schwebend. Oder besser noch: frei fallend.
Tanner fragte sich, während er schweigend am Tisch saß, worin eigentlich der Unterschied im Erleben eines Traumes und eines Ereignisses in der alltäglichen Wirklichkeit bestand. Dass man beim Träumen wieder in einer anderen Wirklichkeit aufwachte? Aber wie unterschied sich im Rückblick, in der Erinnerung, Geträumtes und Erlebtes?
Träumen Sie, Tanner? Nein? Worauf sollen wir denn unser Glas erheben? Auf unser Wiedersehen? Das wäre ein bisschen einfallslos, oder?
Bruckner hatte ihm von dem köstlichen Wein eingeschenkt und sein Glas zum Toast erhoben. Tanner überlegte einen Augenblick, dann blickte er Bruckner lächelnd an.
Ich würde vorschlagen, dass wir uns endlich du sagen und damit sozusagen ein Zeichen für eine neue Etappe unserer Freundschaft setzen. Was halten Sie davon, Herr Bruckner?
Herr Tanner, Sie versetzen mich doch immer wieder in Erstaunen! Aber vielleicht haben Sie Recht! Also, ich bin einverstanden. Ich heiße Richard … ha … ha …
Nun überkam Bruckner ein so befreiendes Lachen, dass sich auch Tanner ihm nicht entziehen konnte, zumal auch er ganz förmlich ankündigte, er heiße Simon. Erst nach einiger Zeit hatten sie sich so weit beruhigt, dass sie einen Schluck aus ihren Weingläsern trinken konnten. Mit ihrem Lachen hatte sich einiges von der Nervosität gelöst, die beide natürlich nicht wahrhaben wollten. Immerhin hatten sie sich gut dreißig Jahre nicht mehr gesehen. Warum eigentlich?
Als drei Kellner gleichzeitig aufkreuzten, beladen mit vielen kleinen Platten, Tellern und Schüsselchen, schob Tanner die Fragen erst einmal beiseite.
Die drei Kellner, jeder traditionell in schwarzer Hose, weißem Hemd mit diskret farbiger Krawatte und weißer, gestärkter Kellnerjacke gekleidet, bildeten das perfekte Komikertrio. Wie aus einem alten Schwarzweißfilm. Ein großer Dünner unbestimmten Alters, mit messerscharfem Oberlippenbart, offensichtlich der Chef des Trios; dann ein ganz Kleiner, der das unverzichtbare Dummerle wäre und bei einem Banküberfall höchstens Schmiere stehen und auch dann noch versagen und alle drei ins Unglück stürzen würde; als Dritter im Bund der obligate Dicke, der natürlich in seiner Jugendzeit keine Turnstange hochkam, dafür schon damals die ganze Klasse zum Lachen brachte, indem er sämtliche Lehrer perfekt imitieren konnte. Ein Team, das mit betont ernsten Mienen und elegant eingespielten Bewegungsabläufen dem Gast das Gefühl vermittelt, es gäbe im Moment nichts Wichtigeres auf der Welt als seine Zufriedenheit. Also kurzum, die letzten drei Vertreter einer ausgestorbenen Spezies.
Bruckner und Tanner fühlten sich sauwohl.
Während sie die reichhaltigen antipasti aßen, bestehend aus insalata di mare mit seppie, polpi e vongole , flankiert von übervollen Tellerchen mit prosciutto, fave e fichi mit ravanelli con tonno , diesen herrlich erfrischenden Radieschen mit Thunfisch und dem köstlich duftenden Weißbrot, berichtete Bruckner über sein berufliches Leben. Tanner wäre überrascht gewesen, hätte sein Freund mit dem Privatleben angefangen.
Bruckner arbeitete tatsächlich immer noch bei derselben Großbank, bei der sicher die Hälfte der Bürger dieses Landes ihr Geld lagern, in der Hoffnung, dass es sich fröhlich vermehren werde. Was es auch lange Zeit getan hatte. Das böse Erwachen angesichts der großen Geldvernichtung begann ja erst vor wenigen Jahren. Dafür umso heftiger und nachhaltiger. Bruckner erzählte, dass er mittlerweile die Kontrolle über das gesamte Kulturbudget der Bank habe. Diese Tatsache kommentierte er mit einem äußerst schiefen Lächeln, er habe ja Gott sei Dank nichts mit der schmutzigen Seite des Geldgeschäftes zu tun. Er verwalte und verteile das gute Geld seiner Bank. Das Alibigeld.
Tanner versuchte, matt zu protestieren, indem er von dem einen oder anderen Reichen mit echtem Kunstverstand erzählen wollte. Zum Beispiel habe es diesen Direktor des einen Chemiewerkes gegeben. Dieser knallharte Manager sei ja gleichzeitig Präsident der schweizerischen anthroposophischen Gesellschaft gewesen. Und nicht nur pro forma, sondern der sei wirklich ein Mann des Geistes gewesen. Bei dem Spagat zwischen Beruf und Neigung zwar offensichtlich schizophren veranlagt, aber immerhin.
Ach, hör auf, Simon, komm mir nicht mit einem einzigen, noch dazu mehr als obskuren Beispiel, unterbrach ihn Bruckner lachend und schenkte beide Gläser randvoll, ich habe seit fünfundzwanzig Jahren mit der ganzen Bande zu tun. Es ist allein die Geldgier und Sucht nach immer mehr Macht. Die treibt die Herrschaften an. Und ab und zu verordnet ein gewisser verinnerlichter Mechanismus eine kleine Schamspende an die Kultur. Auch wenn es manchmal große Beträge sind, so scheinen sie doch nur dem Normalverbraucher groß. Für die selber sind das Peanuts.
Bruckner unterbrach die Rede über sein offensichtliches Lieblingsthema, denn das Trio räumte in atemberaubender Choreographie die leeren Teller und Schälchen ab und zauberte neues Besteck für den nächsten Gang hervor. Als sie wieder weg waren, beugte sich Bruckner über den Tisch und in seinen Augen glimmte dieses eindringliche Leuchten, das Tanner schon früher ab und zu bemerkt hatte. Zum Beispiel, wenn er sich von einem der Lehrer ungerecht behandelt vorkam. Wenn es passierte, überkam ihn ein leichtes Zittern, als ob sein Körper fröstelte, und dieses seltsame Leuchten erschien in seinen Augen. Er fixierte dann den Lehrer, sagte aber nie ein Wort. Heute kommt es Tanner vor, als sei dieses Leuchten ein intensiver Abglanz eines ziemlich großen, inneren Feuers, das hinter der kühlen und kultivierten Maske seines Freundes brennt.
Mein größtes Vergnügen besteht darin, das Geld in Projekte zu stecken, die den innersten Interessen meiner Bank möglichst diametral entgegenstehen. Und meine Chefs merken es nicht einmal, solange ich zur Verschleierung dieser Politik immer genügend konventionelle Projekte unterstütze. Mäzenatentum ist wie eine Art modernes Ablassgeschäft. Mit so und so viel Geld, das sie in die Kultur stecken, also in etwas, das aus dem Blickwinkel ihrer Geschäfts- und Geldwelt völlig nutzlos ist, dürfen sie dann wieder eine bestimmte Menge an Dreckgeschäften machen. Die Kunst besteht darin, das alles immer schön in einer gewissen Balance zu halten. Du musst ihnen nur mit allen Mitteln suggerieren, dass es sich um hohe und wichtige, ja besser noch, um unbequeme Kultur handelt, dann erhöht das den Ablasswert, verstehst du?
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