1 ...8 9 10 12 13 14 ...28 Die kurz geschnittenen Haare bringen ihre großen Augen und ihre glatte Stirne wunderbar zur Geltung. Das Alter kann dieser Frau offensichtlich nichts anhaben.
Hallo, Tanner. Du bist doch Tanner, oder? Hat dir der Auftritt von Stettler die Sprache verschlagen. Stettler ist mein Chef. Von wegen Mädchen für alles. Er untertreibt gerne … äh, er übertreibt gerne … also ich meine …
Martha Vogel! Du …! Nicht Stettler, du hast mir die Sprache verschlagen. Ich habe dich kaum wiedererkannt. Das ist ja unglaublich … also, ich meine … also, ich will sagen, du bist so …? Richtig schön bist du geworden.
Ach, jetzt hör doch auf. Fang du nicht auch noch an. Ich hasse es, wenn Männer übertreiben. Zudem werde ich immer noch rot, wie du siehst. Und das hasse ich ganz besonders. Willst du dich nicht setzen? Soll ich uns etwas bestellen? Tee? Wasser? Oder willst du ein Bier?
Sie redet ziemlich schnell, wahrscheinlich um von ihren geröteten Wangen abzulenken. Endlich legt sie den Stapel Manuskripte ab. Sie setzt sich auf ihren Tisch, verschränkt die Arme und lässt die Beine baumeln. Tanner betrachtet bewundernd ihre italienischen Schuhe mit den hohen Absätzen. Nichts mehr von knarzenden Bergschuhen.
Ja, Tanner, viel Zeit ist vergangen. Du bist ja zu keiner Klassenzusammenkunft gekommen. Der Herr Kommissar war ja immer viel zu beschäftigt. Jetzt müssen wir die geballte Ladung unserer Veränderungen auf einmal aushalten. Und dieses erschreckende Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht, als wir uns das je vorgestellt haben.
Dann lacht sie unvermittelt ein erstaunlich helles Lachen. Und lässt den Oberkörper auf ihre Schenkel fallen, umfasst mit ihren kleinen, kräftigen Händen beide Fußgelenke. Eine ganze Weile verharrt sie so, auch als das Lachen längst verstummt ist. Tanner schweigt und wartet. Nach einer kleinen Ewigkeit bäumt sich ihr Körper auf, sie springt auf die Füße und geht schnell hinter ihren Schreibtisch. Mit dem Rücken zu Tanner, reibt sie sich die Augen. Als sie sich Tanner zuwendet, schimmern sie immer noch feucht.
Also, Tanner, was verschafft mir die Ehre deines plötzlichen Besuches?
Er seufzt und schaut interessiert an die Decke. Offensichtlich hat sich Martha nach einem Moment der Rührung entschlossen, zu einer Art Förmlichkeit zurückzufinden. Er begreift erst in diesem Moment, dass er den Fall des toten Japaners nicht ansprechen kann, ohne dass offensichtlich wird, dass er selber Besucher dieses Etablissements war. Warum ihn das plötzlich stört, obwohl er sich selber kaum als prüde bezeichnen würde, ist ihm im Augenblick auch klar. Es sind die Augen und das offene Gesicht von Martha.
Tanner, ich habe dich, glaube ich, etwas gefragt. Ich habe leider heute nicht so viel Zeit.
Martha, gestern ist in dieser schönen Stadt ein Mann japanischer Herkunft in einem dieser Etablissements, die offiziell nicht existieren, in den Armen einer sehr existierenden Liebesdienerin gestorben. Die Hitze kann es nicht gewesen sein, die Räumlichkeiten verfügen über Aircondition. Außer, die junge Dame wäre zu hitzig gewesen. Ich meine, für den Herrn. Er sei allerdings ein gut trainierter Mann im besten Alter gewesen. Man hat dann die Polizei gerufen. Was ja in so einem Fall auch vernünftig und normal ist. Was eher nicht so normal scheint, ist die Tatsache, dass in eurer Zeitung nicht die kleinste Information über diese traurige Begebenheit geschrieben steht. Ist das einer ungewöhnlichen journalistischen Diskretion zu verdanken oder wisst ihr nichts davon?
Martha schaut eine Weile schweigend zum Fenster hinaus. Tanner wird in dem Augenblick bewusst, dass er während der Schulzeit vier volle Jahre auf derselben Höhe mit Martha saß, getrennt nur durch einen schmalen Gang. Wie hatte er während dieser ganzen Zeit das Profil von Martha Vogel übersehen können?
Zu seinen Gunsten sagt sich Tanner allerdings, dass er damals, wenn er sie von der Seite ansah, meistens nur zerzauste Haare sah. Heute verstellt keine einzige Haarsträhne den Blick auf die ebenmäßige Linie, die Stirn und Nasenrücken bilden. Freie Sicht auf volle Lippen und auf den frech herausfordernden Schwung der Linie, die unterhalb der Nase die Verbindung zur Oberlippe bildet. Martha blickt ihn einen Moment zögernd an. Hat sie gespürt, wie genau Tanner sie beobachtet? Sie greift energisch zum Telefonhörer. Während sie auf die Verbindung wartet, reibt sie einen imaginären Fleck auf der Tischplatte weg.
Hör mal, wisst ihr was von einem toten Ausländer …? Gestern Abend! Ja, im Milieu …! Nein? Gar nichts? Ach, ich habe nur so ein Gerücht gehört … nein, nein. Danke. War nur aus alter Gewohnheit. Ja … entschuldige die Störung. Danke. Wie? Das mit Stettler …? Das ist auch nur ein Gerücht. Und dazu noch ein ganz blödes. Vergiss es, so weit kommt es noch! Also danke.
Martha legt betont sorgfältig den Hörer auf. Während des kurzen Gesprächs hat sie sich auf ihrem Drehstuhl von Tanner weggedreht. Bei der Erwähnung von Stettler fährt sie sich durch ihr Haar, zwirbelt eine Strähne um ihre Finger und verweilt schließlich bei einem kleinen Muttermal am Hals. Dann dreht sie sich entschlossen wieder zu Tanner.
Also, du hast es ja gehört. Die wissen nichts von deinem Toten.
Tanner gibt sich Mühe, sein unschuldigstes Gesicht zu machen. Denn schon bereut er, überhaupt gefragt zu haben. Es wird ja doch nichts bringen, außer einer Reihe hartnäckiger Nachfragen. Und die, die werden kommen, wie das Amen in der Kirche. Das wäre Tanner auch klar, wenn er nicht das schelmische Funkeln in den Augen von Frau Doktor Vogel bemerken würde. Also geht er zum Angriff über …
Martha, wenn du morgen Abend mit mir essen kommst, erkläre ich dir mit allen Details, was es mit dem Toten auf sich hat und woher ich die Information habe. Was sagst du dazu?
Martha lacht auf und droht ihm mit dem Finger.
Das war jetzt sehr raffiniert. Ich gehe aber nur darauf ein, wenn du versprichst, mir auch zu erklären, was insgesamt in diesem Etablissement passiert ist und was deine Rolle dabei ist. Und zwar auch mit allen Details …
Tanner seufzt und hebt spielerisch seine Hand zum Schwur.
So, und jetzt muss ich dich rausschmeißen, auf mich wartet noch eine Menge Arbeit. Wegen unserer Verabredung, lass uns morgen noch einmal telefonieren, ja?
Ihre Umarmung zum Abschied gestaltet sich etwas linkisch, da nicht so recht klar ist, ob sie sich überhaupt umarmen oder sich nur die Hand reichen sollen. Tanner greift sich, nach einem Moment des beidseitigen Zögerns, die Hand von Martha und zieht sie vielleicht etwas zu stürmisch zu sich heran. Tanner spürt in der Umarmung ihren Körper. Es fällt ihm schwer, Martha nicht auf der Stelle zu küssen, so überwältigt ist er. Sie vermeidet es, Tanner noch einmal in die Augen zu schauen, und schiebt ihn energisch zur Tür hinaus. Dann lehnt sie sich mit dem Rücken an die geschlossene Tür und beißt sich heftig in einen Finger. Das allerdings kriegt Tanner nicht mehr mit.
Erst als Tanner und Bruckner sich über dieses unglaubliche tiramisù vom alten Italiener hermachen, das noch immer das beste ist, was Tanner je gegessen hat, und zwar inklusive aller intensiver Feldforschungen zu diesem Thema in Italien, erzählt er seinem Freund von der Begegnung mit Martha Vogel. Bruckner, als er den Namen Martha hört, zaubert dieses besondere Lächeln auf seine Lippen, das Tanner seit jeher bewundert und das ihn gleichzeitig befremdet hat. Eine Mischung aus Wohlwollen und Amüsement, bei der man nie weiß, ob er sich über den Gegenstand oder über sein Gegenüber lustig macht. Oder über sich selbst? Lächeln als Selbstschutz?
Tanner wollte gleich, als sie sich getroffen haben, von Martha erzählen. Er hat sich dann aber doch beherrschen können, zumal er erst einmal die Begegnung mit Bruckner verkraften musste. Bruckner ist zwar älter geworden, aber in seinem äußeren Erscheinungsbild hat sich praktisch nichts verändert. Und das irritierte Tanner ziemlich. Ein schlanker, großer, äußerst attraktiver Mann, dessen Alter erst aus nächster Nähe abzuschätzen ist. Er trägt exakt dieselbe Frisur wie früher, außer dass sich an den Schläfen ein paar silberne Haare zeigen. Seine roten Haare waren schon immer, Tag für Tag, scheinbar gleich lang gewesen. Bei anderen Menschen sieht man, wenn sie ihre Haare geschnitten haben. Bei Bruckner sah man das nie. Die Kleidung ist wie eh und je perfekt. Und teuer. Klassisches englisches Understatement. Damit fiel Bruckner früher in der Schule natürlich auf, weil er einfach zu jung für diesen Stil war. Jetzt nicht mehr. Bruckner ist quasi in seinen schon früh gewählten Stil hineingewachsen. Er trug früher natürlich nur zu bestimmten Anlässen Anzüge. Im normalen Alltag sah man ihn immer in diesen feinen englischen Hemden, in Kaschmirpullovern und Pullundern, in Wollhosen mit Bügelfalten und Tweedjacken mit den lederverstärkten Ellbogen. Und das in einer Zeit, in der die anderen um nichts in der Welt auf ihre Jeans verzichtet hätten.
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