Über dieses Buch
Die Erzählerin Laura sitzt im Krankenhaus am Bett ihrer Großmutter. Die Großmutter sieht ihrem Ende entgegen, da machen sich die beiden nichts vor. Auf sanfte und überraschende Weise verschworen, gehen die beiden diesen Weg gemeinsam.
Tag für Tag fährt Laura nach der Arbeit ins Krankenhaus, setzt sich an Großmutters Bett, geht ein paar Schritte mit ihr, liest ihr vor, hört ihr zu, wenn sie die wichtigen kleinen Geschichten aus ihrem Leben erzählt. Ihr Leben lang hat sie gearbeitet, sich gefügt, bloss nicht lästigfallen, nichts aufrühren. Am Ende wird sie zu einer sanften Rebellin.
Wenn Großmutter schweigt, erzählt Laura von England. Sie wurde von ihrem Chef dahin geschickt, er hat was vor mit ihr. Sie hat Englisch gelernt und die Liebe ausprobiert.
In leichter und poetischer Sprache erzählt Fanny Wobmann von zwei Frauen, die sich in einer zwischen Leben und Tod schwebenden Zeit einander öffnen und an die wesentlichen Dinge rühren.
Die französische Originalausgabe wurde mit dem Terra Nova Literaturpreis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.
Foto Ayşe Yavaş
Fanny Wobmann, geboren 1984 in La Chaux-de-Fonds, studierte Soziologie an der Universität Neuchâtel. Sie ist Gründungsmitglied des Autorenkollektivs Ajar und der Theaterkompanie Princesse Léopold, für die sie schreibt, spielt und Regie führt. «Am Meer dieses Licht» ist ihr zweiter Roman, er wurde mit dem Terra Nova Literaturpreis 2017 der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.
Lis Künzli, geboren in Willisau, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und lebt heute in Toulouse. Die Übersetzerin von Amin Maalouf, Atiq Rahimi, Camille Laurens, Pierre Bayard, Pascale Hugues, Marivaux, S. Corinna Bille u. a. wurde 2009 mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
Fanny Wobmann
Am Meer dieses Licht
Roman
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Limmat Verlag
Zürich
WIR, DIE WIR VON DER WELT AUFGEGEBEN WURDEN
Großmama, was sagst du? Du verziehst so deinen Mund, als müsstest du dich übergeben, aber dann sprichst du. Es entstehen Knacklaute, wie Tropfen, die auf ein Wachstuch fallen. Es ist ein kleines bisschen eklig. Wie der trockene, säuerliche Geruch dieses Krankenhauszimmers. Diese verbissene Sauberkeit, du weißt schon, man desinfiziert und spricht ganz leise. Man verhüllt und man seufzt.
Ich habe dir Blumen mitgebracht, erst hast du nicht recht begriffen, dachtest, du hättest sie selbst gekauft, und es wäre mein Geburtstag.
«Es schneit, Laura?», fragst du mich. Oder du behauptest es, ich weiß es nicht. Aber es schneit nicht. Die Sonne steht tief, sticht die obersten Stockwerke der Häuser scharf heraus, und die Stadt steht schief. Sie ist wild und stolz, mit den Weiden ringsum zu verschmelzen. Der Winter hat sämtliche Wege verwischt, alles ist weiß, grau und blau, wie deine Hände, deren krumme Finger unmerklich auf das straff gespannte Laken klopfen.
«Die Krankenschwester ist eine Schwarze, ich habe bald keine Haut mehr, so heftig wie sie mir den Rücken reibt. Sie ist nicht besonders freundlich, weißt du, ein bisschen brüsk, wie sie manchmal sind. Die anderen Krankenschwestern sind freundlich, aber sie lassen mich nachts nicht schlafen. Mir ist es lieber, wenn es ein Mann ist, hast du Thibaut schon getroffen? Laura, hast du gesehen, meine Zimmernachbarin ist weg. Sie ist nicht gestorben, hm, nein, sie ist nach Hause gegangen, glaubst du das? Ich hätte ihr keine zwei Wochen mehr gegeben, als sie ankam, der Geifer ist ihr aus dem Mund gelaufen, weißt du, schrecklich ist das, schrecklich. Und sie hat gerochen, weißt du. Ich musste an Papa denken, wenn er vom Schweinefüttern kam. Ich habe mich nie an diesen Geruch gewöhnen können. Und dabei bin ich damit großgeworden. Versprich mir, du lässt nicht zu, dass es mit mir so weit kommt?»
Ich weiß nicht, was ich antworten soll, ich lache. Denn ich kenne von dir nur dein Schweigen, deine Geheimnisse, diese Zurückhaltung, die dein Leben durchzogen hat. Bloß nicht lästigfallen. Nichts aufrühren. Nicht zu tief bohren. Schauen, dass man klarkommt, ohne viel Aufhebens zu machen.
Jetzt sprichst du mit mir und dein Mund läuft über.
Du darfst ein wenig aufstehen, solltest gehen, damit deine Muskeln sich nicht ganz zurückbilden. Also bringe ich dich in die Cafeteria. Deine Pantoffeln sind zwei ängstliche kleine Nagetiere, deren Fell über einen gefrorenen See schleift. Wie langsam du vorankommst. Der Kiosk ist geöffnet, und du verlangst ein Tribolo, erzählst mir, dass diese Rubellose 1985 aufgekommen sind, dass du seither jede Woche eins kaufst und noch nie mehr als fünfzig Franken gewonnen hast. Du benutzt deine Nägel, um die Zahlen zum Vorschein zu bringen, trittst dabei von einem Fuß auf den anderen und regst dich auf, weil du zitterst und es nicht schnell genug geht. Du lässt die Niete auf deine Füße fallen und sagst, «ich wüsste sowieso nicht, was ich mit dem Geld jetzt noch anfangen sollte, das wäre ja noch der Gipfel», und fängst wieder an zu rutschen. Das Scheuern deiner Füße auf dem abgenutzten Boden hat etwas Beruhigendes. Ich bin froh zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin, die dich trägt, dass ich den Druck auf deinem mageren Arm etwas mindern kann, ohne dass du plötzlich in eine unbekannte und brutale Welt entschwindest.
«Laura, es schneit.» Du bleibst nicht stehen, um hinauszusehen, bist ganz auf deine Schritte konzentriert. Aber es stimmt, diesmal schneit es. Der Winter hat seine Kräfte entfesselt, die Stadt ist wieder weiß, da, wo ihre Fluchtlinien sich verwirren, grau, sie unterwirft sich. Die Symmetrie der Straßen ergibt keinen Sinn mehr, die Flocken wirbeln durcheinander, das Chaos von draußen und deine scheuernden Füße, fch, fch, fch, fch, ein präziser Rhythmus, ich marschiere mit und weiß nicht so recht, wohin wir gehen.
Das Scheuern und der Geruch deines Nachthemds. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich das aushalten werde.
Aber ich bin da, ich stütze dir den Arm und bringe dir den Kakao, auf den du ungeduldig gewartet hast. Du pustest über das Getränk, braune, fette kleine Wellen schlagen am Tassenrand auf, du machst dir die Finger voll. Ich hole eine Serviette und betrachte dich von Weitem, eine weiße Gestalt, von der man nicht mehr weiß, wohin mit ihr. Du nimmst so viel Platz ein und bist doch winzig klein, zusammengesunken über dem Plastiktisch, die durchsichtigen Haare am Schädel plattgedrückt.
Wir wissen nicht, was sagen. Das Schweigen bringt die Flocken in Rage, und du schaust mir in die Augen. Da fange ich an, dir zu erzählen.
Er war nackt und rosig.
Ich beobachtete ihn aus meinem linken Augenwinkel. Auf dem Kiesstrand.
Die Hitze, die vom Boden aufsteigt, macht die Sicht immer irgendwie verschwommen und irreal. Alles, was auf den Kieselsteinen liegt, ist nur noch ein flimmernder Farbfleck, ein schleimiger Quallenkörper, der im Meer planscht.
Schleimige Körper sind erlaubt an den Stränden. Auf meinem drückt sich langsam die Form der Steine ab.
Kleine rote Ringe auf der trockenen Haut. Gänsehaut. Wie eine stille See. Raue und fremdartig anmutende Unebenheiten, die ich mit den Fingerspitzen abtaste. Und dann ist er aufgestanden.
Nackt und rosig.
Ich wollte wissen, ob er behaart ist, aber hatte nicht die Kraft, mich zu rühren, um besser sehen zu können. Er ging ans Wasser. Es war zu kalt, er schüttelte die Zehen, um sie aufzuwärmen. Dann fotografierte er seinen Hund. Mehrmals. Vor dem Meer, auf der Düne, liegend, sitzend, rennend. Ich sah von meinem trägen Posten aus die Schnauze des Tieres bellen, hörte aber nichts. Auch die Geräusche sind verschwommen am Strand. Es bleiben nur die des Meeres und des Winds. Die Schritte auf den Kieseln.
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