Über dieses Buch
«Neptunjahre» umfasst zwölf Erzählungen, die jeweils einem der Kalendermonate zugeordnet und auf vier Jahrzehnte verteilt sind. In dichten, stupenden und einfühlsamen Bildern entsteht ein eindrückliches Panorama, ein Jahreskreis der Conditio humana.
«Die Autorin verfügt über die seltene Fähigkeit, auf wenigen Seiten ganze Lebensschicksale einzufangen, die versteckte oder offenkundige Zusammenhänge mit historischen und globalen Ereignissen erkennen lassen.» Jury Schweizer Literaturpreis
Giovanni Giovannetti
Anna Ruchat, 1959 in Zürich geboren, im Tessin und in Rom aufgewachsen, studierte Philosophie und deutsche Literatur in Pavia und Zürich. Langjährige Tätigkeit als Übersetzerin u. a. von Thomas Bernhard, Paul Celan, Nelly Sachs, Friedrich Dürrenmatt, Viktor Klemperer, Mariella Mehr, Kathrin Schmidt und Norbert Gstrein. Für ihr Erzähldebut «Die beiden Türen der Welt» erhielt sie in Italien den Publikumspreis Premio Chiara und in der Schweiz den Schillerpreis. Sie unterrichtet an der Europäischen Übersetzerschule in Mailand. Anna Ruchat lebt in Riva San Vitale und Pavia. Im Limmat Verlag ist «Schattenflug» lieferbar.
AdS, Solothurner Literaturtage,
Michal Florence Schorro
Barbara Sauser, geboren 1974 in Bern, lebt in Bellinzona. Studium der Slawistik und Musikwissenschaft in Fribourg. Nach mehreren Jahren im Zürcher Rotpunktverlag arbeitet sie seit 2009 als freiberufliche Übersetzerin aus dem Italienischen, Französischen, Russischen und Polnischen.
Anna Ruchat
Neptunjahre
Erzählungen
Aus dem Italienischen von Barbara Sauser
Limmat Verlag
Zürich
«Dies ist Dein Dir zugemessener Kreis:
suche Deine Worte, zeichne Deine
Morphologie, drücke dich aus.»
Gottfried Benn, Probleme der Lyrik
Die Seegfrörni von 1963
«Seit ich meine Uhr verloren habe,
bin ich gezwungen, von Zeit zu Zeit
Menschen anzusprechen.»
Thomas Bernhard, Ist es eine Komödie?
Ist es eine Tragödie?
31. Januar. In der Stadt hat es schon mehrmals geschneit, aber noch nie so ausdauernd. Seit dem Morgen fällt beinahe ununterbrochen trockener Schnee. Die Gehwege sind weiß und fast frei von Spuren, weiß sind auch die Geleise der Straßenbahn, und sogar auf den Leitungen setzt zwischen zwei Durchfahrten trockener Schnee an, um dann langsam über die Scheiben der Wagen hinunterzurutschen. An der Haltestelle steht eine Frau. Ihr dichter, grauer Haarschopf ist übersät mit glitzernden Flocken, die Hände hat sie in den Taschen eines grauen Mantels vergraben, der in der Taille eng zusammengebunden ist wie ein Morgenmantel. Surrend kommt die Straßenbahn wenige Schritte neben der Frau gemächlich zum Stehen. Sie steigt ein. Im halbleeren Wagen ist es häuslich warm, das Licht ist behaglich. Die Frau schüttelt sich den Schnee aus dem Haar und wischt mit den bloßen Händen die Schultern sauber. Dann setzt sie sich auf einen Zweiersitz ans Fenster. Sie blickt nach oben in die dichten Flocken im Licht der Straßenlaterne. Das schöne Gesicht der Frau ist angespannt. Die Hände, die auf der Vorderlehne ruhen, sind gerötet, die Haut an den Knöcheln ist rissig. An jeder Haltestelle blickt sie sich mit ihren hinter einer Brille versteckten großen, grauen Augen um, als wäre ihr jemand gefolgt, doch die wenigen anderen Fahrgäste kümmern sich nicht um sie, sind auf ein Buch oder eine leise geführte Diskussion konzentriert oder schauen gedankenverloren in den Schnee hinaus. Die Straßenbahn fährt über eine Brücke, rumpelt dann über ein paar Weichen und biegt in die Bahnhofstraße ein, wo sie langsam zum Stehen kommt. Es ist Sonntagabend. Mehrere Personen steigen ein, einige mit Koffer oder einer großen Reisetasche. Manche bleiben, an die Scheibe angelehnt, stehen, mit Ski an den Schultern und Moonboots an den Füßen. Neben die Frau setzt sich ein bärtiger junger Mann. Sie schlägt die Beine übereinander und schmiegt sich an das Fenster, die Handtasche fest umklammert. Leise fährt die Straßenbahn wieder an.
«Könnten Sie mir wohl sagen, wie spät es ist?», fragt die Frau den bärtigen Mann unsicher und zieht den Mantelärmel zurück. Sie hält ihm ihr schmales Handgelenk hin: «Ich habe meine Armbanduhr verloren.» – «Neun Uhr», antwortet der Mann und fügt, von einer Handbewegung begleitet, «ungefähr» hinzu. «Neun Uhr?», sagt die Frau, «mein Sohn ist vor fast genau zwanzig Jahren um halb zehn zur Welt gekommen.» Dann sieht sie den Mann nachdenklich an: «Wissen Sie, dass Sie mich an jemanden erinnern?» Der Mann schmunzelt. «Ich glaube, Sie sind ein guter Mensch», fährt die Frau fort, «könnten Sie mich bis Tiefenbrunnen begleiten?»
«Ich sollte eigentlich an der nächsten Haltestelle aussteigen. Ich bin mit Freunden verabredet. Aber wenn Sie möchten, begleite ich Sie gern.» Die Frau legt die Hände in den Schoß und sieht ihn misstrauisch an. «Woher kenne ich Sie bloß?» Dann blickt sie aber erneut abwesend aus dem Fenster.
«Wenn es so schneit, ist die Strecke von Bellevue bis Tiefenbrunnen eine Pracht. Kommen Sie doch wenigstens bis zur nächsten Haltestelle mit», sagt sie, als hätte der Mann die Bitte abgelehnt, sie zu begleiten, «zwei Haltestellen, fahren Sie mit mir bis Paradeplatz, dann steige ich in die 2 um und Sie kehren nach Hause zurück.» Die Straßenbahn fährt leise. Der Mann mustert seine Sitznachbarin, ihren fiebrigen Blick hinter den jetzt etwas beschlagenen Brillengläsern. Die Straßenbahn hält an, der Mann steht nicht auf, niemand steigt aus.
«Mir gefällt die verschneite Stadt. Auch vor zwanzig Jahren, als mein Sohn geboren wurde, schneite es, das war im Januar, am 21. Januar 1963, es fiel frostiger, stechender Schneeregen. In diesem Jahr hatte es nicht viel geschneit, es war aber seit Ende November eiskalt, so kalt, wie es nur alle fünfzig Jahre vorkommt, das stand damals in den Zeitungen, wissen Sie», redet die Frau weiter, «und der See war vollkommen zugefroren. Ich bin mit der Straßenbahn kreuz und quer durch die Stadt gefahren, das galt als wehenfördernd. Mein Mann, ein wunderbarer Mann, wissen Sie, wir waren ein perfektes Paar, alle haben uns bewundert …, mein Mann also – jetzt verstehe ich, Sie erinnern mich ein bisschen an meinen Mann –, er versuchte, mich zu beruhigen, ‹keine Bange›, sagte er, ‹sobald es Zeit ist, kommt es von selbst›. Aber ich saß trotzdem von früh bis spät in der Straßenbahn, fuhr an der Seefeldstraße mit der 2 los bis Tiefenbrunnen oder in die andere Richtung bis Stadelhofen und dann mit der 9 weiter bis Milchbuck, oder ich stieg am Bellevue um und fuhr mit der 5 bis Fluntern. Bis mein Sohn schließlich auf die Welt gekommen ist.» Die Frau unterbricht sich. «So, jetzt kommt der Paradeplatz, sehen Sie?», sagt sie und wird auf ihrem Sitz unruhig. Der Mann steht auf, sie steigen aus. Der Platz ist menschenleer, es schneit in dichten Flocken. Die Frau packt den Mann am Ärmel. «Kommen Sie», sagt sie, «die 2 fährt gegenüber. Kennen Sie sich in der Stadt aus? Begleiten Sie mich nur dieses kurze Stück, dann können Sie, wenn Sie wollen, am Bellevue aussteigen und mit der 11 direkt zu ihrer Haltestelle zurückfahren. Haben Sie ein Generalabonnement? Ach, was rede ich da, Sie sind bestimmt Student, ein Generalabonnement wäre zu teuer, haben Sie eine Monatskarte? Oder eine Wochenkarte?» – «Eine Monatskarte», antwortet der Mann, «ich habe vor Kurzem mein Medizinstudium abgeschlossen und gerade die Ausbildung zum Facharzt angefangen.»
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