Neun auf fünftem Platz bedeutet:
Dem Unkraut gegenüber braucht es feste Entschlossenheit.
In der Mitte wandeln bleibt frei von Makel.
Der Mann möchte seiner Wege gehen. Wie lautet die Antwort des I Ging? In der Mitte wandeln, Entschlossenheit. Gehen oder bleiben? Sein Leben findet jetzt in Deutschland statt. Eine Welt, eine weitere, noch einmal eine. Ihm fällt es leicht, in verschiedenen Welten zu leben. Deutschland als einzige Welt treibt ihn in die Enge: Ursache und Wirkung, Schuld und Vergeltung. Aber der Garten, in dem der Mann im Frühjahr Blumen zieht, ist ein deutscher Garten, der Wald, in dem er das Holz für den Winter schlägt, ist ein deutscher Wald. Der Landwirtschaftsbetrieb, in dem er jeden Tag arbeitet, ist ein deutscher Betrieb. Seine Familie ist hier, in dieser Kleinstadt am Rhein.
Oben eine Sechs bedeutet: Kein Ruf!
Bedeutet kein Ruf, dass man sich die Ohren mit Wachs verstopfen soll? Dem Gesang der Sirenen widerstehen? Bevor das Wasser zu sieden beginnt, füllt der Mann erneut die Teekanne, behutsam, als fürchtete er, die Blätter zu versengen. Dann stellt er die Kanne auf eine Steinfliese, daneben seine persönliche Tasse, handgemacht von einer Freundin. Warme Farben von Blau bis Grün, unregelmäßig glasiert. Sie ist unglaublich schön, diese Tasse. Er setzt sich hin. Auf dem Tisch akkurat nebeneinander Wasser und Pinsel, Tuschen und Siegelsteine, Stempel und Spezialpapier.
Sich konzentrieren und dem Ruf widerstehen.
Der Sieg scheint errungen. Vom Bösen ist nur noch ein Rest da, es wäre Zeit, auch diesen zu tilgen. Alles scheint kinderleicht. Aber genau darin liegt die Gefahr. Passt man nicht auf, tarnt sich das Böse und lässt sich nicht mehr fassen. Auch das Böse des eigenen Charakters zu erforschen erfordert gründliche Arbeit.
Der Mann beugt sich über das Heft. Schlägt es auf, blättert mit seinen kräftigen, von der Feldarbeit gezeichneten Fingern die vollgeschriebenen Seiten durch, bis er zur ersten leeren kommt, schreibt dann: «Wir Menschen denken uns ständig neue Fantasien, unglückliche Liebschaften, erlittene Ungerechtigkeiten, Karrieren aus, um danach in Sehnsucht nach anderen Welten zu leben. Unsere Erde ist aber der einzige Zugang zur Schöpfung.»
Auf das Fensterbrett hat sich eine Meise gesetzt. Sollte ich ihr Krümel geben? Nur konkretes Handeln und Verantwortung zählen. Wir schreiten voran. Wir hoffen, dass alles vorüber sein wird, und betrügen uns nur selbst.
Der Mann liest das zweite Hexagramm, die Wandlung.
50. Ding – Der Tiegel
Das Bild des Tiegels legt gleichzeitig den Gedanken der Ernährung nahe.
Neben dem Mann das Porträt des lächelnden Han-Shan, vor ihm ein Fenster, das auf den Fluss und den dunklen Wald dahinter geht. Nun bricht der neue Tag an. Am Horizont ist allmählich eine helle Linie zu erkennen. Sekunden ticken weg. Millionen von Jahren.
Der Mann steht auf, macht ein paar Schritte durch den Raum, atmet tief ein und aus, konzentriert sich auf das Atmen, setzt sich dann wieder an den Tisch. Trinkt einen Schluck Tee und gießt sich noch ein wenig nach. Wo ist sie, die Stimmung harmonievoller Verschmelzung von Himmel und Erde? Die graue Helle des winterlichen Morgenanbruchs macht sich über die Tagebuchseiten her, auf denen für Melancholie und Wut kein Platz ist. «Es gibt nichts Besonderes zu verstehen, aufmerksam zu sein reicht», schreibt er, einen einige Jahre zuvor verstorbenen Freund zitierend.
So ist hier die Kultur gezeigt, wie sie ihren Gipfel in der Religion hat. Der Tiegel dient zum Opfern für Gott. Das höchste Irdische muss dem Göttlichen geopfert werden. Aber das wahrhaft Göttliche zeigt sich nicht abgesondert vom Menschlichen.
Kein Brief. Zweifellos sollte er mit Helene reden. Je mehr Zeit vergeht, umso stärker fühlt der Mann in sich die Verpflichtung, seiner Frau etwas zu erklären, von dem er weiß, dass es sich nicht erklären lässt. Zeit und Gewohnheit haben das schreckliche Schamgefühl, das sie beide nach dem Tod des Mädchens erfasst hat, verstärkt, statt es abzumildern. Er möchte ihr sagen, dass ihre gemeinsame Zeit abgelaufen ist, dass er bald seiner Wege gehen und sich als Einsiedler in die Berge zurückziehen wird, nach China … Aber er zögert: Sobald man sich anschickt, etwas aufzuschreiben oder auszusprechen, entzieht sich einem der Kern des Problems.
Über dem Holz ist Feuer: das Bild des Tiegels.
So festigt der Edle durch Richtigmachung der Stellung das Schicksal.
«Was ich zur Bewahrung der physischen und psychischen Gesundheit unbedingt vermeiden möchte, sind Gefühlsverwicklungen», schreibt der Mann in sein Tagebuch. In meinem Alter ist es unabdingbar, dass man sich auf das Wesentliche konzentriert, auf das, was man dereinst behalten wird, wenn dieser Weg zu Ende ist. Wäre doch nur der Moment schon gekommen, meinen Vorbildern, diesen verrückten alten Chinesen, zu folgen und mich zurückzuziehen. Aber es ist noch zu früh.
Schließlich legt der Mann den Pinsel auf den Stein und trinkt einen Schluck vom inzwischen erkalteten Tee. Will er wirklich alles hinter sich lassen? Auch Helene und ihre würdevolle Trauer? Auch seine Söhne, die ihn jetzt gerade vielleicht nicht brauchen, aber morgen?
«Ob es zum Schluss einen Preis gibt, für’s Lebenswerk?» Natürlich ist es eine biologische Notwendigkeit, Kinder zu beschützen. Darin liegt der ganze Sinn, da zu sein. Und nichts furchtbarer, als an dieser Aufgabe zu scheitern. Der Mann trinkt seinen Tee aus.
Das Holz ist das Schicksal des Feuers; solange es unten vorhanden ist, brennt das Feuer oben.
Ich bin das Holz, sie sind das Feuer: Bleiben. Warum diese Schwierigkeit, eine unendliche Anzahl von Universen zu akzeptieren? Weil wir uns dann noch weniger ernst nehmen würden.
Am Vorabend hat der Mann mit dem amerikanischen Freund, der gerade in Deutschland weilt, getrunken und Haschisch geraucht. Sie haben vom Alter geredet, von Krankheit, Tod. Davon, wie man mit all dem umgeht. «Bestimmte Dinge kann man nicht kaufen: Ruhe, Stille», hat der Freund gesagt. Die Ofenplatte dehnt sich aus, ein Wassertropfen fällt, Wärme macht sich auf seltsame Art bemerkbar. Wind ist aufgekommen.
Der deutsche Mann gibt erneut Tee in die Kanne, setzt sich erneut an den Tisch. Bald muss er los, zur Arbeit.
Der Zen praktizierende deutsche Mann schlürft Tee und sieht aus dem Fenster.
Ostwind, wolkenlose Kälte, endlos scheinendes Blau.
Hotel Samarkand
«Der Kopf ist rund,
damit das Denken die
Richtung wechseln kann.»
Francis Picabia
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