»Ich schätze, das ist Rom«, sagte David spontan. »Komm rein, ich muss dir Steve vorstellen.« »Du bist also meinem Rat gefolgt?«, fragte David. Er blieb stehen und schaute Manuelle in die Augen. »David, ich danke dir für deinen Rat und all die Gespräche, die wir hatten. Schau, was aus all dem geworden ist. Du hattest recht! Lebe dein Leben mit allen Konsequenzen! Aber jetzt komm.« Er zerrte David mit ins Haus. »Wow, das Haus ist wirklich schön«, sagte der. Manuelle packte David an der Hand und zog ihn durch die tanzenden Gäste im Wohnzimmer hinaus in den Garten. Da saß Steve mit ein paar Leuten an einem Gartentisch, mit Stella, die natürlich auf dem Schoß eines anderen saß.
»Steve, ich muss dir jemanden vorstellen. Du wirst es nicht glauben. Weißt du noch, dass wir heute davon gesprochen haben, wie schade es ist, dass David heute nicht mit uns feiern kann. Und hier ist er! David, darf ich dir Steve vorstellen!« Steve schaute David in die Augen, nickte lächelnd. »I guess, this is Rome«, lachte er und umarmte David. »Welcome to our new home.« Es war eine unglaubliche Begegnung nach so vielen Jahren. Sie saßen da und lachten, philosophierten und erzählten sich Geschichten aus der Zeit vor zwölf Jahren. Es dauerte nicht lange, da saß Stella wieder auf Davids Schoß.
Für einen kurzen Augenblick verfiel er in eine seltsame Melancholie. Eine Sehnsucht nach Nähe packte ihn. Er dachte wieder an sie. An seine große Liebe und wie unbeschreiblich glücklich er gewesen war. Das Gefühl, jemanden im Arm zu halten, die Wärme zu spüren, versetzte ihn in einen Moment des Glücks. Unmerklich für die anderen sicher, denn dieses Gefühl kam aus seinem Inneren. Lange hatte er dieses Gefühl nicht mehr gehabt. Jetzt sah er sie wieder vor sich. Wie schön sie war und wie sie ihn zum Lachen brachte. Er erinnerte sich, wie er an seinem Schreibtisch saß und schrieb, während sie im Bett lag und schlief. David erinnerte sich daran, dass ihm die Tränen gekommen waren, weil er so glücklich gewesen war, als er ihr beim Schlafen zusah. Es kam ihm jetzt so vor, als wäre es ein anderes Leben gewesen. ›Wo sie wohl ist?‹, fragte er sich.
Die Nacht war typisch für Rom. Man wusste nie, was passieren würde. David spürte eine gewisse Wehmut in sich. Er wusste nicht, was sie zu bedeuten hatte. Kam sie, weil er spürte, dass er Rom in naher Zukunft wieder verlassen musste, oder weil das Gefühl von Glückseligkeit oft mit einer Spur von Wehmut verbunden ist, denn auch diese ist nicht von Dauer.
»Hast du deine alte Vespa noch?«, fragte David seinen Freund Manuelle. »Na klar. Die steht in der Garage. Ist ja jetzt schon fast ein Youngtimer. Was hältst du davon, wenn wir zur Piazza fahren?« »Was ist mit deinen Gästen?«, fragte David. »Die merken gar nicht, wenn wir weg sind. Steve passt auf Stella auf. Steve lachte: »I don’t move, in three seconds, she is sitting on me anyway!« Es dauerte nicht mal eine Sekunde. Also setzten sie sich auf die Vespa und fuhren durch die Straßen Roms. Für David war es wie in alten Zeiten. Damals fuhr er, Alessia saß hinten drauf und schmiegte sich an ihn.
Wenn David damals nachts nicht schlafen konnte, weil die Stimmen in seinem Kopf zu laut waren, dann setzte er sich auf sein Motorrad und fuhr durch die leeren Straßen. Es dauerte nicht lange, da hörten die Stimmen auf zu sprechen und er fühlte diese Freiheit und den Zauber der Nacht. Leere Straßen, düstere Ecken, flackernde Lichter. Verschiedene Gerüche zogen an ihm vorbei. Es war wie Kino. Manchmal hatte er das Gefühl, als würde die Zeit stehen bleiben, und er raste mit seinem Bike durch die Nacht, als ob er fliegen könnte.
»Hey Manuelle, wie in alten Zeiten«, sagte David zu seinem Freund, als der die Vespa abstellte. Die Piazza war immer noch voller Menschen. »David, lass uns in das Lokal an der Ecke gehen, so wie früher. Weißt du noch die eine … die …« »Oh ja«, sagte David, ging aber nicht näher darauf ein. »Ist sie immer noch da?«, fragte er. »Ja, sie hat jetzt den Besitzer geheiratet.« »Ah, na dann.« Beide lachten. Das Mädchen, das dort bediente, war stadtbekannt.
Eines Abends, damals 2005, waren Manuelle und David nach Feierabend in diese Bar an der Ecke gegangen. Sie war außergewöhnlich, denn man trank Bier aus der Flasche und aß Nüsse, wie in einer Bar in Australien. Das Lokal war immer voll und laut. Sie standen in einer Ecke, als plötzlich dieses Mädchen auf David zukam und ihn einfach küsste und nicht mehr damit aufhörte. David war so überrascht, dass er es zuließ. Dann hörte sie auf, sagte noch »Ciao Bello« und weg war sie wieder. David hatte Manuelle fragend angeschaut und der sagte: »Das macht sie immer so!«
Auch an diesem Abend war das Lokal voll und David erkannte das Mädchen von damals schon von Weitem. Sie hatte sich kaum verändert. Alles schien so zu sein wie vor vielen Jahren. Manuelle kämpfte sich zur Bar durch und wollte gerade eine Flasche Wein bestellen, als David ihm zurief, dass er lieber ein Gingerale mit viel Eis haben wolle. Der verwunderte Blick seines Freundes war ihm nicht entgangen. Sie nahmen sich ihre Getränke und versuchten, eine Ecke zu finden, wo sie ein bisschen mehr Platz hatten. Sie kämpften sich durch das Lokal nach draußen und dann weiter bis ans Ende der Piazza. Dorthin, wo die Blumen- und Zeitungsverkäufer standen. Sie waren froh, dem ganzen Trubel für einen Moment entkommen zu sein. Es war immer noch ziemlich heiß. Sie setzten sich auf eine Treppe des Brunnens und holten erst einmal tief Luft. Sie beobachteten das Treiben auf der Piazza vor ihnen, die Menschen, die an ihnen vorbeiliefen, und saßen schweigend da. David konnte fühlen, wie sehr auch Manuelle diesen Augenblick genoss, einfach nur dazusitzen und nicht zu sprechen. Vielleicht waren es die Bilder vergangener Zeiten, die durch die Köpfe der beiden Freunde gingen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit beendete Manuelle das Schweigen: »Weißt du, ich habe heute Abend mit allem gerechnet, nur nicht mit dir. Ich habe versucht, dich zu kontaktieren, hatte aber kein Glück. Ich habe es lange versucht«, sagte Manuelle. »Das hat sich wohl von selbst erledigt«, erwiderte David. »An der Verbindungsgeschwindigkeit des Universums müssen wir allerdings noch ein bisschen feilen«, meinte Manuelle. Die beiden lachten und nahmen erst einmal einen großen Schluck.
»Für mich ist heute so ein wichtiger Tag, denn mein Wunsch, in Rom mein eigenes Haus zu besitzen, ist in Erfüllung gegangen. Zusammen mit einem Mann, den ich schätze und liebe. Ich kann jetzt so leben, wie ich es mir immer gewünscht habe. Oh Mann, wenn ich daran denke, wie groß meine Zweifel und Ängste waren. Um ein Haar wäre mein Leben so verlaufen wie das vieler anderer unglücklicher Menschen in dieser Stadt. Ich hätte das Leben anderer gelebt und nicht meines. Was für ein Glück. Das habe ich alles dir zu verdanken.«
»Nein, mein Freund, das hast du dir selbst zu verdanken. Du hast deinen Entschluss gefasst und hast dich von deinem Traum nicht abbringen lassen. Mit viel Kraft und Willen hast du es geschafft. Ja! Du hast es geschafft und ich bin wirklich sehr stolz auf dich. Du hast einen harten Weg hinter dir, das ahne ich. Ich habe großen Respekt vor dir, mein Freund. In den zwölf Jahren hast du viel erreicht. Du bist dir treu geblieben. Das ist wundervoll. Du bist nur meinem Rat gefolgt und hast in dich hineingehört. Ich wusste, dass du irgendwann deine innere Stimme hören kannst und ihr folgst. Die Wahrheit war schon immer in dir. Du hast sie nur nicht hören können.«
Es kam David so vor, als würde es Manuelle verlegen machen, aber dann hob er das Glas, schaute ihn an und sagte: »Danke, David!« »Wofür?«, fragte der. »Dass du so plötzlich aufgetaucht bist. Das erste Mal vor zwölf Jahren und heute wieder. An diesem besonderen Tag.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich unglaublich, oder?« »Ich freue mich auch«, sagte David. »Da müssen wir uns wohl bei dem da oben bedanken.
Читать дальше