David wusste damals, wenn er dieses kleine sechs mal zwei Meter große Universum in der Anstalt verlassen wird, dass dann der große Kampf erst anfängt. Dort war er sicher. Doch wenn sich das Tor für ihn öffnen würde, mit dem Koffer in der Hand, die ersten Schritte nach draußen wagend, dann begann ein anderes und sehr einsames Leben.
›Du musstest ein neues Leben beginnen und dich von allem trennen, was dich wieder in die dunklen Gänge der Anstalt bringen könnte. Doch die Versuchung und die Verlockung sind überall. Der Teufel lauert und wartet auf seine nächste Chance. Du läufst in einer Welt herum, die nicht mehr deine ist. Die Welt da draußen war eine fremde geworden. Du hattest Freunde, von denen du dich trennen musst. Du wirst verschwinden müssen. Dort, wo er dich nicht finden kann. Ganz weit weg.
Bist du aber stark genug, dann wartet eine wunderbare Welt auf dich, die du schon lange vergessen hast. Von der du glaubtest, dass es sie gar nicht mehr gibt. Eine Welt, die ehrlich und schön ist. Ohne Angst, Lügen und bösen Versprechungen. Du wirst wieder andere Dinge wahrnehmen können. Du wirst wieder du selbst sein und vielleicht wird deine Hand so ruhig, dass du wieder schreiben kannst. Du brauchst auf jeden Fall einen Ort, der dich glücklich macht – für mich ist es Rom.‹
Für David zählte nur noch der Augenblick. Zeit war für ihn eine Relation, die nicht mehr relevant war. Jeder gelebte Moment in seinem Leben war Glück und einzigartig. Heute konnte er es erkennen. Er hatte gelernt, nur für den nächsten Augenblick zu leben und alles um sich herum aufzunehmen, seinen Geist zu öffnen und wieder Gefühle zuzulassen. Er hatte Angst so zu empfinden, denn es konnte ihm im nächsten Augenblick wieder alles genommen werden. Also hatte er sich in sich selbst zurückgezogen. Jetzt, wo er sich entschieden hatte, ein neues Leben zu leben, war er bereit, er selbst zu sein. Ein großer Schritt für David. Er war bereit, seine Hände aus den Taschen zu nehmen.
Augenscheinlich sind diese Momente Augenblicke! Momentaufnahmen von Situationen, die wie die Realität aussehen. Manchmal aber sind sie nicht das, was sie zu sein scheinen. Denn oft ist das, was du da draußen siehst, nicht das, was es wirklich ist. Was du aber in dir siehst, ist oft nicht das, was da draußen ist. Ich sehe Menschen, die Dinge tun, die mir sagen, dass die Realität nur ihre eigene ist, die sie sich selbst erschaffen. Das ist natürlich leicht, den Dingen so aus dem Weg zu gehen. Konfrontation? Wer will das schon. Wenige. So sind Augenblicke nur Erinnerungen an etwas, was einmal augenscheinlich gewesen ist. Doch wie schön kann man sich eine Welt erschaffen, die für andere groß und voller Inhalt ist, die weise und klug aussieht, die aber zwei Seiten hat. Sie sind alles andere als weise und klug. Damit zu leben ist sicher nicht leicht! Viele können das nicht mehr sehen. David verzweifelte daran. Sie wusste es. Sie schien die Einzige zu sein, die das erkannte. Das war so wundervoll und hatte ihm sehr viel Kraft gegeben und gezeigt, dass er nicht allein war.
Menschen zu lieben und nie die Gelegenheit zu haben, es ihnen zu zeigen, ist schwer. Von Liebenden zurückgewiesen zu werden, weil man nicht so sein kann, wie man ist. Ein guter Sohn zum Beispiel! Alles machte man dafür, zu zeigen, wer man ist, und dass es so auch gut ist, ist noch schwerer. Es tat weh. Auch das trug David in seinem Leben mit sich herum. Bis er eines Tages der Liebe seines Lebens begegnete, die nun in den Armen eines anderen liegt. Was für eine traurig verschwendete Zeit!
Das sind Momente, die werden dir irgendwann wieder klar vor Augen stehen. Und sie werden wehtun. Momente sollte man teilen, mit seinen Liebsten. In diesem Leben, solange man noch Zeit dazu hat. Ich habe in Augen geblickt, die waren so rein und klar, dass es einem unter die Haut geht. Reflektiert von Auge zu Auge, zeigen sie dir die Welt, die voller Liebe und Schönheit ist. Die dich glücklich machen, auch vielleicht nur für einen kurzen Augenblick. Diese Momente sind ein Geschenk! Wachsam sollte man sein. Dankbar für solche Momente. Wie kurz so ein Moment sein kann, habe ich gespürt und erlebt. Das war die schönste Liebe, die ich je erlebt habe! Alles hat seine Zeit, seinen Moment und seinen Augenblick. Die Jahreszeiten und das Leben an sich. Auch wenn es zwischen zwei Menschen still ist, ist dennoch ein Gefühl da. Seinem Leben einen Moment, einen Augenblick der Wahrheit geben und sich besinnen, um dann loszulassen. Der Augenblick des Loslassens ist der Augenblick der Freiheit.
David hätte sich den Blick auf die offensichtliche Wahrheit schon viel früher selbst eingestehen müssen. Denn es war nicht sinnvoll, die Wahrheit eines anderen zu leben. Doch das Loslassen war keine einfache Sache für David. Aber jetzt hatte er eine zweite Chance bekommen.
So eine Nacht wie diese …
»Das Karussell des Lebens drehte sich weiter und nahm David mit auf eine Reise, die er nicht kannte.«
Er wachte auf und merkte, dass die Schatten an der Wand in die Ecke des Raumes gewandert waren. Nur ein kleiner gelber Sonnenstrahl der Nachmittagssonne schien durch eine Ritze der Fensterläden. Er hatte in den Nachmittag hinein geschlafen. Sein Magen knurrte. Er ging zum Kühlschrank und sah, dass schon alles aufgebraucht war. Er wollte aber noch ein paar Sätze schreiben, daher setzte er sich an den kleinen Schreibtisch, legte seine Finger auf die Tasten seines Laptops und hielt einen Augenblick inne. Dann holte er tief Luft und fing an zu schreiben. Er hörte erst auf, als er bemerkte, dass es draußen dunkel geworden war.
Es wurde Zeit, die kleinen Lamellenfensterläden zu öffnen, die er tagsüber geschlossen hatte. David ging zum Fenster und öffnete die Fensterläden. Es war Nacht geworden in Rom. Das war die Zeit, in der die Stadt ihr zweites Gesicht zeigte.
Signora Mazzini von gegenüber holte gerade die Wäsche herein. Die Rituale hatten sich nicht geändert. Das tat sie schon vor vielen Jahren, als David das erste Mal hier war. Sie erkannte ihn nicht, grüßte aber freundlich. Und sie trug wieder das schwarze Kleid. Ihr Mann Enzo war gestorben. David hatte Enzo gekannt und war sehr betroffen. Er konnte sich noch gut an die Gespräche mit ihm erinnern. Er war ein guter Mensch mit einem großen Herzen. Er liebte das Leben, gutes Essen und den Wein. Enzo war ein lustiger und amüsanter Zeitgenosse. Er hatte als Hilfsarbeiter in Deutschland gearbeitet, um seine Familie zu versorgen und seinem Sohn eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Er hatte sogar so viel Geld verdient, dass die Familie es schaffte, die Satellitenstadt vor Napoli zu verlassen. Das gelang nicht jedem. Wer einmal dort gelandet war, schaffte es selten, dort wieder herauszukommen. Enzo hatte es geschafft. Sein Sohn erhielt eine gute Ausbildung und die Familie zog nach Rom. Auch wollte er schon immer in Rom leben. Durch die harte Arbeit in Deutschland jedoch hatte er seinen Körper so geschunden, dass es ihn bald das Leben kostete. David war traurig darüber, dass er ihn nicht mehr sehen konnte, bevor er starb. Einmal hatte er zu David gesagt: »Egal was du tust, das Wichtigste ist die Familie, vergiss das nie, mein Freund!«
David sah den Schmerz in Signora Mazzinis Gesicht. Die Trauer war ein Zustand, der so schmerzhaft war, dass man ihn kaum ertragen konnte. David kannte das nur allzu gut. Frauen sind viel gefasster als Männer, so war Frau Mazzini auch. Sie erledigte ihren Haushalt, als wäre er noch am Leben. Bestimmt hingen noch seine Hemden im Schrank und seine Schuhe standen immer noch an seinem Platz. Doch der Schmerz des Verlustes war so groß, dass ihre Tränen über die Wangen flossen und sicherlich vom Kopfkissen aufgefangen wurden. Ihr Schluchzen war so leise, dass man es kaum hörte. Ihre Hände hielten dabei die Kette mit der heiligen Maria. Und sie wird allein bleiben. Für viele Jahre. Vielleicht wird sie auch allein sterben und sich dann zu ihrem Mann legen.
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