105
Das oben genannte Prinzip der Totalreparation kann durch die Norm des § 254 BGB durchbrochen werden und erlaubt eine Schadensabwägung. Die Haftung des Arztes kann sich im Einzelfall mindern oder ganz entfallen, wenn den Patienten an der Entstehung oder am Umfang des Schadens ein Mitverschulden trifft.[203] „ Ein solches Mitverschulden liegt vor, wenn der Patient diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. “[204] Ein Mitverschulden bei der Schadensentstehung gemäß § 254 Abs. 1 BGB kommt beispielsweise in Betracht, wenn der Patient es unterlassen hat, den Arzt auf besondere, für die Behandlung wesentliche und ihm bekannte Umstände hinzuweisen und diese für den Schaden ursächlich sind[205], der Patient den ärztlichen Hinweis auf die Notwendigkeit einer Kontrolluntersuchung nicht beachtet[206], die ärztlichen Therapie- und Kontrollanweisungen nicht befolgt[207] oder die ihm obliegende Mitwirkung an den Heilungsbemühungen unterlässt[208].
106
Die bisherige außerordentlich zurückhaltende Rechtsprechung bei der Feststellung eines Mitverschuldens des Patienten, weil die Expertenkenntnis der Ärzte überwiege[209], scheint im Rückzug begriffen. Das OLG Frankfurt entschied, dass die Arztseite bei absprachewidriger Entfernung aus Krankenhaus nicht haftet[210].
C. Sonstige Anspruchsgrundlagen im Überblick
107
Im Überblick und ohne Berücksichtigung der vielfältigen Einzelprobleme sollen noch die spezialgesetzlichen Regelungen des AMG, MPG, und des OEG vorgestellt werden.
108
In Bezug auf die Arznei- und die Medizinproduktehaftung sei dabei explizit darauf hingewiesen, dass es sich um eine Haftung für fehlerhafte Produkte handelt. Diese Art der Produkthaftung, für die der pharmazeutische Unternehmer bzw. der Hersteller des Medizinproduktes, einzustehen hat, ist von der Haftung des Arztes zu unterscheiden, der das Arzneimittel oder das Medizinprodukt anwendet. Der Arzt haftet, ohne das weitere Umstände i.S. eines eigenen Fehlverhaltens hinzutreten, nicht für die Anwendung des fehlerhaften Arzneimittels oder Medizinproduktes. Haftet der Arzt selbst, so kommt immer eine gesamtschuldnerische Haftung mit dem Arzneimittelhersteller oder dem Medizinproduktehersteller in Betracht[211].
II. Haftung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG)
109
Vgl. hierzu auch 1. Teil, 3. Kap., Rn. 498.
110
Neben einer zivilrechtlichen Haftung[212] kommt eine Haftung für Schäden im Kontext mit der Anwendung von Arzneimitteln aufgrund der des § 84 AMG in Betracht. In § 84 Abs. 1 S. 1 AMG werden dabei die grundsätzlichen Voraussetzungen für eine Haftung des pharmazeutischen Unternehmers aufgestellt. Abs. 1 S. 2 stellt in seinen Nummern 1 und 2 weitere zusätzliche – zueinander alternative – Haftungsvoraussetzungen auf. Durch den Abs. 2 wird dem Anspruchsteller der Kausalitätsnachweis, durch die Schaffung einer Kausalitätsvermutung, deren Voraussetzungen in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis formuliert wurden, erleichtert. Nach Abs. 3 ist ein Ausschluss der Haftung für die Fälle vorgesehen, in denen die schädliche Wirkung des betreffenden Arzneimittels ihre Ursache nicht im Bereich der Herstellung bzw. Entwicklung hatte.[213]
111
Haftungsobjekt des § 84 AMG sind Humanarzneimittel, welche einer inländischen Zulassungspflicht unterliegen (bzw. von dieser freigestellt wurden), deren Abgabeort im Inland liegt und die inländisch in Verkehr gebracht wurden.
112
Unbedingte Voraussetzung für die Haftung nach § 84 AMG ist die Abgabe des Arzneimittels an einen Verbraucher. Darunter wird derjenige verstanden, an den das Arzneimittel in der Apotheke oder Abgabestelle zur Anwendung ausgehändigt wird. Darauf, dass der das Arzneimittel entgegennehmende Verbraucher dieses selbst anwendet, kommt es nicht an. Verbraucher sind somit auch diejenigen Personen, die das Arzneimittel für einen anderen erwerben.[214]
113
Infolge der Anwendung des Arzneimittels (Kausalitätserfordernis[215] i.S. einer generellen und konkreten Schadenseignung[216]) muss es zu einer Rechtsgutsverletzung der abschließend[217] aufgezählten Rechtsgüter Leben, Körper oder Gesundheit gekommen sein. Zudem muss die Gesundheitsbeeinträchtigung gerade auf der „ Fehlerhaftigkeit “ des Arzneimittels beruhen, wobei sich diese Fehlerhaftigkeit aus § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und Nr. 2 AMG ergibt.[218]
114
Die Kausalitätsvermutung des § 84 Abs. 2 AMG stellt ein verschachteltes Regel-Ausnahme-System dar: Nach Abs. 2 S. 1 muss der Geschädigte darlegen und beweisen, dass das Arzneimittel nach den Umständen des Einzelfalls geeignet ist, den Schaden zu verursachen. Gelingt der Nachweis der konkreten Schadenseignung, wird die Kausalität vermutet. Abs. 2 S. 2 nennt beispielhaft einzelne Umstände, nach denen sich die Schadenseignung beurteilt und fügt schließlich noch einen generalklauselartigen Auffangtatbestand („ allen sonstigen Gegebenheiten “) hinzu. Die Kausalitätsvermutung gilt nach Abs. 2 S. 3 nicht, wenn (mindestens) ein anderer Umstand ebenfalls geeignet ist, den Schaden zu verursachen. Die Kausalitätsvermutung ist dann nicht nur widerlegt; sie „ gilt (erst gar) nicht. Abs. 2 S. 4 enthält eine Ausnahmeregelung für andere Arzneimittel, die den Schaden ebenfalls verursacht haben können. “[219]
115
Nach Abs. 3 ist die Ersatzpflicht ausgeschlossen, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass die schädlichen Wirkungen ihre Ursache nicht im Bereich der Herstellung oder Entwicklung haben.
116
Aktivlegitimiert sind sowohl die Person, die das Arzneimittel eingenommen hat, als auch Sekundärgeschädigte.[220] Passivlegitimiert ist der pharmazeutische Unternehmer (§ 4 Abs. 18 AMG), der das Arzneimittel in Verkehr gebracht (§ 4 Abs. 17 AMG) hat.
117
Der Geschädigte hat die Anwendung des Arzneimittels, die Rechtsgutverletzung, die Abgabe des Arzneimittels im Geltungsbereich des AMG sowie die Bestimmung des Arzneimittels als Humanarzneimittel zu beweisen. Der Beweis der haftungsbegründenden Kausalität wird für den Geschädigten über Abs. 2 erleichtert; wobei die Norm auch das Beweismaß zugunsten des Geschädigten herabsetzt. In Bezug auf Abs. 3 ist der pharmazeutische Unternehmer beweisbelastet.[221]
118
In Bezug auf Inhalt, Art und Umfang enthält das AMG in § 85 AMG eine Regelung zum Mitverschulden, welche auf § 254 BGB verweist, sowie mit § 86 AMG eine Norm zum Umfang der Ersatzpflicht bei Tötung, mit § 88 AMG eine solche zu den Haftungshöchstbeträgen und mit § 89 AMG zur Leistung von Schadensersatz durch eine Geldrente.
III. Haftung für Medizinprodukte
119
Vgl. hierzu auch 1. Teil, 3. Kap., Rn. 578 ff.
120
Das MPG selbst enthält keine haftungsrechtliche Anspruchsgrundlage. Das gilt auch für die Medizinprodukteverordnung (MDR), deren Inkrafttreten allerdings durch die Corona-Pandemie aufgeschoben wurde. Ansprüche gegen den Hersteller eines Medizinproduktes können sich aber aus dem ProdHaftG und aufgrund der Verschuldenshaftung nach dem BGB (Vertrags- und Deliktshaftung) ergeben.[222]
121
Da die zivilrechtliche Haftung bereits angesprochen wurde[223], soll an dieser Stelle nur auf die Haftung für Medizinprodukte nach dem ProdHaftG eingegangen werden.
122
Nach der Haftungsnorm des § 1 Abs. 1 ProdHaftG ist der Hersteller (§ 4 ProdHaftG) des Medizinproduktes (§ 2 ProdHaftG) verpflichtet, Schadensersatz zu leisten, wenn durch den Fehler (§ 3 ProdHaftG; Konstruktions-, Fabrikations-, Instruktionsfehler und Produktbeobachtungspflicht) des Produktes eines der von Abs. 1 abschließend aufgezählten Rechtsgüter verletzt wird und die Haftung nicht nach den § 1 Abs. 2 bzw. Abs. 3 ProdHaftG ausgeschlossen ist.
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