Also fuhr ich zu ihnen nach Interlaken und war sofort hingerissen von der bezaubernden Frau, die ich dort antraf. Ich erinnere mich noch genau an das kurze rote Kleid und den dazu passenden schwarzen Pullover, den Anke an jenem Abend trug. Sergius war noch nicht zu Hause. Nachdem Miggi uns einander vorgestellt hatte, liess sie uns alleine im Wohnzimmer zurück, und wir versuchten, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Mir gefiel, dass sie sich für Pferde interessierte, denn ich war selbst ein ganz passabler Reiter, und so befanden wir uns unversehens mitten in einer angeregten Diskussion. Damals war man im persönlichen Umgang noch sehr formell, und so fragte ich etwas umständlich: ‹Fräulein Langeheine, ich kenne in Bern eine Reitschule. Könnten Sie sich vorstellen, mich einmal dorthin zu begleiten?›
Von nun an fieberte ich jedem Montag entgegen. Es war der Tag, an dem wir uns jeweils in der grossen Halle hinter dem Bahnhof trafen. Auch Anke liess in den Briefen an ihre Mutter durchblicken, dass sich in Bern etwas anbahnte, was ich natürlich erst viel später erfuhr.
An einem düsteren Dezembertag mietete ich für unseren ersten Ausritt Pferde. Und während wir im Bremgartenwald über die frisch verschneiten Wege trabten, zauberten uns die schneeverhangenen Äste ein märchenhaftes Spalier. Plötzlich hatte ich das Bild von Wassilissa, der Hauptfigur im Lieblingsmärchen meiner Kindheit, vor Augen. Von der bösen Stiefmutter und deren Töchtern in den Wald geschickt, musste sie bei der Hexe Babajaga Feuer holen. Am Ende konnte nur ihre Puppe Babuschka sie vor dem sicheren Tod retten. Ich fragte mich, was mir Babuschka wohl bei Anke raten würde und sagte: ‹Fräulein Langeheine‚ beim Ausreiten will es der Brauch, dass man sich gegenseitig duzt. Dürfte ich Ihnen das Du anbieten?› Als echte Hamburgerin war sie über meine Direktheit zwar etwas überrascht, wagte aber auch keinen Einwand vorzubringen. Schon ein wenig vertrauter ritten wir weiter, und zuweilen war mir, als würde zwischen den Bäumen Babajagas Hütte kurz aufscheinen. Auf dem Heimweg kehrten wir dann in diesem Café ein», sagte Niklaus, während er das letzte Stückchen seines Gebäcks auf die Gabel schob. Die ältere Dame mit der weissen Schürze, die uns den Kaffee gebracht hatte, räumte die leeren Teller weg, und ich holte seinen Mantel und seinen Spazierstock aus der Garderobe.
Draussen wirbelte eine leichte Brise über den Asphalt und liess die letzten Blätter an den Bäumen erzittern. Aus der Ferne winkte uns der Apotheker zu. Auf dem Weg Richtung Helvetiaplatz hielten wir immer wieder kurz inne. «Das Jahresende rückte näher», fuhr Niklaus fort, «und bei Anke zu Hause in Hamburg ist es an Weihnachten immer sehr feierlich zu- und hergegangen. Für sie war es das erste Mal, dass sie diese Zeit nicht mit ihrer Familie verbringen konnte, was sie furchtbar traurig machte. Ich bot ihr deshalb an, die Festtage gemeinsam mit mir bei meinen Eltern zu verbringen. Für meine Familie waren die russisch-orthodoxen Weihnachten im Januar das eigentliche Fest, und am 24. Dezember luden wir alleinstehende oder bedürftige Menschen zu uns ein.
Die Kerzen brannten, und das Gold der Ikonen glänzte geheimnisvoll an den dunklen Wänden. In Ankes Augen lag noch immer eine Spur Wehmut, als sie mir half, den Tisch festlich zu schmücken. Meine Mutter Walentina und mein Stiefvater strahlten jedoch an diesem Abend eine solche Heiterkeit aus, dass sie wie alle anderen Gäste ihren Kummer bald gänzlich vergass.
An Silvester waren wir bei meinem Cousin Yura in La Chauxde-Fonds eingeladen, wo stets eine Menge Wodka getrunken wurde. ‹Wir feiern ein russisches Fest›, warnte ich Anke. ‹Pass auf, dass sie dir nicht immer wieder nachschenken, sonst trinken sie dich am Ende noch unter den Tisch.› An der festlichen Tafel ging es, wie bei Yura üblich, hoch zu und her. Anke sass zwischen mir und einem ebenso charmanten wie gut aussehenden Vertreter des russischen Hochadels. Nadeschkin konnte sich an ihr kaum sattsehen, was mir nicht entgangen war. Schliesslich sprach er sie mit vor Leidenschaft funkelnden Augen an: ‹Fräulein Langeheine, ich habe den Eindruck, dass wir uns bald noch sehr viel näher kennenlernen werden.›»
Vor der Kunsthalle unterhielten sich leise drei Männer in eleganten Anzügen, mit hohen, schwarzen Hüten und spitzbärtigen Gesichtern. Niklaus wunderte sich kurz über die fremden Gestalten, die aus einer anderen Zeit zu stammen schienen und von denen ihm die eine seltsam bekannt vorkam.
Bevor wir die Kirchenfeldbrücke überquerten, fuhr er in seiner Erzählung fort: «Zwei Tage später war Bärzelistag. Als ich Anke von der eigentümlichen Überlieferung erzählte, dass Menschen, die in der Nacht vor dem Namenstag Berchtolds das Zeitliche segnen, noch im gleichen Jahr wiedergeboren werden, hörte sie aufmerksam zu. Ich spürte, wie nahe wir uns inzwischen gekommen waren, und so nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und machte ihr einen Heiratsantrag. Der Gedanke an die unglückliche Ehe ihrer Eltern liess sie zögern, und ich musste mich noch eine Weile gedulden, bis von ihr endlich das erlösende Jawort kam. Im Frühjahr 1964 feierten wir unsere Verlobung. Auch meine künftige Schwiegermutter reiste aus Deutschland an, um mich in Augenschein zu nehmen. Ich überreichte ihr einen Blumenstrauss und eine Flasche Champagner und hielt förmlich um die Hand ihrer Tochter an.
Im folgenden Jahr heirateten wir zuerst auf lutherische, dann auf russisch-orthodoxe Art. Während der orthodoxen Zeremonie trugen Anke und ich die traditionellen Kronen. Auf dem Boden lag ein rosafarbenes Seidentuch. Ein alter Brauch besagt, dass derjenige, welcher das Tuch als erster betritt, auch in der Ehe das Zepter in der Hand halten wird, und Anke freute sich darüber, dass ich ihr den Vortritt liess.
Inzwischen hatte sich Anke weitergebildet und war mit dem Aufbau eines Zentrums für cerebralgeschädigte Säuglinge in Freiburg beschäftigt. Sie hatte sich mit grosser Begeisterung in dieses Fachgebiet eingearbeitet und leistete später selbst einen bedeutenden Beitrag dazu.
Endlich war sie angekommen. Der Umzug in die Schweiz war für sie, die aus einer gutbürgerlichen Hamburger Familie stammte, ein regelrechter Kulturschock gewesen. Bei ihrer Ankunft hatte sie das Bild von einem Land im Kopf, in dem Heidi und der Geissenpeter lebten und statt Milch und Honig Schokolade floss. Stattdessen traf sie auf mich und die ganzen russisch-orthodoxen Exilanten und sonderbaren literarischen Bohemiens, von denen ich umgeben war. In Miggis Praxis wiederum wunderte sie sich über die kleingewachsenen, kauzigen Männergestalten, die sie so eigentümlich anstarrten, und einen Knaben, der unter Scheuermann, einer Wachstumsstörung der jugendlichen Wirbelsäule, litt und sie während der ganzen Behandlung mit wildem Blick und offenem Mund beäugte. Als sie Miggi auf diese seltsamen Bergler ansprach, meinte diese nur: ‹Das ist auch der Grund, weshalb die dort oben in Habkern viel zu wenig Frauen haben. Die Weiber laufen ihnen alle davon.›»
Wir überquerten den Casinoplatz und konnten vor uns schon das Kornhaus erkennen. Bei der Tramhaltestelle setzten wir uns auf eine Holzbank. Das hektische Treiben im Stadtzentrum und die rastlosen Menschen im Lärm des Verkehrs kamen mir auf einmal seltsam unbedeutend vor, während ich neben Niklaus sass, der in Gedanken ins Ancien Régime abgetaucht war. In die Welt seiner Ahnen, die ihn seit seiner Kindheit begleiteten und an deren Bildnissen er täglich, auf dem Weg von seinem Schlafzimmer hinunter in die Küche und spätnachmittags die Treppe hoch in die Bibliothek, vorüberging. All diese Porträts waren von Generation zu Generation weitergegeben worden, oder er hatte sie in alten Sammlungen aufgestöbert und an Auktionen ersteigert.
«Ich habe mich immer als Teil der Geschichte verstanden», bemerkte Niklaus. «Hier am Kornhausplatz beispielsweise erwarb Johannes Stäger, der Stammvater unserer Familie, Mitte des 16. Jahrhunderts ein Haus. Der Schneider war erst kurz zuvor aus dem Thurgau nach Bern gekommen. Dass er sich eine Liegenschaft an einer derart prominenten Lage leisten konnte, war nicht selbstverständlich. Und dass sie ihm zugesprochen wurde, zeigt, dass er sich in der Gesellschaft der Bernburger rasch Ansehen verschafft hatte.»
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