Lars Balzer - Gemeinsam zum Erfolg

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Zu Beginn ihrer beruflichen Ausbildung sind junge Menschen mit zahlreichen neuen Herausforderungen konfrontiert: So müssen sie den abrupten Übergang von einem schulischen in einen Arbeitsalltag bewältigen und sind nun plötzlich mit unterschiedlichsten Lernorten und Bezugspersonen konfrontiert. Kommt hinzu, dass viele Jugendliche sich mit dem Schritt ins Erwachsenenalter nicht leichttun. Nicht alle meistern die Klippen ohne grössere Probleme. Einige brauchen besondere Unterstützung, um die gewählte Berufslehre zu schaffen. Andere könnten sich auf Dauer in der Berufslehre unterfordert fühlen. Bei einer dritten Gruppe von Jugendlichen wird rasch absehbar, dass sie die Ausbildung wohl nicht schaffen, dass der gewählte Beruf nicht ihren Vorstellungen entspricht oder dass die Umstände im Lehrbetrieb ungünstig sind. In solchen Fällen besteht Gefahr, dass es über kurz oder lang zu einem Abbruch der Lehre kommt. Eine systematische Früherfassung in den ersten drei Monaten der Berufslehre kann verhindern, dass solche Passungsprobleme allzu lange schwelen. Früherfassung, wie das Autorenteam sie versteht, weist aber auch den Weg zu gezielter Förderung. Das Buch beginnt mit einen Überblick über Bedingungen und Voraussetzungen des Übergangs in die nachobligatorische Ausbildung und führt dann über die Früherfassung und Einzeldiagnostik hin zu Möglichkeiten individueller Förderung. Insbesondere zeigen die Autorinnen und Autoren, welche Massnahmen im Rahmen der beruflichen Grundbildung an den drei Lernorten getroffen werden müssen, um möglichst allen Lernenden zu einem erfolgreichen beruflichen Abschluss zu verhelfen. Durchs ganze Buch begleiten wir Anna, eine junge Frau auf ihrem anspruchsvollen Weg des Lernens, und erfahren, was ihr dabei hilfreich oder hinderlich war.

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Landwehr unterscheidet vier Varianten des Zusammenspiels der Lernorte, die er Koexistenz, Koordination, Kooperation und Integration nennt (Landwehr, 2002, S. 39):

•Koexistenz: Die Lernorte funktionieren als in sich geschlossene Lernsysteme, mit je eigenen Zielvorgaben und eigenem Prüfungswesen; es gibt zeitliche Vorgaben für jeden Lernort, eine inhaltliche Absprache findet indessen nicht statt.

•Koordination: Die Lernorte koexistieren relativ unverbunden nebeneinander. Die Ausbildungskonzepte werden inhaltlich aufeinander abgestimmt. Wechselseitige Information wird sporadisch gepflegt, damit bei Schwierigkeiten gemeinsam Lösungsstrategien entwickelt werden können.

•Kooperation: Die Lernorte verstehen sich als Partner im gemeinsam getragenen Ausbildungsgang. Es gibt grobe inhaltliche Absprachen, die Ausbildungsziele und -schwerpunkte werden gegenseitig offengelegt; die Vermittlung der Inhalte in Theorie und Praxis erfolgt koordiniert. Ein regelmässiger Erfahrungsaustausch ist institutionalisiert.

•Integration: Es existiert eine für alle Lernorte gemeinsame, lernortübergreifende Ausbildungsleitung und ein gemeinsames Ausbildungsprogramm. Das Lernen an den verschiedenen Lernorten orientiert sich an denselben Phasenzielen; in diesem Rahmen werden die konkreten Ausbildungsziele abgesprochen und gemeinsam festgelegt.

Die in → Abschnitt 1.2.1dargestellten aktuellen Formen von Zusammenarbeit zwischen den Lernorten in der Schweiz lassen sich in der Landwehr’schen Definition wohl am besten zwischen Koordination und Kooperation verorten; von der Integration, die es anzustreben gilt, sind wir zumeist noch weit entfernt. Es bleibt zu hoffen, dass hier zukünftige Entwicklungsschwerpunkte gesetzt werden.

1.2.3 Weitere Orientierungspunkte für gute Kooperation

Anregungen für ein von allen Beteiligten getragenes und unterstütztes Zusammenarbeiten in der Begleitung und Förderung von Lernenden finden sich im Verfahren «Schulische Standortgespräche» des Kantons Zürich (Hollenweger & Lienhard, 2009). Dabei werden im Rahmen eines «runden Tisches» regelmässig die Beobachtungen aller am Förderprozess Beteiligten (Schüler/in, Eltern, Lehrpersonen, Fachpersonen) zusammengetragen, gemeinsame Entscheide gefällt und Förderziele definiert. Es handelt sich um ein standardisiertes Verfahren, das zum Ziel hat, durch den Austausch aller Beteiligten ein gemeinsames Problemverständnis zu entwickeln, spezifische Fördermassnahmen für jede Schülerin und jeden Schüler festzulegen, durchzuführen und zu überprüfen. Federführend für das Einberufen und die Organisation eines Standortgespräches ist die Lehrperson. Die Grundidee des Verfahrens der schulischen Standortgespräche lässt sich auf die berufliche Grundbildung übertragen, indem (regelmässige) Gespräche zwischen lernender Person und Ausbildungsverantwortlichen aller Lernorte institutionalisiert werden könnten ( → Kapitel 2.7). Damit wäre ein wichtiger Grundstein für die Lernortkooperation gelegt.

1.3 Ein entwicklungspsychologischer Blick

Die Phase des Eintritts in eine berufliche Grundbildung ist geprägt durch vielfältige Herausforderungen – persönliche Entwicklungsaufgaben und einschneidende Veränderungen im Lebens- und Berufsalltag stehen an. Die folgenden Abschnitte geben einen Einblick, wie junge Menschen die Herausforderungen in dieser Lebensphase angehen und meistern.

1.3.1 Entwicklungsaufgaben im Jugend- und frühen Erwachsenenalter

Das psychologische Konzept der Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (1948) schreibt jeder Lebensphase bestimmte Aufgaben zu, die ein Individuum erfolgreich meistern muss, damit Glück und Erfolg gewährleistet und gesellschaftliche Ablehnung und persönliches Versagen verhindert werden. Die Aufgaben können als kulturell und gesellschaftlich definierte Anforderungen und Erwartungen verstanden werden, denen man sich in bestimmten Lebensphasen stellen muss. Damit ist sowohl eine individuelle, persönliche als auch eine normative, von der Gesellschaft vorgegebene Dimension angesprochen.

In der Zeit des Übergangs von der obligatorischen in die nachobligatorische Ausbildung befinden sich junge Menschen aus entwicklungspsychologischer Perspektive in der Adoleszenz ( 12 bis 18 Jahre) oder im frühen Erwachsenenalter (18 bis 30 Jahre). Wie in Abbildung 1-6 ersichtlich wird, gelten als wichtige Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz die Ablösung von den Eltern, die Identifizierung mit der eigenen Geschlechtsrolle, das Verinnerlichen eines moralischen Bewusstseins sowie die Berufswahl. Die relevanten Entwicklungsaufgaben des frühen Erwachsenenalters beziehen sich hauptsächlich auf die Neuorganisation des sozialen Umfeldes sowie auf den Einstieg in einen Beruf (vgl. ebd.). Die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben führt zu einer Sozialisation der jungen Menschen in unterschiedliche Rollen – Berufsrolle, Partner- oder Familienrolle, Rolle als Mitglied der Gesellschaft usw. Dabei sind hauptsächlich zwei Prozesse bestimmend, die Identitätsentwicklung (Selbstfindung) sowie die Autonomieentwicklung (Eigenständigkeit, Selbstständigkeit).

Identität

Die Neuorientierungen, mit denen junge Menschen in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter konfrontiert werden, führen dazu, dass das bisherige Selbstkonzept infrage gestellt wird. In einem Selbstfindungsprozess werden Ziele, Werte und Überzeugungen definiert, die man für sich als wichtig erachtet und denen man sich verpflichtet fühlt (Flammer & Alsaker, 2011, S. 157). Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit äusseren und privaten Aspekten des Selbstkonzepts – man zeigt gegen aussen nicht immer, wie man wirklich ist und wie man sich fühlt.

Autonomie

Bei der Autonomie geht es in diesem Lebensabschnitt hauptsächlich um ein Neuaushandeln der Beziehungen zu den Eltern, weg von einer abhängigen hin zu einer selbstbestimmten und gleichberechtigten Beziehung. Dies beinhaltet auch, dass junge Menschen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und beispielsweise lernen,

•sich ihre Tageszeit selbst einzuteilen;

•ihr Konsumverhalten dem verfügbaren Geld anzupassen;

•Verlockungen wie beispielsweise Alkohol- oder Drogenkonsum zu widerstehen;

•ihren Umgang mit elektronischen Medien zu regeln usw. (vgl. auch Flammer & Alsaker, 2011, S. 93 ff.).

Abbildung 16 Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz nach Havighurst dargestellt - фото 7

Abbildung 1-6

Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz nach Havighurst – dargestellt unter der Perspektive des Übergangs zwischen Kindheit und frühem Erwachsenenalter (Oerter & ­Montada, 2008, S. 281)

Die vorangehenden Ausführungen zeigen, dass die Zeit des Übergangs an der «ersten Schwelle» für junge Menschen auch aus entwicklungspsychologischer Perspektive mit vielen Veränderungen und Neuorientierungen verbunden ist. Konkrete Hinweise für einen verständnisvollen Umgang mit jungen Menschen in der Phase dieses Übergangs finden sich bei Lauper und De Boni (2012). Für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner ist etwas entwicklungspsychologisches Grundwissen wichtig und hilfreich, damit sie ihre Ausbildungsverantwortung für Lernende professionell wahrnehmen können. Dies trifft insbesondere für die Phase der Früherfassung ( → Kapitel 2) zu, in der es darum geht, die Ausbildungsvoraussetzungen der Lernenden mit den Anforderungen des gewählten Berufes zu vergleichen und darauf aufbauend entsprechende Fördermassnahmen einzuleiten.

1.3.2 Biografien von jungen Menschen im Übergang

Verschiedene Studien liefern uns Erkenntnisse darüber, wie die Situation an der «ersten Schwelle» von jungen Menschen erlebt und bewältigt wird und welche Faktoren dabei mitbestimmend sind. Am Ende dieses Kapitels ist dokumentiert, wie Anna, die junge Frau, die wir in diesem Buch auf ihrem «Weg des Lernens» begleiten, diesen Übergang erlebt hat. Aus einzelnen Studien, wie beispielweise den Forschungsprojekten «Berufswahlprozess bei Jugendlichen» (Herzog, Neuenschwander & Wannack, 2004, 2006) und «Familie-Schule-Beruf (FASE B)» (Neuenschwander et al., 2012) oder aus dem Kinder- und Jugendsurvey «COCON Competence and Context» (Bayard Walpen, 2013), liegen sprachregionale Längsschnittdaten über Bildungsverläufe von Heranwachsenden aus der Schweiz vor, die Berufswahlprozess, Lebensverhältnisse und psychosoziale Entwicklung untersuchen. Die Erkenntnisse aus diesen Studien unterstützen uns dabei, die Lernenden zu verstehen, wenn sie in die berufliche Ausbildung eingetreten sind, und sind deshalb wichtig für die Phase der Früherfassung, wie wir sie in → Kapitel 2beschreiben.

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