1.1.2 Übergang an der «ersten Schwelle»
Transitionsverläufe: Welche Merkmale bestimmen den Übergang?
Leider liegen in der Schweiz bisher keine offiziellen statistischen Angaben vor, die es erlauben, individuelle Verläufe über die Schwellen hinweg zu erfassen. Forschungsergebnisse auf gesamtschweizerischer Ebene liefert die nationale Jugend-Längsschnittstudie TREE.3 Deren Ergebnisse zur Situation an der «ersten Schwelle» zeigen, dass schon im ersten Jahr nach dem Austritt aus der obligatorischen Schule bei vielen Jugendlichen die Ausbildung nicht linear verläuft (vgl. Abb. 1-3). Nur drei Viertel der im Jahr 2000 befragten Jugendlichen schafften einen direkten Übertritt in eine zertifizierende Ausbildung auf Sekundarstufe II (Gymnasium oder Berufsbildung), knapp ein Viertel befand sich in einer schulischen oder praktischen Zwischenlösung oder gar nicht in Ausbildung. Zwei Jahre nach Schulaustritt befanden sich 64 Prozent der Jugendlichen im berufsbildenden Ausbildungsstrang, rund 14 Prozent sind verzögert, nach einer einjährigen Zwischenlösung, in die Berufsbildung eingestiegen. Knapp jede/r Zehnte hat den Einstieg noch nicht vollzogen oder ist wieder ausgestiegen. Drei Jahre nach Schulaustritt waren zwei Drittel der Jugendlichen immer noch in einer beruflichen Ausbildung. Nur rund sechs von zehn Jugendlichen zeigten dabei einen linearen Verlauf, waren also direkt in eine Ausbildung eingestiegen und dort verblieben. Rund vier von zehn Jugendlichen waren verzögert oder gar nicht eingestiegen oder hatten Wechsel vollzogen.
Die TREE-Ergebnisse bestätigen somit, dass nichtlineare, diskontinuierliche Ausbildungsverläufe, geprägt durch Wartezeiten, Unterbrüche und Wechsel, heute fast ebenso häufig auftreten wie der sogenannte Normalverlauf (Hupka, 2003; Keller, Hupka-Brunner & Meyer, 2010).
Bestimmte Merkmale wie Geschlecht und Region, schulische, kulturelle und sozioökonomische Herkunft sowie Lesekompetenz (Letztere gilt als in der TREE-Studie erhobene Leistungsvariable) bestimmen laut den Ergebnissen des Jugendlängsschnitts den Übergang an der «ersten Schwelle» mit (Hupka, 2003):
•Geschlecht: Die Bildungsbeteiligung von jungen Frauen und Männern ist insgesamt gleich hoch, Männer beginnen jedoch häufiger eine Berufsausbildung, Frauen öfter eine allgemeinbildende Ausbildung. Frauen absolvieren deutlich häufiger ein Brückenangebot als Männer.
•Region: Während in der Deutschschweiz ein höherer Anteil der Jugendlichen in eine Berufsausbildung eintritt, absolvieren Jugendliche in der französischen und italienischen Schweiz eher eine allgemeinbildende Ausbildung. In der Deutschschweiz machen zudem mehr Jugendliche Gebrauch von einem Brückenangebot als in den beiden anderen Sprachregionen. In der Romandie ist der Anteil an ausbildungslosen jungen Männern im Vergleich höher. In ländlichen Gebieten orientieren sich die Jugendlichen eher in Richtung Berufsausbildung, in städtischen Gebieten eher in Richtung allgemeinbildender Schulen.
Abbildung 1-3
Nachobligatorische Ausbildungsverläufe (2000–2007), TREE (Keller, Hupka-Brunner & Meyer, 2010, S. 8, adaptiert)
•Schulische Herkunft: Jugendliche, die über einen Sekundarstufe I-Abschluss mit Grundanforderungen verfügen, treten eher in eine Berufsausbildung oder in ein Brückenangebot ein als solche, die die Sekundarstufe I mit erweiterten Anforderungen abgeschlossen haben. Letztere beginnen eher eine allgemeinbildende Ausbildung. Die schulische Herkunft bestimmt also, unabhängig von an der Lesekompetenz gemessenen Leistungsmerkmalen, die Zugangschancen zu einer nachobligatorischen Ausbildung.
•Nationale Herkunft: Während sich die Ausbildungssituation von Schweizer Jugendlichen und ausländischen Jugendlichen der zweiten Generation ein bis zwei Jahre nach Schulaustritt ähnlich gestaltet, befindet sich ein höherer Anteil von ausländischen Jugendlichen der ersten Generation in einem Brückenangebot oder bleibt ohne Ausbildung. Dies trifft insbesondere für Jugendliche der neueren Einwanderungsgebiete zu (z.B. Balkan, Türkei oder Portugal).
•Sozioökonomische Herkunft:4 Jugendliche aus Familien mit tiefem sozioökonomischem Status absolvieren eher eine Berufsausbildung, ein Brückenangebot oder gar keine Ausbildung als Jugendliche aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status. Letztere finden sich eher in einer allgemeinbildenden Ausbildung und weniger häufig in einem Brückenangebot oder in keiner Ausbildung.
•Lesekompetenzen:5 Ein hoher Anteil von Jugendlichen mit tiefen PISA-Lesekompetenzen findet sich in Berufsausbildungen und Brückenangeboten oder absolviert keine Ausbildung, während ein hoher Anteil von Jugendlichen mit hohen Lesekompetenzen eine allgemeinbildende Ausbildung in Angriff nimmt.
Die in → Kapitel 1.1dargelegten Leitlinien von Bund und Kantonen zur Optimierung der «ersten Schwelle» führten zum Projekt «Nahtstelle Sekundarstufe I – Sekundarstufe II», das von 2006 bis 2010 durchgeführt wurde: Um die Zielsetzung eines Abschlusses auf Sekundarstufe II für 95 Prozent aller Personen unter 25 Jahren zu gewährleisten, wurden gemeinsam von Bund, Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt verschiedene Unterstützungsmassnahmen entwickelt und umgesetzt (Galliker, 2011). Dies führte dazu, dass heute das Bild an der «ersten Schwelle» durch eine Vielfalt an Zwischenlösungen und Unterstützungsangeboten, mit besonderem Fokus auf Jugendliche mit schulischen und sozialen Schwierigkeiten, geprägt ist.
Hauptziel dieser Angebote ist die Integration der Jugendlichen in die Berufsbildung. Als wichtigste und wohl bekannteste Massnahme sind hier die verschiedenen kantonalen Brückenangebote zu nennen, die Jugendliche mit individuellen Bildungsdefiziten, denen der direkte Einstieg in eine nachobligatorische Ausbildung nicht gelingt, auf eine berufliche Grundbildung vorbereiten. Als Brückenangebote gelten beispielsweise berufsvorbereitende Schuljahre, Vorlehren und Angebote zur Vermeidung von Jugendarbeitslosigkeit (sogenannte Motivationssemester). Das Case Management Berufsbildung (CM BB) sichert gefährdeten Jugendlichen im Rahmen eines strukturierten Verfahrens mit einer fallführenden Stelle ab der Sekundarstufe I bis zum Abschluss einer Ausbildung auf Sekundarstufe II eine individuelle Unterstützung zu ( → Abschnitt 4.3.1). Diverse kantonale und private Coaching- und Mentoringprojekte bieten zudem eine Begleitung von Jugendlichen bereits während der obligatorischen Schulzeit über die «erste Schwelle» hinweg an. Ziel ist eine Förderung berufsrelevanter und/oder sozialer Kompetenzen sowie Unterstützung im Bewerbungsprozess. Nebst diesen konkreten Unterstützungsangeboten für Jugendliche existiert eine Fülle von weiteren strukturellen Massnahmen zur Optimierung der Nahtstelle, wie beispielsweise der Einsatz von Lehrstellenförderinnen und -förderern, die Schaffung von Lehrbetriebsverbünden oder das Führen eines Lehrstellennachweises (Lena) durch die Kantone (BBT, 2012b).
Selektion durch die Lehrbetriebe
In der dualen – respektive trialen – Berufsausbildung ( → Abschnitt 1.1.3) sind die betrieblichen Berufsbildnerinnen und Berufsbildner die «Türwächter» im Prozess der Lehrlingsselektion (Imdorf, 2007, S. 1). Sie allein bestimmen, ob Bewerberinnen und Bewerber eine Lehrstelle erhalten oder nicht. Eine im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Integration und Ausschluss» (NFP 51) durchgeführte Untersuchung bei 81 für die Selektion verantwortlichen Personen in Klein- und Mittelbetrieben (KMU) hat gezeigt, dass das Vorgehen der KMU-Lehrbetriebe bei der Lehrlingsselektion auf einem Mosaik von verschiedenen Kriterien beruht, die je nach Betrieb ein unterschiedliches Bild ergeben können (Imdorf, 2007). Es lassen sich deshalb keine allgemeingültigen Hauptauswahlkriterien bestimmen. Vielmehr ist für die befragten betrieblichen Berufsbildenden in KMU bei der Auswahl handlungsleitend, dass die auszuwählenden Lernenden in den Betrieb passen, zur betrieblichen Produktion beitragen und den Produktionsprozess nicht beeinträchtigen. Das letztgenannte Kriterium führt zum Beispiel dazu, dass ausländische Jugendliche bei der Lehrlingsselektion diskriminiert werden; die betrieblichen Berufsbildenden gehen offenbar davon aus, dass solche Jugendliche betriebliche Probleme verursachen könnten. Im Gegensatz dazu ist die Selektion in Grossbetrieben eher durch formalisierte Rekrutierungs- und Selektionsabläufe gekennzeichnet, wobei schulische Qualifikationen (besuchter Schultyp und Noten, speziell in Mathematik) und Eignungstests6 eine Filterfunktion für den weiteren Verlauf des Auswahlprozesses erfüllen (Imdorf, 2005).
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