Obwohl sich gesamthaft kein einheitliches Vorgehen feststellen lässt, werden in der Regel in der Lehrlingsselektion die folgenden Unterlagen und Erfahrungen mitberücksichtigt: Schulzeugnisse, Bewerbungsunterlagen und Bewerbungsgespräch, Schnupperlehren und Betriebsbesuche, interne oder externe Eignungstests sowie Gespräche mit Eltern (Stalder, 2000; Imdorf, 2005; Neuenschwander, 2010). Laut einer Studie, bei der 1500 Lehrbetriebe im Kanton Bern befragt wurden, sind Selbst- und Sozialkompetenz, Mathematikkenntnisse sowie handwerkliches Geschick (in den entsprechenden Berufen) ausschlaggebende Kriterien bei der Lehrlingsauswahl (Stalder, 2000). Für die auswählenden betrieblichen Berufsbildenden ist ebenfalls wichtig, dass die Lernenden sich in den Betrieb einfügen können und wollen, dass sie zur Zusammenarbeit fähig sind und traditionelle Arbeitstugenden zeigen, wie Fleiss, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit und Sorgfalt. Damit sind überfachliche Kompetenzen angesprochen, für deren Erfassung im Rahmen der Früherfassung in → Kapitel 2.6das Diagnoseinstrument smK72+ vorgestellt wird.
Bei einer Befragung von 243 betrieblichen Berufsbildenden aus Wirtschaft und Verwaltung, Baugewerbe, Hoch- und Tiefbau sowie Handel in den Kantonen Bern und Luzern wurden als wichtigste Selektionskriterien Selbst- und Sozialkompetenzen der Jugendlichen sowie unentschuldigte Absenzen auf der Sekundarstufe I aufgeführt. Daneben spielen Geschlecht, Nationalität, Schultyp sowie fachspezifische Kompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen eine bedeutende Rolle im Auswahlprozess (Neuenschwander, 2010).
Aufgrund der vorangehenden Ausführungen lässt sich festhalten, dass die für die Ausbildung im Lehrbetrieb verantwortlichen Personen über den Anschluss von Jugendlichen ans Berufsbildungssystem oder ihren Ausschluss bestimmen und somit eine grosse Verantwortung tragen. Um lehrstellensuchenden Jugendlichen ein chancengerechtes Auswahlprozedere zu garantieren, sollten die für die Selektion verantwortlichen Personen ihre Aufgabe ernst nehmen, ihr die gebührende Aufmerksamkeit und Sorgfalt schenken und für faire und transparente Auswahlverfahren sorgen. Eine sorgfältig durchgeführte Selektion kann die Gefahr von Lehrvertragsauflösungen und Lehrabbrüchen vermindern. Dieser Präventionsgedanke ist nicht nur unter einer pädagogischen, sondern auch unter einer ökonomischen Perspektive bedeutsam, weil Vertragsauflösungen zusätzlich zum Rekrutierungsaufwand zu Mehraufwand für die Betriebe führen.
Ein Vergleich der Selektionspraktiken der Betriebe ist allerdings schwierig, weil die jeweiligen Vorgehensweisen sehr unterschiedlich sind und sich nicht an allgemein festgelegten Kriterien orientieren.
1.1.3 Nachobligatorische Bildung: Berufsbildung in der Schweiz
Die Berufsbildung beinhaltet die Bereiche Brückenangebote und berufliche Grundbildung, die auf der Sekundarstufe II angesiedelt sind, den Bereich der höheren Berufsbildung auf Tertiärstufe, in den die eidgenössischen Berufsprüfungen, die eidgenössischen höheren Fachprüfungen sowie die Bildungsgänge an höheren Fachschulen fallen, sowie die berufliche Weiterbildung (vgl. Abb. 1-4, hervorgehoben). Gekennzeichnet ist das System durch klar definierte Bildungsangebote und eine hohe Durchlässigkeit, indem beispielsweise bereits erbrachte Bildungsleistungen beim Besuch weiterführender Ausbildungen angerechnet werden. Ein breites Angebot, das unterschiedliche Fähigkeiten und Bedürfnisse berücksichtigt, sorgt für eine hohe Arbeitsmarktfähigkeit und führt zu einer guten Arbeitsmarktintegration von Personen des gesamten Begabungsspektrums (Hoeckel, Field & Grubb, 2009).
In der Schweiz entscheiden sich jährlich rund zwei Drittel der Schulabgängerinnen und Schulabgänger für eine berufliche Grundbildung (SBFI, 2013a).
Abbildung 1-4
(Berufs-)Bildungssystem Schweiz (SBFI, 2013a, S.5, adaptiert)
Die Berufsbildung ist auf Bundesebene durch das Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Berufsbildung – das Berufsbildungsgesetz (BBG) – sowie durch die Verordnung vom 19. November 2003 über die Berufsbildung – die Berufsbildungsverordnung (BBV) – geregelt. Bund, Kantone und Organisationen der Arbeitswelt setzen sich gemeinsam für eine gut funktionierende Berufsbildung ein.
Die beruflichen Grundbildungen in rund 250 anerkannten Berufen dauern zwischen zwei und vier Jahren und führen die Absolventinnen und Absolventen zu einem Eidgenössischen Berufsattest (EBA, zweijährige Grundbildung) oder einem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ, drei- oder vierjährige Grundbildungen).
Die betrieblich organisierte Form der Grundbildung – Ausbildung in Lehrbetrieb, Berufsfachschule und überbetrieblichen Kursen – ist die verbreitetste Form der beruflichen Grundbildung, wir sprechen vom dualen oder trialen System (SBFI, 2013a; vgl. auch Wettstein & Gonon, 2009, S. 110). Mit «dual» sind die beiden klassischen Lernorte Betrieb und Berufsfachschule angesprochen, mit «trial» darüber hinaus die überbetrieblichen Kurse (üK). Klein- und Mittelbetriebe (KMU) nehmen in der dualen respektive trialen Berufsbildung eine wichtige Rolle ein, werden doch etwas mehr als die Hälfte der Lernenden in Klein- oder Kleinstbetrieben mit weniger als zwanzig Beschäftigten ausgebildet und rund zwei Drittel in Betrieben mit weniger als fünfzig Beschäftigten (Müller & Schweri, 2012, S. 39). Vor allem in der Romandie und im Tessin, in kleinerem Umfang ebenfalls in der Deutschschweiz, existieren aber auch schulisch organisierte Vollzeitausbildungen. Darunter fallen beispielsweise Wirtschafts- und Handelsmittelschulen und Informatikmittelschulen.
Angebot und Nachfrage verfügbarer Ausbildungsplätze (Lehrstellen) sind abhängig von verschiedenen Faktoren – einerseits von ökonomischen Entwicklungen (Bedürfnisse des Arbeitsmarktes, konjunkturelle Schwankungen und Ausbildungsbereitschaft respektive Ausbildungsfähigkeit von Betrieben), andererseits von demografischen Veränderungen und von Interessen und Berufswünschen der Jugendlichen.
Die demografische Entwicklung der letzten Jahre hat dazu geführt, dass sich die Situation auf dem Lehrstellenmarkt geändert hat: So wurde 2013 ein Überhang an Lehrstellen ausgewiesen (SBFI, 2013b), nachdem seit Ende des letzten Jahrhunderts die jährlich wiederkehrende Lehrstellenknappheit dazu geführt hatte, dass nicht genügend Lehrstellen für die an einer beruflichen Ausbildung interessierten Jugendlichen verfügbar waren. Diese aus Sicht der Jugendlichen günstige Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren fortsetzen (BfS, 2012). Trotzdem ist nicht garantiert, dass Jugendliche problemlos ihren Wunschberuf erlernen können.
Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage an Lehrstellen gestaltet sich je nach Branche sehr unterschiedlich. In der «Berufshitparade 2013» der Jugendlichen auf Lehrstellensuche belegten die technischen Berufe, die Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen, im Büro- und Informationswesen sowie die Berufe im Verkauf die ersten Plätze (SBFI, 2013b, S. 72), während Berufe in der Lebensmittelbranche aufgrund der anforderungsreichen Arbeitszeiten oder des Arbeitsumfeldes bei den Jugendlichen weniger beliebt sind und schon seit Längerem Schwierigkeiten mit der Rekrutierung von Nachwuchs haben (Marti, 2010). In bestimmten Berufen zeichnet sich ein Kampf der Ausbildungsverantwortlichen um interessierte (leistungsstarke) Jugendliche ab. Prestigeträchtige Berufe mit hohem Anforderungsniveau7 dürften deshalb weiterhin den leistungsstärksten Jugendlichen vorbehalten sein.
Abbildung 1-5 zeigt Angebot und Nachfrage auf dem Lehrstellenmarkt vom April 2013 im Überblick.
Читать дальше