Er hielt ihrem Blick stand. »Meinen Sie das ernst?«
»Es ist an der Zeit, dass Sie aufhören, sich wie eine Memme zu benehmen, und tun, was sich gehört.«
Er hatte ihr einen der Hauptgründe dafür vorenthalten, warum er seine Angehörigen nicht begraben wollte: Wenn er sich mit den Leichen befasste, erkannte er die Realität all der Tode an – insbesondere Cassidys.
»Warum legen Sie solchen Wert darauf? Ich dachte, Sie wollten sowieso morgen verschwinden.«
Sie zog den Reißverschluss ihrer Lederjacke hinunter und hielt die rechte Seite auf.
Devin machte große Augen, als er den Blutfleck auf dem weißen T-Shirt sah, das unter Tess’ Panzerweste herausragte.
»Oh mein Gott, geht es Ihnen gut?«
»Ja, ich werd’s überleben.«
»Wurden Sie angeschossen?«
»Ja, doch ich habe die Wunde sauber verbunden, nachdem sie versorgt war. In erster Linie brennt es heftig. Ich möchte einfach nur einen Tag irgendwo zur Ruhe kommen.«
Er blickte auf die Schaufel und erhob sich. Dann packte er sie am Griff und sagte: »Suchen wir eine Stelle und bringen es hinter uns.«
Tess klopfte die frisch aufgeschüttete Erde der Gräber von Tom und dessen Familie fest. Nachdem sie dies sorgfältig erledigt hatte, legte Devin einige Spielsachen der Kinder an die Kopfenden; einen großen Plüschhasen für das Mädchen und einen langen, gelben Tonka-Laster für den Jungen.
Als sie endgültig fertig waren, betrachteten die beiden die Erdhaufen. Schließlich sahen sie einander an.
»Möchten Sie etwas sagen?«, fragte Tess.
Devin fand es nur angemessen, ein Gebet zu sprechen. »Sicher.« Er faltete die Hände und senkte den Kopf.
Sie tat es ihm gleich.
»Tom, ich verlor dich nach unserer Kindheit aus den Augen, konnte aber sagen, dass du ein guter Mensch, Vater und Ehemann warst. Ich bedaure, dass dies geschehen ist und du glaubtest, keine andere Wahl zu haben. Wäre ich bloß früher hergekommen, vielleicht hätten wir dann eine bessere Lösung finden können. Egal, ich werde stets an dich und deine liebe Familie denken. Amen.«
Tess hob den Kopf und schaute Devin an. Was er gesagt hatte, beeindruckte sie und kam ihr aufrichtig vor.
»Hoffentlich war das gut«, bemerkte er verlegen.
»Es war wunderbar.«
Lager 13 der Katastrophenschutzbehörde, Region VIII,
50 Meilen östlich des internationalen Flughafens von Denver
Das Verwaltungsgebäude zählte zu einer Reihe teilweise feststehender Einrichtungen. Man erreichte sie nur, nachdem man einen Wust aus Stacheldraht, Sandsäcken und Absperrelementen hinter sich gebracht hatte. Hielt sich Lori vor Augen, wie gut geschützt und bewacht der Verwaltungsbereich und die anderen Gebäude des Lagerpersonals waren, wurde sie das Gefühl nicht los, dass etwas im Argen lag, doch sie verdrängte den Gedanken rasch wieder.
Vasquez führte sie an den üppigen Sicherheitsvorrichtungen vorbei zu ihrem Bestimmungsort, dem Büro der Direktorin für Lagerneueinteilung.
»Warten Sie hier. Gehen Sie nirgendwohin, verstanden?«, schnaubte er.
Sie sah ihn verächtlich an.
Vasquez war schwer zu durchschauen. Viele in Quadrant 4 hielten ihn für arrogant und grausam. Es war nicht so, dass er Aggression gezeigt oder die Menschen gar misshandelt hätte, nur ging ihm jegliches Mitgefühl ab, und er schien sowohl seine Position als auch die Bewohner des Lagers zu hassen.
Jetzt verschwand er über den Korridor.
Lori schaute sich in dem trostlos aussehenden Wartebereich um. Dem Raum fehlte jegliche Ausschmückung; die getäfelten Wände waren einfach stumpf grau gestrichen, und weder die weiße Zwischendecke noch das gelbe Licht der Halogenlampen verbesserten den insgesamt schauderhaften Eindruck, den der Raum hinterließ, was Loris bange Vorahnung noch verschlimmerte.
Neben ihr ging eine Tür auf und eine Frau kam heraus.
»Lori Roberts?«
»Ja.«
»Hi, ich bin Yvonne Foley, Direktorin für Lagerneueinteilung.«
»Hallo«, erwiderte Lori befangen.
»Bitte treten Sie ein und nehmen Sie Platz«, fuhr Yvonne fort, indem sie auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch zeigte.
Lori stand auf, ging an ihr vorbei und setzte sich.
Nachdem die Direktorin die Tür geschlossen hatte, ging sie zu ihrem Sessel und begann: »Ich weiß, Sie fragen sich, warum Sie hier sind.«
»So ist es, das frage ich mich tatsächlich.«
Yvonne ließ sich nieder, klappte einen Registerordner auf und fing an, darin zu blättern.
Lori beugte sich nach vorn und sah ihren Namen auf einem Karteireiter.
»Mrs. Roberts – oder darf ich Sie Lori nennen?«
»Lori ist gut, ja.«
»Danke. Ich mag das, so wirkt es … weniger förmlich.«
Lori war eine findige Architektin, und einer der Gründe dafür, dass sie in ihrem Beruf herausragend war, bestand in ihrem Auge für Details. Sie betrachtete Yvonne, den Schreibtisch und die Umgebung, wobei sie auf Einzelheiten achtete, die sie darauf stoßen mochten, weshalb sie hier war oder was außerhalb des Lagers vor sich ging. Informationen waren wertvoll, zumal niemand genau wusste, was passierte. Auch Yvonnes Kleidung gab ihr vielleicht Hinweise. Der Tisch und das Büro insgesamt entsprachen dem Wartebereich dahin gehend, dass sie bar jeglicher hervorstechender Merkmale oder Farben waren. Der Raum hatte die gleichen tristen Wände und eine weiße Rasterdecke, während das Möbel aus schiefergrauem Metall bestand. Die einheitlichen Mauern waren abgesehen von einer einzelnen Uhr auf einer Seite kahl, und die ließ sich nicht gebrauchen, weil sie die falsche Zeit anzeigte. Neben einem Stapel weiterer Ordner stand eine einsame Lampe auf dem Tisch. Lori fielen aber auch die drei Aktenschränke hinter Yvonne auf; sie konnte sich nur vorstellen, welche Fülle an Informationen sie enthielten.
»Ich komme gleich zur Sache. Heute Morgen erwähnte Lagerkommandant Brockman, dass Camp Sierra expandiert. Das ist eine großartige Neuigkeit für alle, doch wenn etwas größer wird, geht dies auch mit wachsenden Sorgen einher. Wir benötigen im Rahmen dieser Expansion mehr Hilfskräfte, verstehen Sie? Dazu zählen auch Architekten, Fachleute wie Sie.«
Lori schluckte und wartete darauf, das Eine zu hören, von dem sie nie geglaubt hätte, es käme ihr einmal zu Ohren: Die Erlaubnis, von hier wegzuziehen.
»Lori, aus diesen Seiten geht hervor, dass Sie Architektin sind und sogar zum Führungspersonal eines Unternehmens gehörten. Das ist einfach klasse.«
»Sie lassen uns also von hier fort?«
Yvonne blickte von dem Ordner auf und erwiderte: »Uns?«
»Sie haben mich doch herbestellt, um mir zu sagen, dass meine Familie und ich ausgesucht wurden, um nach Camp Sierra zu ziehen, oder?«
»Nein, nein, Ihre Familie wird Sie nicht dorthin begleiten, und überhaupt werden Sie noch nirgendwohin ziehen. Wir schicken Sie zum DIA; dort werden Sie mit einem Team arbeiten, das wir zusammengestellt haben.«
»Das verstehe ich nicht. Was meinen Sie damit, meine Familie wird mich nicht begleiten, und was ist der DIA?«
»Lori, Sie sehen aufgebracht aus. Ich darf Ihnen versichern, alles wird gut werden. Freuen Sie sich; Sie wurden auserwählt, um uns beim Wiederaufbau zu helfen. Das ist eine Riesengelegenheit für Ihre Familie und Sie.«
»Ich kann sie nicht verlassen, verstehen Sie das?«
»Bitte beruhigen Sie sich, es gibt keinen Grund zur Aufregung«, entgegnete Yvonne.
»Was wird hier gespielt? Da ist doch was faul; wohin bringen Sie mich?«
»Mrs. Roberts, glauben Sie mir, alles ist in bester Ordnung. Wir brauchen Fachpersonal wie Sie, um Pläne zur Erweiterung von Camp Sierra zu entwerfen, das ist alles. Das Team, dem wir dieses Projekt anvertrauen, wird an den DIA ausgelagert, das ist die Abkürzung für den internationalen Flughafen von Denver.« Yvonne betonte dies ausdrücklich, aber im ruhigen Tonfall.
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