Am Abend davor war ich nach der vorgeschriebenen Trainingseinheit nicht gleich nach Hause gegangen. („Gesund aus eigenem Antrieb“ war am Programm gestanden; man erzeugt mit eigener Pedalkraft den Strom zum Betrieb eines MultiVisors ®für die Dauer von 45 Minuten. So lange dauerte eine Ausgabe des wichtigsten Health-Magazins „Fit in“, das jed Bürg nachweislich mindestens einmal pro Woche gesehen haben musste.) Nachdem ich mein Gesundheitsziel des Monats eingespeist hatte (Senkung des BMI um 0,4 Punkte) und unter den abschätzigen Blicken der topgestylten 3-Dees mit ihren normvollendeten Körpern (ich hatte mich natürlich mit der kraftsparenden 2-D-Version der Sendung begnügt) im Duschraum verschwunden war, ging mir wieder einmal die Galle über. Ich entwickelte den unwiderstehlichen Drang auf ungefilterten Genuss, verschwand in der Unterstadt und bestellte mir, kaum dass ich in die aromatischen Dünste des Hedon eingetaucht war, eine Portion Curryhuhn und Reis. Wie viele Gesetze ich damit gleichzeitig brach (Essen nach 17.00 Uhr, Fleisch ohne nachweisbare Mangelerscheinung, mindestens ein Dutzend nicht zugelassener Gewürze, frei gewachsenes Gemüse [und damit nicht von VegFood ®genmanipuliert, patentiert und kontrolliert], ...) war mir unbekannt und herzlich egal. Mindestens zwei Minuten lang saß ich in stiller Andacht vor dem Curry und berauschte mich an den aufsteigenden Düften. Dann schob ich eine Gabel Reis in mich hinein und kaute darauf herum, bis der Brei in meinem Mund süßlich geworden war. Den Trick hatte mir eine Chinesin beigebracht: Es bereitete die Geschmacksknospen ideal für die nun folgende Aromaexplosion vor.
Schließlich konnte ich mich nicht länger zurückhalten und spießte eines der Hühnerstücke in der dunkelgelben, cremigen Soße auf. Oh Es im Himmel! Dieser Biss! Diese Konsistenz! Dieses Feeling! Und über allem: diese Soße! Im Hedon machten sie sie mit Butterschmalz, Kokosmilch und etwas Erdnusspaste, allesamt seit den Cholesterin-Aufständen streng verbotene Substanzen. (Nicht ganz korrekt: VegFood ®-Kokosmilch wurde kontingentiert abgegeben, aber irgendwie schafften es die Fuzzis des Multi, auch ihrer Kokosmilch jeglichen Charakter auszutreiben.)
Eine Stunde lang schwebte ich auf Wolke sieben. Sollte ich noch eins draufsetzen? Ein Stückchen von der legendären Baklava des Hedon, die sie stolz als „100 % illegal“ anpriesen? Ein Blick in die Brieftasche nahm mir die Entscheidung ab: konnte ich mir nicht leisten. Von einer Zigarette als Abschluss eines Mahls träumte ich schon gar nicht mehr. Selbst hier, im schönsten und größten Tempel der Indie-Bewegung, gönnte sich so gut wie niemand mehr dieses Vergnügen. Nach dem Erlass des globalen, allumfassenden, jederzeitigen und permanenten Rauchverbots, mit dem die Gesundheitsfaschistoas (22) (22) Über die Frage, ob zuerst das männliche „O“ oder das weibliche „A“ in den geschlechtsneutralen Endungen zu stehen habe, wurde per Volksabstimmung entschieden. Erschienen in der Zeitschrift „Wege“, Frühjahr 2012
sich endgültig als führende Weltmacht etablierten, war der totale Krieg gegen die unerwünschten Drogen ausgerufen worden. Ein Gramm Tabak kostete mittlerweile mehr als ein fürstliches Abendessen, wie ich es gerade zu mir genommen hatte. Seufzend wandte ich den Blick wieder von der exklusiven Raucher-Lounge direkt unter der Decke des Hedon ab, wo sich ein Paar einen der Glimmstängel teilte, und versuchte stattdessen mit einigem Erfolg, den Currygeschmack noch einmal wachzurufen.
Zu den Vorzügen des Hedon gehörte auch, dass es hier noch wildes Wasser zu trinken gab. Sogar kostenlos, wenn man etwas konsumierte. Ich füllte mir beim Hinausgehen eine Flasche davon ab, denn aus den Leitungen der Haushalte floss ausschließlich ©Wate® – garantiert normiert. In diesem Fall bedeutete das geklärt, gereinigt, keimfrei gemacht, destilliert, mit Spurenelementen angereichert, chloriert, jodiert und fluoriert. Wir tranken immer dasselbe Wasser, unendlich oft wiederaufbereitet. Den Aufwand ließ man sich teuer bezahlen. Zuerst hatte man die Wasserrechte privatisiert, aber weil den Betreibern die Gewinnmargen immer noch viel zu gering waren, ersann man eine – selbstverständlich patentrechtlich geschützte – Methode der Wasseraufbereitung. An sich ging es nur ums Geld, aber politisch wurde die Sache mit dem aufkommenden Slogan „garantiert normiert“ an Mensch gebracht. Oder vielmehr an die Gesundheitsfaschistoas, die sich begeistert auf die „Beseitigung des letzten Risikofaktors“ stürzten. Es dauerte schon ein paar Jahre, aber schlussendlich hatte man eine Mehrheit da, wo man sie haben wollte: in Angst vor dem Wasserhahn. Das „wilde Wasser“ geriet zunehmend in Verruf, Monat für Monat wurde es für ein neues Gesundheitsproblem „nachweislich“ verantwortlich gemacht. Mundschutz beim Duschen wurde obligat, ©Wate® kam, erst noch in Flaschen, auf den Markt. Dann wurde die gesamte Wasserversorgung auf das neue Produkt umgestellt und das große Abcashen konnte beginnen. Es war der Traum jed Drogendealings: Alle waren zum ausschließlichen Konsum seinihres Produktes gezwungen – per Verordnung. Natürlich waren die Capoas der Gesundheitsfaschistoas im Geheimen an den ©Wate®-Gewinnen beteiligt, die mit der Einführung der Stimmungs-Wässer in verschiedenfarbigen Flaschen noch einmal explodierten, aber was nützte einem dieses Wissen schon? Die Entwicklung hatte gegen Ende des 20. Jahrhunderts angefangen: Zug um Zug war alles reguliert worden. Für mehr Sicherheit und Gesundheit nahm die von den Marionetten-Medien in Angst gehaltene Bevölkerung in Kauf, dass ihre individuellen Entscheidungsspielräume immer kleiner wurden. Das eigentliche Ziel, die totale Kontrolle aller Lebensbereiche im Interesse der Wirtschaft, wurde erst offenbar, als längst eine Mehrheit die tausenden Gesundheits- und Verhaltensvorschriften unhinterfragt verinnerlicht hatte.
„Bürg Santler!“, meldete sich da meine Kom-Einheit. „Es ist 8.30 Uhr. Zeit für Tätigkeit. Außerordentlicher Tagesordnungspunkt: Erklärung für das gestrige Eintreffen nach der Norm-Heimkehrzeit 22.00 Uhr.“
Ich setzte meinen Helm auf, legte die Prallschutzkleidung an und schnallte die Reflektoren um; das Radfahren zur Arbeit gehörte zu den wenigen Vorschriften, die ich gerne befolgte, auch wenn ich auf das Sicherheits-Brimborium gut hätte verzichten können. Auf dem Weg würde mir schon eine Ausrede einfallen, auch wenn ich alle Credits für nächtliche Aktivitäten in diesem Monat schon verbraucht hatte. Für alle Fälle nahm ich mein wildes Wasser mit, das ich in eine der blauen ©Wate®-Activity-Flaschen umgefüllt hatte. Zum Bestechen des IT-Typen, der an den Personalprotokollen saß, war das weit besser als Geld.
(21) Die radikal geschlechtsneutrale Anrede verdankten wir dem Höhepunkt der Political-Correctness-Ära in den 20er-Jahren. Immerhin musste sich seither niemand mehr mit dem nervigen Binnen-I herumärgern.
(22) Über die Frage, ob zuerst das männliche „O“ oder das weibliche „A“ in den geschlechtsneutralen Endungen zu stehen habe, wurde per Volksabstimmung entschieden.
Erschienen in der Zeitschrift „Wege“, Frühjahr 2012
Das größte Abenteuer überhaupt
Kürzlich wurde in Spanien der Nudismus gesetzlich erlaubt. Was ein Mann in Pamplona zum Anlass nahm, um sein Recht zu kämpfen, nackt durch die Stadt laufen zu dürfen. Er meinte, er sei zuhause unbekleidet und nütze die textilfreien Stunden im Freibad der Stadt, deshalb sehe er nicht ein, wozu er sich für die paar hundert Meter zwischen seinem Domizil und dem örtlichen Pool etwas überziehen müsse. Das Gericht stimmte ihm zu, weshalb der Mittvierziger seit einiger Zeit zweimal wöchentlich durch Pamplona schwingt, ausgerüstet mit dem von Reinhard Fendrich bekannt gemachten Dreiteiler (zwei Schlapfen und eine Sonnenbrille) und dem Gerichtsbescheid.
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