Textbasierte Geschichten oder Phantasiegeschichten
Als Vorlage für ein Storyline -Projekt kann auch ein Buch dienen.5 Der Vorteil liegt auf der Hand: Die Geschichte muss nicht neu erfunden werden und somit erspart man sich Vorbereitungszeit. Als Nachteil könnte sich allerdings die Tatsache erweisen, dass man gedanklich zu sehr auf die „echte“ Geschichte, also den Originaltext, fixiert ist. Dienlich sind in jüngeren Klassen Märchen, auch unbekannte aus anderen Ländern, sowie Phantasiegeschichten, egal ob veröffentlicht (wie Harry Potter ) oder selbst verfasst, aber auch allerlei bildgestützte Geschichten, Bilderbücher oder auch biblische Geschichten. In älteren Klassen bieten sich Texte aus dem Bereich Science Fiction oder der aktuellen Jugendliteratur (z.B. Holes ) an, aber auch Klassiker (z.B. Romeo and Juliet ).
Hinsichtlich der Vorgehensweise bestehen mehrere Möglichkeiten: Eine Geschichte wird im Laufe des Projekts etappenweise vorgelesen oder frei erzählt und von den Lernenden durch Dialoge, Collagen und Nebenhandlungen konkretisiert und dokumentiert. Alternativ kann lediglich der Beginn, ein markanter Ausschnitt oder auch nur das Ende einer Geschichte erzählt, vorgelesen oder per Film bzw. DVD präsentiert werden. Besonders geeignet scheinen für solche Zwecke so genannte dilemma stories zu sein, bei denen die Schülerinnen und Schüler für eine Problemsituation Lösungen finden und gegeneinander abwägen müssen. Des Weiteren können (fingierte) Annoncen, das Abspielen verschiedener Geräusche bzw. eines musikalischen Beitrags oder das Mitbringen eines geheimnisvoll wirkenden Gegenstandes (z.B. eine Flaschenpost oder Handtasche) als Einstieg in eine Phantasiegeschichte dienen, denn diese muss nicht zwangsläufig in Buchform vorliegen und bis zum Schluss als verbindliche Vorlage dienen. In der Regel sind Schülerinnen und Schüler während bzw. nach einer derartigen Storyline motiviert, die ursprüngliche Textvorlage zu rezipieren, um diese mit den eigenen Vorschlägen und Ideen zu vergleichen. Eine gute Möglichkeit also, um Literaturunterricht spannend und schülerorientiert zu gestalten!
Von Zeit zu Zeit kommt unter Kolleginnen und Kollegen die Frage auf, wie viel Phantasie und gestalterische Freiheit bei realitätsbezogenen und landeskundlichen Themen erlaubt seien. Hier kommt es zweifellos auf die Zielsetzung an: Soll schwerpunktmäßig ein landeskundlicher bzw. sachlicher Inhalt vermittelt werden, dann sollte dieser authentisch sein, das heißt, Jahreszahlen, Schauplätze und Ereignisse sollten nicht verändert werden, stattdessen sollte das Thema die Lernenden vielmehr dazu anregen, intensiv zu recherchieren. Wird dagegen ein historisches oder geographisches Ereignis „nur“ als Aufhänger für eine Storyline oder eine Nebenhandlung verwendet, dann kann großzügiger und kreativer verfahren werden.
2.3.2.1.2 Zur Dramaturgie: Einstieg – Zwischenfall – Ende
Der Einstieg entscheidet in der Regel bereits darüber, ob ein Thema akzeptiert und wie ein Storyline -Projekt verlaufen wird, deshalb sollte er bewusst gewählt werden, um die Lernenden für das Thema nachhaltig zu fesseln. Förderlich sind vorantreibende und konkretisierende Fragen wie: “What would you look like if you lived in the 18 thcentury? What kind of clothes would you wear?“ oder “What would your home look like?“ Erfahrungsgemäß sprechen Lernende relativ bald in der Ich-Form, auch wenn sie eine Phantasiegestalt darstellen, was ein Zeichen dafür ist, dass sie engagiert bei der Sache sind ( involvement principle ).
Im Laufe eines Storyline -Projekts werden die Schülerinnen und Schüler durch Dilemmas und unerwartete Zwischenfälle ( incidents ) immer wieder zu kreativen und adäquaten Problemlösungen herausgefordert. Je nach Thema, Alter und Sprachniveau der Lerngruppe bieten sich folgende Vorschläge für zu bewältigende Situationen an:
Eine Person wird krank, kündigt ihren Besuch an oder taucht plötzlich (wieder) auf
Eine Person handelt in nicht nachvollziehbarer Art und Weise: sie verlässt einen Ort, wird kriminell oder anderweitig auffällig
Ein Fest oder eine Veranstaltung soll aus einem bestimmten Grund veranstaltet werden
Ein wichtiger Gegenstand wird verloren, zerstört, gefunden oder gewonnen
Eine Naturkatastrophe oder ein anderes Ereignis zerstört eine Landschaft, einen Bauernhof, einen Zoobereich oder ein Zirkuszelt
Eine Einrichtung soll eröffnet, verkauft oder geschlossen werden
Eine folgenreiche politische Entscheidung wird getroffen
Eine für die Menschheit bedeutsame Erfindung oder Entdeckung wird gemacht
Je nach Inhalt, Art und Struktur einer Geschichte kann diese ein natürliches Ende finden, nämlich dann, wenn der Problemfall gelöst wurde oder wenn die geplante Veranstaltung (z.B. Eröffnung eines fiktiven Jugendzentrums oder eines Museums) endlich stattfinden kann. In anderen Fällen werden externe Expertinnen und Experten zu einem Thema eingeladen, um zu ermöglichen, dass die schülereigenen Vorstellungen mit den tatsächlichen Gegebenheiten verglichen und – falls erforderlich – modifiziert werden können. Hier bieten sich lokale Persönlichkeiten oder auch Vereine an. Eine Expertenrunde kann sich auch aus Kollegium, älteren Klassen, Eltern oder Gästen verschiedenster Einrichtungen zusammensetzen. Im Notfall kann auch auf vertrauenswürdige Websites und E-mailkontakte zurückgegriffen werden.
Auch das Aufsuchen von Expertinnen und Experten im Sinne einer Exkursion bietet sich an. Als mögliche Ziele für Besuche eignen sich ortsansässige Betriebe, öffentliche und private Einrichtungen, geographische oder historische Sehenswürdigkeiten. Mitunter kann auch die Elternschaft oder eine befreundete Klasse als Publikum für eine Aufführung eingeladen werden, um auf diese Art das Projekt abzuschließen und gleichzeitig zu präsentieren. Im Anschluss an jedes Storyline -Projekt sollte zudem eine Reflexion und Evaluation stattfinden, um individuelle Lernprozesse und Lernerfolge bewusst zu machen und diese als Sprungbrett für das weitere Vorgehen verwenden zu können (vgl. Bell/Harkness 2006).
Fazit: Geschichten liefern einen weiten authentischen Rahmen für ganzheitliches und kreatives, soziales und emotionales, inhalts- und problemorientiertes, aufgabenbasiertes und interdisziplinäres, sprachliches und kulturelles Lernen, und sie sprechen darüber hinaus multiple Intelligenzen an (vgl. Gardner 1994; 2002; 2007). Sie ermöglichen eine Vielzahl von authentischen Rede- und Schreibanlässen und fördern somit echte, mitteilungsbezogene Kommunikation. Meine Fallstudien in Teil B sollen zeigen, ob und inwiefern dies alles auch im fremd sprachlichen Klassenzimmer realisierbar ist.
2.3.2.2 Key Questions und deren Funktionen
Wer bin ich? Warum gibt es Kriege? Gibt es einen Gott? Wie kommt es, dass die Sterne nachts leuchten und nicht herunter fallen? Kann man auf dem Mars leben? Solche oder ähnliche Fragen sind typisch für Kinder. Die Geschichte zeigt jedoch, dass auch erwachsene Menschen seit jeher Fragen an ihre bzw. in Bezug auf ihre Existenz und Umgebung stellen. Ohne diese Fragen würden die Geistes-, Human- und Naturwissenschaften vermutlich nicht existieren und sich auch nicht weiterentwickeln können.
Während Kleinkinder, sobald sie sprechen können, ihre Umgebung unermüdlich mit Fragen konfrontieren und unverzüglich befriedigende Antworten verlangen, verliert diese natürliche Art des Lernens mit Hilfe situativ verankerter Fragen im Laufe der Schulzeit leider mehr und mehr an Bedeutung: Fragen von Seiten der Lernenden werden aus Zeitgründen oft nicht oder nur oberflächlich berücksichtigt. Ferner kommt im Fremdsprachenunterricht der Aspekt der erwünschten sprachlichen Korrektheit häufig als erschwerender Faktor hinzu, der die Lernenden einschüchtert und im Laufe der Zeit verstummen lässt (vgl. Kapitel 4.3.2.1 und 4.4.2). Das schulische Frageverfahren ist darüber hinaus meist ein recht unnatürliches und im wahrsten Sinne ein fragwürdiges Unterfangen, das Vos (1992, 1) mit humorvollen Worten charakterisiert: “‘He who asks questions will be a wise man’. (...) It is an old saying. For nowadays we know, that she who asks questions will become wise too. Maybe even wiser. He or she, (...) teachers ask most of the questions. The children provide the answers. That is why a teacher is wiser than children“.
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