Insbesondere Steve Bell und Sallie Harkness ist es durch ihren unermüdlichen Einsatz zu verdanken, dass Storyline heute in zahlreichen Ländern praktiziert wird, dabei jedoch nie als strenges Rezept befolgt, sondern immer den lokalen Gegebenheiten und individuellen Zielsetzungen angepasst wird. In all den Jahren ist ein eng gespanntes Netzwerk aus persönlichen Kontakten entstanden und somit ein idealer Nährboden, um Storyline weiter zu verbreiten. Bell beschreibt diesen Entwicklungsprozess in einem Interview mit mir wie folgt: “First Storyline was adopted in the mother tongue, then it was adapted to special needs“ (Kocher 1997).
Der Storyline Approach wurde jahrelang insbesondere in Skandinavien favorisiert, wo die Schulsysteme, Lehrpläne und Stundenpläne offener sind und die Notengebung bis Klasse 8 meist keine oder zumindest keine große Rolle spielt. Gerade in der Grundschule, die in skandinavischen Ländern in der Regel bis Klasse 8 oder gar 10 dauert, hat Storyline im muttersprachlichen Unterricht gut Fuß gefasst; zwar nie komplett flächendeckend oder gar ausschließlich, was dem Ansatz ohnehin widersprechen würde, aber entschieden mehr als nur punktuell. Da die Lehrkräfte meist mehrere Fächer in einer Klasse unterrichten, können organisatorische Fragen hinsichtlich eines interdisziplinären Unterrichts reduziert werden. Des Weiteren herrscht in Skandinavien im Vergleich zu vielen anderen Ländern viel mehr Flexibilität im Schulalltag und weniger Druck hinsichtlich Leistungsmessung und Prüfungen. Ein ganz wesentlicher Grund für die weite Verbreitung des Storyline -Modells in Skandinavien liegt jedoch in der Tatsache, dass gerade in Skandinavien sehr viel Wert auf Lehrerfortbildung gelegt wird und diese auch gute finanzielle Unterstützung findet. Außerdem ist es in den so genannten teaching teams sehr viel leichter, neue Konzepte auszuprobieren und zu reflektieren. Mit Sorge teilten im Frühjahr 2008 allerdings einige Kolleginnen und Kollegen auf der Nordic Storyline Conference in Göteborg mit, dass die neuen Bildungspläne (auch als Folge der PISA-Studien) zunehmend konservativ ausgerichtet sind und verstärkt wieder traditionelle Vorgehensweisen verlangt werden. Dieser Trend hält offenbar an – nicht nur in Skandinavien – und wurde auch im Rahmen des Golden Circle Seminar 2016 diskutiert.
Es stellt sich die Frage, welche Metamorphosen der Storyline Approach im Laufe der Zeit vollzogen hat. Leider liegen bis zum heutigen Tag außer Erfahrungswerten, Schätzungen und Beobachtungen keine großräumigen empirischen Forschungsergebnisse vor, die anhand von Zahlen und zielgerichteten Untersuchungen belegen könnten, wie und wo sich der Storyline -Ansatz in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt und verbreitet hat und welche Bedingungen förderlich oder hemmend sind. Hier müssten umfassende Studien durchgeführt werden, die neben fachspezifischen Aspekten auch die jeweiligen länderspezifischen Hintergründe (im Sinne der Bildungskultur) beleuchten. Nichtsdestotrotz werden von einzelnen Storyline International 1-Mitgliedern immer wieder kleinere Untersuchungen durchgeführt, wissenschaftlich begleitet und dokumentiert. Interessant und aufschlussreich wäre allerdings, diese im Kontext der internationalen Bildungslandschaft zusammenzutragen, zu systematisieren und miteinander zu vergleichen, um entsprechende Schlussfolgerungen formulieren zu können.
Nachfolgend sollen einige Beispiele ausführlicher erwähnt werden, die belegen, dass Storyline ein vielseitiges und flexibles Konzept darstellt, welches in alle möglichen (und zunächst auch unmöglichen) Bereiche übertragen werden kann und somit der Heterogenität von Lerngruppen jeglicher Art bestens Rechnung trägt. Wo nicht anders angemerkt, wurden die Informationen im Rahmen von diversen Storyline -Tagungen gewonnen, insbesondere aber durch den jahrelangen persönlichen Austausch mit den Mitgliedern von Storyline International .2
Schottland: In Schottland wird der Storyline Approach immer noch fast ausschließlich im muttersprachlichen Unterricht der Grundschulen praktiziert, da dort durch das Klassenlehrerprinzip (im Vergleich zur Sekundarschule) flexiblere Lern- und Lehrbedingungen herrschen. Erstaunlich ist jedoch hinsichtlich des Interesses an Storyline eine immer wiederkehrende Wellenbewegung. Vor einigen Jahren zeichnete sich in schottischen Grundschulen (durch neue gesetzliche Vorgaben der National Guidelines 5 to 14 ) eine neue Entwicklung ab: Von Seiten der Schulverwaltung wurde wieder mehr Wert auf traditionelle Lernergebnisse gelegt, folglich sollten Rechtschreibung und Rechnen verstärkt trainiert werden. Der Storyline Approach bzw. ganzheitliche Lernmethoden generell schienen zu jenem Zeitpunkt für die offizielle Seite wieder an Bedeutung zu verlieren. Steve Bell (2008) illustriert diesen Prozess in seinem so genannten Process-Contents Fork Model , bei dem sich die beiden Extrempunkte „Lerninhalte“ und „Lernprozesse“ – je nach schulpolitischer Situation und curricularer Zielsetzung – einander nähern oder sich voneinander entfernen. Ziel sollte laut Bell sein, dass sich beide Aspekte in Balance befinden.Während in Schottland also zunehmend eine back to the basics -Haltung zu beobachten und das integrative Storyline -Konzept weitgehend aus dem Rampenlicht verdrängt worden war, kann seit etwa 2003/2004, und zwar wieder als Folge von neuen Lehrplanempfehlungen ( Curriculum for Excellence ), ein neues und zunehmendes Interesse an Storyline festgestellt werden. Der Grund für die „Neuentdeckung“ des Storyline Approach liegt offenbar in der Tatsache, dass die National Guidelines 5 to 14 vor allem in den naturwissenschaftlichen und sozialkundlichen Fächern vollkommen überfrachtet waren, viele Lehrkräfte mehr Autonomie verlangten und mittlerweile auch in der Lehrplanentwicklung wieder ein stärkerer Fokus auf Kreativität, Phantasie und Interdisziplinarität gelegt wird. Das neue Motto heißt: “enterprise education“ (vgl. Brownlow 2007).John MacBeath (2007), Director of Leadership for Learning ( The Cambridge Network ) an der Universität Cambridge, begründet “the homecoming of Storyline“ (Ebd., 17) wie folgt:It had not merely survived but been immeasurably enriched, with a new vitality that comes from exposure to other cultures, differing conventions and lifeworlds. (...) Storyline has survived the vagaries of political ideology, not only because you can’t keep a good idea down, but perhaps because it had to go away in order to come back. Perhaps (...) it had to re-invent itself, be tested for its adaptability, resilience and sustainability in other climes (Ebd., 17f.).Im Frühjahr 2015 fand die 6 thInternational Storyline Conference ebenfalls in Glasgow statt, und zwar zu dem Rahmenthema One world – many stories . Im Jahr 2006 veröffentlichten Bell und Harkness ihr erstes gemeinsames Buch über Storyline und mittlerweile gibt es auch diverse Praxismaterialien. All die Jahre zuvor hatten die beiden ganz bewusst auf die praxisbezogene und handlungsorientierte Vermittlung des Konzepts in Kursen und Seminaren ( learning by doing ) Wert gelegt und Publikationen als hinderlich befunden.Steve Bells Tochter Pamela hat 2007 in der Nähe von Glasgow eine Storyline -Schule eröffnet, die 2012 bei einer Schulinspektion durch HMIe sehr gute Bewertungen erhielt (vgl. Adamson 2016). Ich selbst besuchte die Schule 2015 und war sehr beeindruckt. Sallie Harkness (2016) konzipiert in Kooperation mit dem Vogelschutzbund auch spezifische Storyline -Projekte zum Thema „Naturschutz“ ( outdoor learning ).
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