Auf dem Spielplatz wollte sie eben nach der Schaufel eines anderen Kindes greifen; plötzlich besann sie sich, als ob ihr hier die EigentumsfrageEigentum aufginge; sie ließ die Schaufel liegen, sah die Mutter verständnisvoll an und sagte: »Kind«? = Die Schaufel gehört dem Kind, nicht wahr?2
Naturgemäß dominieren leicht verständliche Aufforderungen an den Partner wie:
änte (Hände) |
= Nimm mich auf den Arm |
ssoss |
= Nimm mich auf den Schoß |
nasse |
= Putz mir die Nase3 |
Oft sind es auch von Emotionen bestimmte Hinweise: dida = Da ist die Tick-Tack! Wauwau = Da, sieh doch, mein Wauwau! Überraschung, freudige Bewunderung, Entzücken mischen sich hinein, die Gefühle dominieren. Das BenennenNennfunktion, Benennen kommt erst dann rein zur Geltung, wenn das Kind anfängt, nach den Namen zu fragen, etwa mit der Formel: Isn das?
Von Interesse mag noch sein, dass Hauptwörter als häufigste Wortklasse vorkommen. Einige Kinder verhalten sich aber auch ganz anders. Sie gebrauchen nämlich überwiegend FunktionswörterFunktionswörter wie da, das, ab, an und soziale Routinen wie ja, hallo, danke . Das Normkind ist eine Kunstfigur.4
Helen KellerKeller, Helens Gedankenblitz: das Erlebnis des Bedeutens
Fräulein SullivanSullivan, Anne liest Helen KellerKeller, Helen vor, indem sie die Wortzeichen mit ihrer rechten Hand auf die Innenfläche von Helens rechter Hand tastet.
Die Erkenntnis, daß die Dinge ihren Namen haben, wächst wohl allmählich. Alles Sprechen ist ja von Anfang an in Situationen eingebettet, in denen viele Faktoren zugleich ein Verstehen bewirken. Es läßt sich normalerweise kein Moment festhalten, in dem einem Kind der ZeichencharakterZeichen, anders gesagt: die Darstellungs- oder Nennfunktion von Sprache, offenbar wird.
Wir haben jedoch einen Fall von »wahrhaft gewaltigem Erkenntniswert«, bei dem diese Grunderfahrung des Nennens zu einem einmaligen Aha-Erlebnis zusammengezogen wurde.1 Helen KellerKeller, Helen erblindete und ertaubte mit 19 Monaten. Als sie fast sieben Jahre alt war, kam sie in die Obhut von Anne SullivanSullivan, Anne, einer begabten, gerade 19 Jahre jungen Frau, die selbst leicht sehbehindert war. Den Tag, an dem Anne Sullivan als Hauslehrerin bei den Kellers einzog, bezeichnete Helen später als den wichtigsten Tag in ihrem Leben. Anne Sullivan, ihre geistige Mutter, blieb zeit ihres Lebens Pflegerin, Dolmetscherin und Gesellschafterin von Helen, die sich später als Sozialistin und Pazifistin einen Namen machte und im Dienste von Blindenorganisationen um die Welt reiste. Helen Kellers Die Geschichte meines Lebens ist eigentlich eine Gemeinschaftsproduktion der beiden. (Den Erlös aus der deutschen Übersetzung hat sie den deutschen Kriegsblinden aus dem Ersten Weltkrieg gestiftet. Die Nazis haben ihre Bücher verbrannt – der Dank des Vaterlandes …)
Der Unterricht beginnt, indem ihr Anne eine Puppe schenkt, sie eine Weile damit spielen läßt und ihr dann das Wort Puppe in die Hand buchstabiert. Dabei benutzte sie die Rochester-Methode, bei der das traditionelle Fingeralphabet auf eine Hand konzentriert wird und mit der Taubblindetaubblind auch untereinander kommunizieren können.Lorm, Hieronymus2
Somit ergibt auch ein kurzes Wort wie Puppe ( doll ) ein kompliziertes Muster. Was macht Helen damit? Sie versucht, das Muster nachzumachen, und freut sich, wenn es ihr gelingt. So lernt sie über mehrere Wochen noch viele »Wörter«: Es sind im Grunde nur verschiedene taktile Reizfolgen ohne Bedeutung. Allmählich stellt sich aber eine Gedankenverbindung her, denn ihre Lehrerin buchstabiert ihr das Muster immer nur dann, wenn sie unmittelbar zuvor die Sache selbst berührt hat. Oder: Helen hält den Gegenstand in der einen Hand, und die Zeichen dafür werden ihr in die andere geschrieben. Helen »fragt« sogar schon nach »Wörtern«: wenn sie auf etwas zeigt, dann die Hand ihrer Lehrerin tätschelt, erwartet sie von ihr ein bestimmtes Reizmuster zum Nachmachen. Das in die Hand getippte und gestreichelte Muster gehört irgendwie zum betasteten und erfühlten Gegenstand dazu. Aber sie ist noch nicht zur vollen Klarheit gelangt. Das Reizmuster ist mehr ein Anhängsel als ein Stellvertreter der Sache, noch kein Zeichen für etwas. Manchmal gibt es Ärger. Helen will nicht akzeptieren, daß Anne ihr das gleiche Muster für zwei ganz verschiedene Puppen in die Hand tippt, und wirft die Puppe wütend auf den Boden, wo sie zerschellt.
Schwierigkeiten gibt es auch beim Auseinanderhalten von Becher (mug ), Milch und Trinken. Für Helen fällt das eher in ein Ereignis zusammen. Die Dinge und die damit regelmäßig verbundenen Tätigkeiten sind ungeschieden, sind »AktionsdingeAktionsding«: zum Ball gehört der Kick, zur Puppe das Spielen, zum Kuchen das Aufessen, zur Milch das Trinken. Anfänglich bezeichnen viele Kinderwörter ein solches Erlebnisganzes: quak-quak ist zugleich Ente, Wasser, Teich.
Über das entscheidende Erlebnis berichtet die Lehrerin:
Als ich sie heute früh wusch, wünschte sie die Bezeichnung für Wasser zu erfahren. Wenn sie die Bezeichnung für etwas zu wissen wünscht, so deutet sie darauf und streichelt mir die Hand. Ich buchstabierte ihr w-a-t-e-r in die Hand und dachte bis nach Beendigung des Frühstücks nicht mehr daran. Dann fiel es mir ein, daß ich ihr vielleicht mit Hilfe des neuen Wortes den Unterschied zwischen mug und milk ein- für allemal klarmachen könnte. Wir gingen zu der Pumpe, wo ich Helen ihren Becher unter die Öffnung halten ließ, während ich pumpte. Als das kalte Wasser hervorschoß und den Becher füllte, buchstabierte ich ihr w-a-t-e-r in die Hand. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt da… Sie buchstabierte das Wort water zu verschiedenen Malen. Dann kauerte sie nieder, berührte die Erde und fragte nach deren Namen, ebenso deutete sie auf die Pumpe und auf das Gitter. Dann wandte sie sich plötzlich um und fragte nach meinem Namen. Ich buchstabierte ihr teacher in die Hand.3
Helen selbst schreibt dazu:
Mit einem Male durchzuckte mich eine nebelhaft verschwommene Erinnerung an etwas Vergessenes, ein Blitz des zurückkehrenden Denkens, und einigermaßen offen lag das Geheimnis der Sprache vor mir. Ich wußte jetzt, daß w a t e r jenes wundervolle kühle Etwas bedeutete , das über meine Hand hinströmte.4
Wasser war das ZeichenZeichen, das den Weg zu allen weiteren Wörtern wies. Helen erlebt es wie einen Gedankenblitz. Dennoch kein Blitz aus heiterem Himmel, sondern einer, der sich angekündigt hatte. Es war ein Kulminationspunkt, in dem das, was in wenigen Wochen angebahnt wurde, zusammenkam.
Ich verließ den Brunnen voller Lernbegier. Jedes Ding hatte eine Bezeichnung, und jede Bezeichnung erzeugte einen neuen Gedanken. Als wir in das Haus zurückkehrten, schien mir jeder Gegenstand, den ich berührte, vor verhaltenem Leben zu zittern.5
Normalsinnige Kinder gleiten unmerklich in die Erkenntnis hinein, daß Dinge, Eigenschaften, Tätigkeiten und Vorgänge Namen haben können und daß umgekehrt die Geräusche, die wir mit unserem Mund erzeugen, etwas »bedeuten«. Wenn Kindern dieser natürliche Weg zunächst verwehrt wird, kann dieses Erkennen bewußt erlebt werden. Blitzartig leuchtet die Erkenntnis auf, wird ein Zusammenhang klar. Dieses Erlebnis ist von freudiger Erregung begleitet.
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