Beim Lauterwerb heißt es abwarten, gelegentliches Nachsprechenlassen zeigt das sehr deutlich, wie bei der sprechfreudigen Hilde Stern, die schon Mehrwortsätze kann und sich hier richtig Mühe gibt:
Wir zeigten ihr gestern eine Nelke und nannten den Namen; sie sprach »lenke« nach. Wiederholtes noch so deutliches, fast skandierendes Vorsprechen hatte stets den gleichen Erfolg, ebenso heute. Auch »nalke« und »nolke« wurden »lanke« und »lonke« gesprochen; für »melke« sagte sie »blenke«.
Maria (1;10) nimmt das eben betrachtete und bereits zur Seite gelegte Bilderbuch erneut, schlägt zufällig das Bild eines Kuchens auf, zeigt darauf und äußert zur daneben sitzenden Mutter: |
Maria: |
Das? |
Mutter: |
Hm. |
Maria: |
Puchen. |
Mutter: |
Sag ma Kuchen, k, Kuchen. |
Maria: |
Ne. |
Mutter: |
Kuchen heißt das aber! |
Maria: |
Ne. |
Mutter: |
Ne? |
Maria: |
Puchen heißt das. |
Mutter: |
Naja, da kann man sich streiten.2 |
Hildes Bruder ersetzt die meisten Anfangskonsonanten durch ein h, sagt z.B. »heis« statt »Reis.« Als ihm die Mutter einmal das Wort so recht schnarrend vorspricht: »rrreis«, wiederholt er eifrig »rrr-heis«. Präzise Lautproduktion ist ein schwieriges Geschäft, ihre Perfektionierung kostet einfach Zeit.
Die Reihenfolge bei der Eroberung des Lautsystems ist nachvollziehbar und zu einem Teil biomechanisch erklärbar, denn der normale Weg ist immer vom Einfachen zum Schwierigen. »Puchen« statt »Kuchen« ist eine Vorverlagerung. Der Hinterzungenlaut k wird durch den Lippenlaut p ersetzt. »Boop« statt »Boot« ist eine sog. Harmonisierung oder Lautangleichung: t wird zu p unter dem Einfluß des anlautenden b. Beides sind Lippenlaute, das ganze Wort bleibt somit bilabial. Die eingangs erwähnten Silbenverdoppelungen könnten ein Trick sein, auf einfache Weise zu deutlichen, stabilen Lautungen zu kommen: pieke pieke (Stecknadel), putze putze (Bürste), singe singe (Hilde Stern), wie Wauwau oder Wehweh. Aber genau genommen gibt es nur Wahrscheinlichkeiten, es kann auch etwas anders kommen. Wie bei der kindlichen Entwicklung überhaupt, verläuft beim stufenweisen Lauterwerb nicht alles nach Plan (Vielleicht durchschauen wir auch den Plan der Natur noch nicht gut genug). Ein Kind kann sich mit einem Wort besonders Mühe geben, das ihm Eindruck gemacht hat, und schon ist das schöne Erwerbsschema durchkreuzt. Es gibt für manches Gegenbelege, und doch ist die Entwicklung im Ganzen wieder stimmig. Ein neuer Ansatz versucht nun nicht einfach den Zeitpunkt des Auftretens einzelner Laute zu registrieren, sondern die Lautentwicklung zu den typischen Silbenstrukturen und Betonungsmustern des Deutschen in Beziehung zu setzen und damit die sprachimmanente Entwicklungslogik deutscher Wortkörper durchsichtiger zu machen. Das liest sich wie folgt:
Vereinfachungen wie »Blume« zu »Bume« betreffen Onsetverzweigungen, die der Sonoritätshierarchie entsprechen. Sie deuten daraufhin, dass das Kind noch nicht entdeckt hat, dass der Silbenanlaut im Deutschen entweder einfach oder verzweigend realisiert werden kann. Die Vereinfachungen des Typs »Strand« zu »Rand« sind von einer anderen Qualität. Sie ergeben sich, wenn das Kind die sprachspezifische Option einer Verletzung des Sonoritätsprinzips durch die Bildung eines Appendix im linken Silbenrand in sein parametrisches Repertoire noch nicht aufgenommen hat.3
Das ist beileibe kein Unsinn und auch nicht unnötig kompliziert gesagt. Es bedarf einfach Spezialwissens, das wir hier nicht darlegen können, um diese Vorgänge zu verstehen. Das Zitat führt uns eindrücklich vor Augen, dass schon die LautentwicklungLautentwicklung und Wortbildung eine Riesenaufgabe darstellt. Ein Beispiel: Der MIT-Forscher Deb Roy und sein Team verkabelte sein ganzes Haus und stattete es mit Videokameras aus, um den Spracherwerb seines Sohnes möglichst lückenlos (!) zu dokumentieren. Drei Jahre lang wurden täglich acht bis zehn Stunden Ton- und Bildmaterial aufgenommen, insgesamt 90.000 Stunden, eine riesige Datenmenge. Er konnte so u.a. zusammenstellen, wie im Laufe eines halben Jahres aus ursprünglich »gaga« (kurz nach seinem ersten Geburtstag) schließlich die korrekte Lautfolge »water« wurde. Alle Vorkommnisse wurden eingefangen: »Gagagagaga Gaga gaga gaga guga guga guga wada gaga gaga guga gaga wadö guga guga uata wata wata wata wata wata water water water«.4
Die ArtikulationArtikulation ist eine Aufgabe, die sich die Kinder selbst organisieren, besser, als es jeder Betreuer vermöchte. Jahrelang wird hier unablässig gelernt, aber wir haben das vergessen. Denn wenn wir erst einmal wissen, was wir mit welchen Wörtern sagen wollen, bilden sich diese in uns wie von selbst, und wir brauchen uns nicht mehr um sie bemühen. Wir zeigen im nächsten Kapitel, daß gerade das reifende, sich noch entwickelnde Gehirn optimal dafür geeignet ist, sich das hier zu Leistende in kleine Lernschritte aufzuteilen.
Manche Eltern betrachten es liebevoll als ersten Streich ihres kleinen Schelms, wenn Wa(u)wa(u) oder Auto klar vor Mama und Papa durchs Ziel gehen. DarwinsDarwin, Charles Sohn William (»Doddy«) produzierte mit zwölf Monaten als erstes Wort mum , wenn er etwas zu essen haben wollte; bei Hans wurden als erste Wörter mm und da , im Alter von 1;1, notiert:
Denn so oft ein Wagen vorüberfährt, von dem er nur das Geräusch hört, ohne ihn zu sehen, meldet er ihn mit einem lang ausgehaltenen mm an, welche Beschäftigung er auch gerade treiben mag … Sein mm kann schwerlich als eine bloße Schallnachahmung angesehen werden, sondern soll offenbar so viel bedeuten als »Jetzt kommt ein Wagen« oder »Ich höre einen Wagen kommen« und ähnliches.1
Etwa zur selben Zeit gebraucht er da und Varianten wie dat, dada, ded, de. Dies wurde in den folgenden Wochen die am meisten gehörte Lautfolge; denn jede Wahrnehmung des Kindes und jeder Gegenstand, der sein Interesse erregte, wurde mit einem da oder dat bezeichnet. Gemeinhin kommt auch »nein« sehr früh, ist es doch für Kleinkinder viel wichtiger als »ja«!
Gegenbeispiele: »Erst kurz vor Weihnachten kommen die ersten Worte und zwar sonderbarerweise ›Wust‹ (=Wurst) und ›Bod‹ (=Brot). Papa und Mama folgen erst nach einiger Zeit«, schreibt Katja Mann über ihren achtzehn Monate alten Golo.2 Ein Vater hat bei seiner Tochter als erstes ein Wort notiert, das eigentlich aus zwei besteht: i(ch) au(ch)! Sie hatte zwei ältere Brüder und mußte sich ihnen gegenüber behaupten. Tabea gebrauchte ihr erstes Wort um ihren ersten Geburtstag herum. Ihr Vater hatte sie unter die Arme gefaßt, läuft mit ihr durch die Wohnung und dirigiert dabei ihre Beine so, daß sie einen Ball kickt. Dabei macht er einen Mordsspektakel: »Da kommt die Flanke von rechts, sie müßte schießen, schießt auch, Tor, Tooor!« Und die Erregung teilt sich dem Kind mit, sie fällt mit ihrem dünnen Stimmchen ein: Tor! War das nun das erste Wort? Klar, denn am nächsten Morgen kommt sie ins Zimmer, sieht den Ball und artikuliert noch einmal erkennbar: Tor! Das hat schon etwas wie Bedeutung, ist eine Verknüpfung von Silbe und Situation und eine Verschmelzung von Gegenstand und Handlung, ein »AktionsdingAktionsding«.
Manchmal folgt eine Pause von mehreren Monaten, in der die Kinder nur mit einem Wort (und seinen Lautvarianten) operieren, bis sie dem ersten ein neues hinzufügen und weitere Einwortsätze äußern. Sie lassen es hier also langsam angehen. Diese Phase der Einwortsätze dauert dann im Durchschnitt ein halbes Jahr; die Schwankungsbreite liegt zwischen vier Monaten und einem ganzen Jahr. Es gibt Kinder mit normaler Sprachentwicklung, die schon als Einjährige oder sogar kurz davor ihr erstes Wort äußern, und solche, die erst gegen Ende des zweiten Lebensjahres anfangen, dann aber schnell vorankommen. Die Spannbreite dessen, was als ganz normal gelten muß, ist groß, sowohl was den Sprechbeginn als auch Entwicklungstempo und -verlauf (große Sprünge, kleine Schritte…) angeht. Es kommt auch vor, daß einige Erstlingswörter zeitweilig wieder aufgegeben werden, wenn Kinder etwa das zuvor erworbene Mama fallen lassen und Papa für beide Eltern verwenden.3 Schließlich gibt es eher »geschwätzige« Kinder, die schon bald lange, dafür aber oft kaum verständliche Äußerungen tun, und wortkarge, die sich anfangs mit wenigen, gut erkennbaren Silben begnügen.
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