Greifen wir zeitlich ein wenig vor und schauen wir uns Kinder zwischen eineinhalb und zwei Jahren an. In verschiedenen, geschickt gestellten Situationen – wiederum in Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit – konnte man zeigen, wie wichtig es für den Spracherwerb ist, daß die Dialogpartner sich wechselseitig als absichtsvoll Handelnde erleben. Hier nur zwei Beispiele TomasellosTomasello, Michael, die den Zusammenhang mit dem Worterwerb belegen.
Ein Erwachsener gibt vor, »das Toma« zu suchen. Er sucht dann in einer Reihe von Eimern, die alle neuartige, vom Kind noch nicht benannte Dinge enthalten. Unpassende Gegenstände schaut er schief an und legt sie wieder zurück, bis er den richtigen Gegenstand gefunden hat, was durch ein Lächeln quittiert wird und die Suche beendet. Egal, ob und wie viele Dinge verworfen wurden, die Kinder lernten das Wort »Toma« richtig zu verwenden.
In einer anderen Situation bedeutete jemand dem Kind, er wolle nun Mickey Maus »daxen«, und tat darauf etwas wie zufällig und etwas anderes absichtlich. Die Kinder ließen sich nicht beirren, sie lernten das Wort »daxen« für die absichtliche, nicht die zufällige Handlung, und zwar unabhängig davon, welche Handlung zuerst vollzogen wurde.
Es ist bei näherer Analyse ziemlich schwierig, neu auftauchende Wörter aus dem Handlungs- und Redefluß herauszuklauben und richtig zuzuordnen. Kinder haben ein detektivisches Gespür dafür, weil sie ein tiefes und flexibles Verständnis anderer als zielbezogen Handelnde entwickelt haben – und zwar in den schon genannten routinemäßigen Situationen, die sie von Anfang bis Ende auch ohne Sprache durchschauen. Sprache braucht diese BodenhaftungSpracheBodenhaftung der Sprache, weil Wörter sehr beweglich sind und sich auf Unterschiedliches beziehen können. Das gilt ja nicht nur für die »Wechselwörter« wie ich, du, er usw. Gisas Foxi ist längst nicht immer »Foxi«, sondern kann auch »dein Plüschtier«, »dein Kuschelhündchen« oder »dein Liebling« sein. Umgekehrt ist sie selbst Mamas »Liebling«. Um hier klarzukommen, bedarf es zunächst externer Stützen sich gleich bleibender Situationen und die richtige Deutung der kommunikativen Absichten der Beteiligten.
Um die Mitte des zweiten Lebensjahres ist das Kind auch in anderer Hinsicht weiter gekommen. Wie wir gesehen haben, ist dies die Zeit, wenn Kinder sich im Spiegel wiedererkennen. Genau um diese Zeit kann man auch die umgekehrte Reihenfolge von Zeigegeste und Blick hin zum Partner beobachten. Der Blick geht zuerst zur Mutter, um so zu erkunden, ob sie überhaupt informiert ist über das Neue und Interessante. Das Kind versucht also seinerseits, ihre Aufmerksamkeit zu lenken, und setzt ihr seelisch-geistiges Einssein, gewissermaßen ihre Allwissenheit nicht mehr voraus. Aus dem »Wir wissen« kann jetzt ein »Ich weiß etwas« und »Du weißt es vielleicht noch nicht« werden. Schaut sie auch tatsächlich hin und sieht, worauf es jetzt schaut oder was es jetzt tut? Jetzt erst wird die Mutter ganz als separates Du wahrgenommen, die ja etwas anderes im Blick und im Sinn haben könnte, und das geschieht etwa gleichzeitig mit dem Wiedererkennen im SpiegelSpiegelbild und den ersten EmpathieregungenEinfühlungsvermögen (Empathie), im Alter von 16–18 Monaten. Dann blicken sie auch hinter sich, um nachzuschauen, ob die Mutter direkt hinter ihnen etwas anschaut. Bischof sieht hier eine präzise zeitliche Koppelung, die aufdämmernde Ahnung, daß es ein Selbst gibt und ein separates Du: die Auflösung der seelischen Mutter-Kind-Symbiose.6
Leistet das Kind das meiste, weil es so gut auf die Eltern zu hören versteht? Oder gelingt die Nachahmung nur so gut, weil die Eltern sich so gut auf das Kind einstellen?
Die Initiative geht von der Mutter aus. Sie ist auf die Rolle der Spielleiterin abonniert und hält das Spiel in Gang. Sie ist nicht die bloße Assistentin des Kindes; sie ist die treibende Kraft. Es dauert eine ganze Weile, bis das Kind sich so gründlich auskennt, daß es selbst zum Ausführenden wird, der das Spiel steuert. So übernimmt es eindeutig die Hauptrolle wohl erst, wenn es im dritten Lebensjahr damit beginnt, sich die Grammatik zusammenzureimen – eine Aufgabe, bei der die Eltern weit weniger Hilfe leisten können (auch wenn sie wollten). Erst dann gilt PinkersPinker, Steven Satz, daß Kinder »das größte Verdienst an der von ihnen erworbenen Sprache« besäßen.1
Wie Eltern ihr Verhalten den Lernfortschritten ihrer Babys anpassen, kann man u.a. auch damit belegen, daß in den ersten Monaten nur 10 % der Mütter Kinderwörter wie hamham, wauwau, gagack gebrauchten. Dieser Anteil stieg zwischen dem 7. und 15. Monat auf 66 %.2 In dieser Zeit des SilbenplappernsSilbenplappern können die Babys eben viel mehr damit anfangen. Es sind Wörter, die zu ihrem Lautrepertoire passen und die sie bald übernehmen können.
Nicht alle Eltern setzen alle hier erwähnten pädagogischen Tricks ein, ohne daß sprachliche Verzögerungen aufträten. Offenbar hat die Natur ein so reichhaltiges Repertoire angelegt, daß auch mal etwas fehlen kann.
Was bringt nun das Baby in diese Situation ein? Es antwortet mit heranreifenden fertigen Verhaltensweisen: dem Lächeln, dem Weinen, dem Lachen, dem Ausdrücken von Unmut oder Ablehnung. Sie kommen in allen Kulturen vor. Mehr noch: Sie treten auch bei taubblindtaubblind geborenen Kindern auf, den »Kindern der Nacht und der Stille«, die Klang und Mienenspiel niemandem abgucken und ablauschen können.3 Denn solche Ausdrucksbewegungen »sind die erste Muttersprache der Kinder, welche Mutter Natur selbst sie gelehrt hat«, wußte schon Joachim Heinrich CampeCampe, Joachim Heinrich.4 Der Säugling tut so seine Gemütslagen kund, welche die Eltern auf Anhieb verstehen und als Ansatzpunkt für einen kommunikativen Austausch benutzen. Sie sind das Pack-Ende für ihre Führungskunst.
Gehörlose Kinder fangen zu lallen an wie gesund geborene Kinder. Mit ungefähr sechs Monaten gehen die Lautierungen jedoch stark zurück. Je nach Resthörvermögen und Hörgeräteversorgung gelangen sie auch zum Silbenplappern, jedoch später als gesundgeborene Kinder und nicht in so deutlich auf Sprache hinzielender Ausprägung. Die wohlgeformten, am sprachlichen Input orientierten Silben, die sie ja gar nicht vernehmen, können sie auch nicht produzieren. Es ist, als ob auch diese kleinen Wesen mit ihrem Gebrabbel eine Frage an die Welt wie auch an sich selbst richten und auf Antworten warten, die jedoch nicht kommen. Weder hören sie ihre Eltern, noch hören sie sich selbst. Diese Antworten brauchen sie aber, um weiterfragen zu können.
Kindliche Ausdrucksbewegungen, kategoriales Hören, Lallen und Plappern bilden den genetischen HebelSpracheGenetische Doppelsicherung, an dem die Eltern ansetzen. Auf der einen Seite: angeborene Ausdrucksformen und die Spontaneität des stimmlichen Spielens und Brabbelns. Auf der anderen Seite: ständige Ansprache, ständiger Zuspruch. So konvergiert der Sprachtrieb des Kindes mit dem Bemühen der Eltern. Sprechen ist – auf beiden Seiten – eine aus den Tiefen der Persönlichkeit hervorbrechende Betätigung. Erst die Konvergenz – das Zusammenspiel – ermöglicht den Erwerb der Sprache.5
Ständiger Wechsel in der Regieführung
Selbstthätigkeit – o merkt euch diese für die ganze Erziehung so überaus wichtige Wahrheit! – Selbstthätigkeit allein übt, stärkt und entwickelt die geistigen wie die körperlichen Kräfte des Kindes.
(Joachim Heinrich CampeCampe, Joachim Heinrich 1785)
Eine Spielsituation, die viele Mütter inszenieren, ist das Vorzeigen, das anschließende Verschwindenlassen: Ja, wo ist denn jetzt das Häschen? und Wiederhervorzaubern eines Gegenstandes. Das emphatische Da isses! wird vom Kind mit einem Jauchzer quittiert. Das Spiel ist beendet und kann von neuem anfangen. Im Laufe der Zeit ergeben sich charakteristische Veränderungen, die sich am Lernfortschritt des Kindes orientieren und schließlich in die Übergabe des Taktstocks an das Kind einmünden. Wieder wird die grundgescheite elterliche Pädagogik erkennbar.
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