Teresas mystischer Weg steht und fällt mit ihrer Praxis des inneren Betens. Es wurde schon erwähnt, dass dies ein Trend in der spätmittelalterlichen Spiritualität war und als die bessere Gebetsart betrachtet wurde. Marcel Bataillon schrieb, dass ganz Spanien „im Banne des inneren Betens“1 stand. Die scholastischen Theologen und die Inquisition gingen dagegen vor, am deutlichsten etwa der Dominikaner Melchor Cano in seinem Gutachten von 1559 über den Katechismus-Kommentar seines Mitbruders Bartolomé Carranza, der das innere Beten der Laien befürwortete. Für Cano hingegen sollte das gemeine Volk Martha sein und nicht versuchen, es Maria nachzumachen. Wer die allgemeine Berufung zur Vollkommenheit der Laien in der Welt ohne die evangelischen Räte verkünde, der, so Cano mit beißender Ironie, wisse mehr als Christus, der gesagt habe „geh, verkaufe, was du hast […] (Mk 10,21)“, und nicht „geh und bete innerlich im Geiste (vade et ora mentaliter)“. Ein solcher Theologe sei „ein Zerstörer des Ordenslebens und ein Volksbetrüger“.2
Carranzas Meinung, dem Volk zumindest Teile der Bibel wie die Evangelien und die Episteln in der Volkssprache zu geben, wird von Cano als „unklug und gefährlich“ eingestuft, denn das werde in Spanien zu ähnlichen Zuständen wie in Deutschland führen. Vielmehr sollte man davon ausgehen, dass die Bibel nicht für „Zimmermannsfrauen“ geschrieben worden sei: „[A]uch wenn die Frauen mit unersättlichem Appetit danach verlangen, von dieser Frucht zu essen, ist es nötig, sie zu verbieten und ein Feuermesser davor zu stellen, damit das Volk nicht zu ihr gelangen könne.“3
Unter diesem Misstrauen ging Teresa ihren Weg des inneren Betens. Sie definiert es „als Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt“ (V 8,5). Damit meint sie, dass wir nicht vergessen, was der Herr aus Liebe „für uns“ auf sich genommen hat, und dass wir ihm nicht zuletzt im Ölgarten „Gesellschaft“ leisten als Ausdruck unserer Freundschaft. Inneres Beten ist also nichts Anderes als „Freundschaftspflege“ im Bewusstsein der Verwandtschaft (Freundschaft) und des Unterschiedes zwischen Gott und Mensch. Das ist es, was sie mit der berühmten Stelle am Anfang der Wohnungen der Inneren Burg meint: „Denn ein Beten, das nicht darauf achtet, mit wem man spricht und was man erbittet, wer der Bittsteller ist und von wem er es erbittet, das nenne ich kein Gebet, auch wenn man dabei noch so sehr die Lippen bewegt“ (1M 1,7; Hervorhebung MD).
Inneres Beten dieser Art hat Teresa praktiziert, bevor sie wusste, „was das war“ (V 9,4). Ihr Beitrag besteht in der grundsätzlichen Betonung, dass es nicht darum geht, „viel zu denken, sondern viel zu lieben“ (4M 1,7), weil inneres Beten nichts Mühsames sein soll. Daher hält sie wenig davon, „den Atem anzuhalten“ (4M 3,6) oder andere Techniken zu empfehlen. Wie Ulrich Dobhan geschrieben hat, kommt es ihr nicht auf die Weitergabe bestimmter Gebetsmethoden, Übungen, Körperhaltungen oder auf geistreiche Erwägungen an, „sondern auf die Ermutigung zur gelebten Liebesbeziehung zu Gott bzw. Christus. Alles, was dazu beiträgt, diese Beziehung zu vertiefen, dient dem geistlichen Fortschritt“.4
Teresa wusste, dass Gott uns auch beim einfachen mündlichen Beten zu sich führen kann. Sie verweist auf eine alte Ordensschwester, die das Vaterunser mühlenartig betete und die der Herr „gestützt auf das Vaterunser , zum Gebet der Gotteinung erhob“ (CE 52,5). Aber das eigentliche Ziel Teresas war die Mystagogie des inneren Betens in einer Zeit, in der es hieß, dass die Frauen „solche Leckerbissen“ nicht brauchen und sie beim Rosenkranz bleiben sollten (Cf. CE 35,2). Teresa schreibt eine ausführliche Auslegung des Vaterunsers (Cf. CE 43–73), damit die Schwestern lernen, mündliches Beten mit innerem zu verbinden. Wenn man diese Auslegung mit denen Luthers vergleicht, so fällt auf, dass Teresa etwa bei den Bitten „Dein Wille geschehe“ und „Unser tägliches Brot gibt uns heute“ ihre Bedeutung für die unio mystica erschließen möchte.
Abschließende Überlegungen
In den Augen Teresas wäre Luther ein letrado oder studierter Theologe gewesen, während Luther sie – wie viele Theologen und Kirchenfürsten ihrer Zeit – als eine ‚Einfältige‘ betrachtet hätte bzw. als nur eine Frau, ohne jegliche Autorität in geistlichen Dingen. Es ist nicht so, dass Luther verglichen mit den spanischen Theologen der Zeit in seiner Haltung gegenüber den Frauen besonders schlecht dastünde. Aber selbst wenn wir von seinen polternden Sprüchen in den Tischreden absehen, muss man feststellen, dass seine Sicht der Frau als Ehefrau und als Christin eher konventionell war. Die Frau sei von Gott dazu geschaffen, „Kinder zu gebären, die Männer zu erfreuen, barmherzig zu sein“.1 Seine Frau Katharina bezeichnet er nicht ohne Ironie „als eine kluge Frau und Doktorin“ bzw. als „sehr beredt“, dass sie ihn fast übertreffe. Aber im selben Augenblick fügt er hinzu: „Aber die Beredsamkeit bei Frauen ist nicht zu loben. Für sie ziemte es sich vielmehr, nur zu stammeln und zu lallen; das stünde ihnen wohl besser an“.2 Dies entspricht dem biblischen Befund – etwa nach den berühmten Stellen des Apostels Paulus in 1 Kor 14,33–34 und 1 Tim 2,11–15.
Auch im Umgang mit Luther hätte sich Teresa in der Kunst der Verstellung in frommer Absicht üben müssen, um ihre Bildung und ihre spirituelle Erfahrung zu verstecken. Und sie hätte im Gebet Zuflucht zum Herrn gesucht, von dem sie 1571 diese tröstliche Botschaft vernahm, als sie mit Bezug auf den Apostel Paulus von Klerus und Theologen immer wieder in die Schranken gewiesen wurde: „Sag ihnen, dass sie nicht nur auf einem Text der Schrift herumreiten, sondern auch andere anschauen sollen, und ob sie mir denn die Hände binden könnten“ (CC 16).
Eine weitere Unterscheidung, die mit dem Phänotyp, d.h. mit dem Stand als Mann oder Frau, Theologe oder Laie in Kirche und Gesellschaft zusammenhängt, ist der Umgang mit der Schrift. Diese bleibt ‚der‘ Interpretationsbezug der mystischen Erfahrung, die primär immer Glaubensmystik ist, Antwort auf das „Hören des Wortes“, auch wenn sie sich als Liebesmystik kleidet. Als Theologe und Bibelwissenschaftler konnte Luther dabei aus dem Vollen schöpfen. Bei Teresa ist erstaunlich genug, dass sie so klug und treffend mit Schriftzitaten umgeht, obwohl ihr die Bibellektüre verwehrt und sie auf die liturgische Predigt und das geistliche Gespräch mit ihren Beichtvätern angewiesen war. Sie bedauert, dass sie nicht theologisch gebildet ist, um die Bibel besser zitieren zu können (7 M 3,13). Ihre Erfahrung des Herrn als „lebendiges Buch“ kam ihr dabei zur Hilfe und ist ein typisch weiblicher Zugang zur Schrift in der Frauenmystik dieser Zeit. Es erinnert uns zugleich daran, dass Gottes Wort nicht „Schrift“ geworden ist, sondern Fleisch/Mensch in Jesus Christus – und er teilt es den Seinen selbst unmittelbar mit, wenn die sozial verfasste Kirche den freien Zugang zur Schrift verwehrt, wie dies im katholischen Spanien zur Zeit Teresas der Fall war.
Zum Phänotyp gehört auch die Sprache, wie wir nun anhand der Brautmystik bei Luther und Teresa näher beleuchten möchten.
Anklänge auf die „Brautmystik“ fehlen bei Luther nicht, sind aber immer in die oben genannte Glaubensmystik eingebettet, am eindrucksvollsten etwa in der Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520). Vom inwendigen geistlichen Menschen heißt es hier, dass kein äußerliches Ding ihn frei und fromm zu machen vermag. Eine solche Seele könne alle Dinge entbehren, „ausgenommen das Wort Gottes […] Wo sie aber das Wort Gottes hat, so bedarf sie auch keines anderen Dinges mehr, sondern sie hat in dem Wort Gottes Genüge: Speise, Freude, Friede, Licht, Wissen, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gut überschwenglich“.3 Der Glaube bewirke nicht nur, „dass die Seele dem göttlichen Wort gleich wird“, „sondern es vereinigt auch die Seele mit Christus“, und zwar durch einen fröhlichen Tausch, der an den Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi erinnert.4 Bereits in der Vorlesung über den Hebräerbrief (1517–1518) bezeichnet Luther die Bindung des Glaubens an das Wort als „geradezu eine Verlobung“ und verweist dabei auf die klassische Belegstelle der unio mystica in 1 Kor 6,17: „Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm.“5 Gegen Ende seines Lebens rekurriert Luther erneut auf die Brautmystik, um den Glaubensvollzug mit der mystischen Liebesvereinigung zu vergleichen:
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