Phasen der Schreibsozialisation (Jakobs, 2008: 4)
Die Fachstelle Berufsbezogenes Deutsch , die vor allem den Blick auf Arbeitnehmer mit Deutsch als Zweitsprache und ihre Förderung im Fokus hat, erklärt diese Anforderung genauer:
Der berufsbezogene Deutschunterricht greift verschiedene kommunikative Anforderungen auf, die Bestandteil des Arbeitslebens sind […]. Um solche sprachlichen Anforderungen zu bewältigen, müssen die jeweiligen Sprecher_innen über eine ganze Reihe von kommunikativen Kompetenzen verfügen: Der inhaltliche Aufbau von Fachtexten und Arbeitsanweisungen muss ihnen ebenso geläufig sein wie das darin enthaltene Vokabular. Darüber hinaus ist es notwendig zu wissen, wie mit Kund_innen, Kolleg_innen oder Vorgesetzten gesprochen wird und die entsprechenden umgangssprachlichen, formalen oder höflichen Sprachformen und Register anwenden zu können (Fachstelle Berufsbezogenes Deutsch, o.J.: o. S.).
Mit dieser Erläuterung wird klar, dass sich diese auch auf die Auszubildenden in einer Berufsausbildung und die damit verbundenen schriftlichen sowie mündlichen Anforderungen im Beruf bezieht. Die Schreibanforderungen in der beruflichen Bildung werden zum einen durch den Rahmenlehrplan für die Berufsschulen von der Kultusministerkonferenz vorgeschrieben. In diesem erhalten die Berufsschullehrer Hinweise, welche Textsorten und Schreibanlässe in welchem Jahr gelehrt werden müssen. Eigene schulinterne Lehrpläne lehnen sich an die Rahmenlehrpläne an. Das Bundesministerium der Justiz schreibt in der Ausbildungsverordnung durch den integrierten sachlichen Ausbildungsrahmenplan die Vermittlung bestimmter Textsorten direkt und indirekt vor – indirekt deswegen, da manchmal auch nur Schreibanlässe genannt werden, die jedoch in der Berufspraxis bestimmte Textsorten erfordern. Die Kammern als dritter bildungspolitischer Akteur der dualen Berufsausbildung verlangen durch die Abschlussprüfung das Schreiben bestimmter Textsorten als abprüfbare Performanz. Es soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass nicht nur die Produktion diverser Textsorten zu bestimmten berufstypischen Schreibanlässen, sondern auch rezeptive Kompetenzen, wie das Lesen und Verstehen der Texte, in der Ausbildung gefördert werden sollen (Giera, 2010:25f.). Ein Großteil der Schreibanforderungen in der dualen Ausbildung wird durch diese drei bildungspolitischen Akteure vorgegeben. Der Ausbildungsbetrieb und die Berufsschule greifen diese Schreibanforderungen in diversen Lernfeldern, die handlungsorientiert aufgebaut sind und einen beruflichen, rechtsrelevanten Bezug haben (Czycholl & Ebner, 1995), im Zuge der von der Kultusministerkonferenz eingeführten Lernfelddidaktik auf (KMK, 1996).
Der heutige Forschungsstand im Bereich der Schreibanforderungen und -kompetenzen in der beruflichen Bildung zeigt, dass sich ein recht junges Forschungsfeld etabliert hat, um einerseits den Status quo empirisch abzubilden und andererseits schreibdidaktische Maßnahmen zu empfehlen (noch ausführlicher unter Neumann & Giera, 2018:333ff.):
Wyss-Kolb konnte mit ihrer Dissertation „Was und wie Lehrlinge schreiben? Eine Analyse von Schreibgewohnheiten und von ausgewählten formalen Merkmalen in Aufsätzen“ (Wyss-Kolb, 1995) durch die Inhaltsanalyse von 88 Aufsätzen deutschsschweizer Lehrlinge in den 11. und 12. Klassen, 15 Doppellektionsaufsätzen sowie 13 Maturaaufsätzen und 30 einstündigen Aufsätzen von Zürcher Berufsschülern nachweisen, dass die Texte durchschnittlich 285 Wörter lang und die von Gymnasiasten signifikant kürzer sind. Mittels qualitativer Fehleranalyse nach dem Zürcher Textanalyseraster wurde dabei die sprachsystematische und orthografische Richtigkeit in den Schülertexten untersucht (Wyss-Kolb, 1995:12). Obwohl die grammatische Fehlerdichte bei den Berufsschülern im Vergleich zu den Gymnasiasten doppelt so hoch war, waren 93 % der Texte formal korrekt und wiesen geringe semantische Fehler auf (Wyss-Kolb, 1995:107, 142, 272). Fehlerschwerpunkte waren überwiegend Flüchtigkeitsfehler, Kommafehler, Dispositionsfehler (Textentfaltung und Kohärenz) sowie Fehler in der Wortwahl, Syntaxfehler oder eine nicht leserfreundliche Struktur (Wyss-Kolb, 1995:22). Eine anschließende Befragung der Lehrlinge (n = 128) verdeutlichte, dass mehr pragmatische Schreibaufgaben wie das Schreiben von Bewerbungen und Beschwerden von Berufsschullehrern gestellt werden sollten, wie im folgenden Zitat zur Geltung kommt:
Deutlich erkennbar ist ferner das Postulat, das Fach – analog zum Deutschunterricht an der Berufsschule – stärker an Lebenskundlichem und Nützlichem zu orientieren. Die jungen Frauen und Männer möchten ‚Techniken lernen, um sich im Leben sprachlich besser zurechtzufinden‘, wünschen sich ‚mehr Alltagsdeutsch (Beschwerden, Bewerbungen)‘, überdies vermehrt auf aktuelle Probleme und Ereignisse oder den Beruf bezogene Diskussions- und Aufsatzthemen […]. Es lässt sich also eine gewisse Diskrepanz feststellen zwischen dem eher an humanistisch geprägten Bildungsidealen orientierten Unterricht und den Erwartungen einer an Lebens- und Praxisnähe interessierten Schülerschaft (Wyss-Kolb, 1995:41).
Des Weiteren stellt Wyss-Kolb in ihrer Untersuchung heraus, dass die Schüler nicht prinzipiell ungern längere Texte schreiben würden, der Aufsatz unliebsam sei und eher Geschäftsbriefe, Prüfungen oder Hausaufgaben verfasst würden (Wyss-Kolb, 1995:72). Zwei von fünf Lehrlingen schreiben demzufolge ungern und selten, obwohl sie am Arbeitsplatz täglich schreiben müssen (Wyss-Kolb, 1995:66, 271).
Fleuchhaus (2004) befragte in ihrem Promotionsprojekt „Kommunikative Kompetenzen von Auszubildenden in der beruflichen Ausbildung. Ausprägungen, Förderung und Relevanz im Urteil von Ausbildern, Lehrern und Auszubildenden“ Auszubildende (n = 1.360) in 21 Berufsgruppen, Berufsschullehrer (n = 60) sowie Ausbilder (n = 60) in einem Fragebogen mit einer fünfstufigen Ratingskala, was für Texte, wie und wann sie diese schreiben würden (Fleuchhaus, 2004:23).
Bedeutende Ergebnisse waren, dass die Auszubildenden aus ihrer Sicht zwar häufig am PC schreiben ( M = 3,76), aber Geschäftsbriefe ( M = 2,45) selten schreiben und interessanterweise die Berufsschule eher als Ort des Schreibenlernens eingeschätzt wurde als der Betrieb (ebd.). Das Schreiben als berufliche Anforderung wird von den Auszubildenden, die im Betrieb diese Kompetenz aufbauen und beherrschen müssen, stärker wahrgenommen als von Auszubildenden, die das Schreiben von Texten beruflich weniger vollziehen werden. Die Befragung der Ausbilder hob hervor, dass der Computer zwar als Arbeitsmittel relevant sei, aber für die Schulung wenig Zeit bliebe und dies eher in der Berufsschule vermittelt werden müsse. Dagegen schätzen die Ausbilder die sprachformalen Anforderungen wie Grammatik, Orthografie und Syntax als wichtig ein. Diese Grundlagen seien bei den Auszubildenden zu gering ausgeprägt (Fleuchhaus, 2004:262).
Im Schuljahr 2002/03 wurde an 100 Hamburger Schulen die Längsschnittuntersuchung „Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung – Klassenstufe 11“ (Lehmann et al., 2004:5), kurz LAU, sowie parallel dazu die „Untersuchung der Leistung, Motivation und Einstellung zu Beginn der beruflichen Ausbildung“ (Lehmann et al., 2005:5) durchgeführt. Ziel war die Erfassung der Schreibkompetenz anhand von Schreibaufgaben, die die Schüler an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen zu bewältigen hatten: In der ersten Schreibaufgabe (n = 3.517) sollten die Schüler schriftlich einen Beschwerdebrief an den Gemeinderat verfassen, um einer Schließung eines Jugendclubs entgegenzuwirken.2 Ein Antwortschreiben von Seiten des fiktiven Gemeinderats stellte die zweite Schreibaufgabe dar (n = 1.539). Die Textqualität wurde durch ein Double-Blind-Ratingverfahren und auf einer fünfstufigen Ratingskala mit inhaltlichen und sprachlich-textuellen Merkmalen ermittelt (Neumann, 2006:24f.).
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