Staatenlosigkeit in Massendimensionen […] die Welt faktisch vor die unausweichliche und höchst verwirrende Frage gestellt, ob es überhaupt so etwas wie unabdingbare Menschenrechte gibt, das heißt Rechte, die unabhängig sind von jedem besonderen politischen Status und einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen. (ebd.: 607)
Da dies nachweislich nicht der Fall war, bleibt Arendt (ebd.: 619f.) nur – quasi als logische Konsequenz –, den allgemeinen Zusammenbruch der Menschenrechte zu konstatieren. Denn was Staatenlosigkeit laut Arendt (2011, 2013: Kap. 9) generell kennzeichnet ist ein Zustand absoluter Recht- und Weltlosigkeit , wobei Rechtlosigkeit eine spezifische Form politisch-rechtlicher Deprivation konstituiert, während es sich im Falle der Weltlosigkeit um eine Form existenzieller Deprivation handelt, die erst vor dem Hintergrund von Arendts ‘breiterer’ philosophischer Position bzw. politischer Theorie besser verständlich wird. Als Konsequenzen der Staatenlosigkeit sind Recht- und Weltlosigkeit eng miteinander verwoben; aus Arendtscher Perspektive muss die Weltlosigkeit der Staatenlosen notwendigerweise auf ihre Rechtlosigkeit folgen bzw. mit ihr einhergehen, und ist, wie sich zeigen wird, noch weithin gravierender als Rechtlosigkeit dies ohnehin schon ist.
Die Rechtlosigkeit der Staatenlosen
Das für Arendt (2011, 2013: Kap. 9) an der Rechtlosigkeit der Staatenlosen so neue wie bezeichnende war ihre Absolutheit , welche nicht zuletzt auch aus der globalen Durchsetzung und Verrechtlichung des internationalen Staatensystems resultierte, die ihnen schlichtweg keinen ‘Platz’ auf dieser Erde ‘übrig ließ’: schon zuvor waren einzelne (Menschen-)Rechte zweifellos substantiell verletzt oder nicht gewährt worden – und dies gleichsam in großer Zahl und schwerwiegender Weise; was allerdings ein bisher ungekanntes Phänomen darstellte, waren Menschen, die mit einem Mal all ihre (Menschen-)Rechte – quasi en-bloc – verloren bzw. dieser beraubt wurden, und für die – genauer: gerade weil für sie – keine politische Gemeinschaft mehr existierte, in welcher Subjekte sich wechselseitig Rechte überhaupt erst hätten garantieren können. Auf diese Situation waren ‘die’ Menschenrechte in ihren zahlreichen Festschreibungen und Formulierungen von letztlich partikularen Rechten nicht vorbereitet bzw. ausgerichtet: Denn eine Verletzung substantieller (Menschen-)Rechte bzw. einer Teilmenge von ihnen bedeutet zwar eine (Menschen-)Rechts verletzung , nicht aber einen buchstäblichen Verlust dieser Rechte (Arendt 2013: 611). Eine Rechtsverletzung kann überhaupt nur unter der Voraussetzung eintreten, dass ebendiese Rechte intakt bzw. tatsächlich existent sind, also von Rechtssubjekten beansprucht werden; ein tatsächlicher Rechtsverlust hingegen bedeutet ihre Nicht(-mehr-)existenz, vor deren Hintergrund diese Rechte überhaupt nicht mehr verletzt werden können, da es schlicht nichts mehr gibt, was verletzt werden könnte. Aber auch im Falle des tatsächlichen Verlustes einzelner Rechte konnte noch nicht von einem absoluten Rechtsverlust gesprochen werden, solange zumindest einige Rechte hinreichend intakt blieben; das Phänomen absoluter Rechtlosigkeit trat erst mit den Staatenlosen auf, die plötzlich ohne jede politische und somit Rechtsgemeinschaft dastanden, innerhalb der ihnen Rechte als solche erst hätten gewährt werden können (ebd.: 611f.). Vor dem Hintergrund der sozialen Ontologie von Rechten sowie ihrem relationalen, gruppenbezogenen Charakter als sozio-politische Institution (vgl. ebd.: 622; 2011: 404, 407) verloren Staatenlose mit ihrer politischen Gemeinschaft also nicht einfach einzelne Partikularrechte, sondern vielmehr alle ihre Rechte, ihren persönlichen Status als Rechtssubjekt, und wurden somit absolut rechtlos (Arendt 2011: 402). Und vor dem Hintergrund des Verlustes dieser politischen Gemeinschaft konnte auch der Genuss bestimmter ‘Rechte’ nicht über die Lage der Staatenlosen hinwegtäuschen: denn wurden einer/m Staatenlosen spezifische substantielle Rechte (zumindest ihrem Inhalt nach) zuteil, dann nie als Rechte , die sie/er legitimerweise hätte beanspruchen oder einklagen können; vielmehr konnte sie/er sich darüber ‘glücklich schätzen’. Wurden ihr/ihm Rechte nicht gewährt oder wieder entzogen, so musste sie/er sich damit abfinden und hatte keine Handhabe dagegen. Wurden Staatenlosen also ‘Rechte’ gewährt, geschah dies gegebenenfalls unfreiwillig und sozusagen eher ‘zufällig’, oder aufgrund der Freiwilligkeit und des ‘guten Willens’ der verantwortlichen Institutionen. ‘Rechte’ aber, deren Gewährleistung keine Pflicht ist, sondern von Freiwilligkeit und/oder ‘gutem Willen’ abhängt, können wohl nach keiner juridischen Definition tatsächlich als Rechte gelten:
Die partikularen Rechte, die der Staatenlose in nichttotalitären Ländern genießt und die sich vielfach mit den proklamierten Menschenrechten decken, können an der fundamentalen Situation der Rechtlosigkeit nicht das geringste ändern. Sein Leben, das unter Umständen durch private oder öffentliche Wohlfahrtsorganisationen über Jahrzehnte erhalten wird, verdankt er der Mildtätigkeit privater oder der Hilflosigkeit öffentlicher Instanzen, in keinem Fall aber hat er ein Recht darauf, da es kein Gesetz gibt, das die Nationen zwingen könnte, ihn zu ernähren. (Arendt 2013: 613)
Auf diese „fundamentale Situation der Rechtlosigkeit“ musste konsequenterweise die zweite, existenzielle Deprivation folgen: die Weltlosigkeit der Staatenlosen. Denn der „Raub der Menschenrechte“ ist für Arendt (2011: 399) gleichbedeutend damit, „daß einem Menschen der Standort in der Welt entzogen wird, durch den all seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen Wirksamkeit“. Dieser „Standort in der Welt“ aber ist aus Arendtscher Perspektive fundamental für menschliches Sein und Leben.
Arendts Begriffe „Welt“ und „Weltlosigkeit“
Die Arendtsche „Welt“ bezeichnet all das, was von und zwischen Menschen geteilt und dadurch erst konstituiert wird, was ihnen sowohl einen „Erscheinungsraum“ als auch einen „Handlungsraum“ bietet, in den sie hineingeboren werden, und den sie in Folge durch Handeln bzw. Tätigkeit gestalten und verändern können (Arendt 1960). Die Existenz dieser, also der ‘Welt’ ist einerseits wesentlich abhängig von menschlicher Tätigkeit und ihrer Verstetigung: „seinem Herstellen von Dingen, […] seinem handelnden Organisieren der politischen Bezüge in menschlichen Gemeinschaften“ (ebd.: 27). Andererseits ist ‘Welt’ den Menschen „eine Heimat in dem Maße, indem sie menschliches Leben überdauert […] und als objektiv-gegenständlich gegenübertritt“ und somit erst die Bedingung der Möglichkeit eines relativ beständigen, stabilen Lebens (ebd.: 14). Ohne diese ‘Welt’ könnten Menschen ihr fundamental humanes, spontanes und initiierendes existenzielles Potenzial, das Arendt mit „Natalität“ bezeichnet und das letztlich besagt, dass der Mensch „der Anfang des Anfangs oder des Anfangens selbst“ ist (ebd.: 166), gar nicht entfalten, weil er – als potenziell neuer Anfang – immer in eine bereits existente, hinreichend beständige Welt hineingeboren wird, und ein (neuer) Anfang , im Sinne des Einleitens tatsächlicher Veränderung durch Handeln, immer nur vor dem Hintergrund einer hinreichend persistenten sozio-politischen Welt und Wirklichkeit denkbar und verständlich ist.
‘Welt’ ist den Menschen auch ein Raum der Öffentlichkeit, ein Erscheinungs- und Handlungsraum und letzlich der Raum der menschlichen, also geteilten ‘Wirklichkeit’: in der ‘Welt’ befindet sich bzw. aus der ‘Welt’ besteht der ‘Stoff’, auf den Menschen einzig gemeinsam Bezug nehmen können; ‘Welt’ konstituiert inhaltlich wie strukturell das alleinige „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ (ebd.: 174), ist sie doch das, was buchstäblich „inter-est“ bzw. ‘von „inter-esse“‘ ist oder überhaupt sein kann, also das „was dazwischen liegt und Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinde[t] und zugleich voneinander scheide[t]“ (ebd.: 173). Die Arendtsche ‘Welt’ ist also ein Zwischen (den Menschen) bzw. das tatsächlich und buchstäblich ‘Zwischen-Menschliche’, der eigentliche und einzige Ort sowie gleichsam die Bedingung der Möglichkeit menschlicher, sozio-politischer Inter aktion, den/die sie mit der Metapher eines „Tisch[es]“ umschreibt (ebd.: 40); und zwar „in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist“ (ebd.: 52). Dieser ‘Tisch der Welt’ ist damit der einzige Ort, öffentlich auf- und in Erscheinung zu treten, Ort des (Miteinander-)Sprechens und (Miteinander-)Handelns, also der Ort der Politik, da Handeln die Arendtsche „politische Tätigkeit par excellence“ ist (ebd.: 16), und der Arendtschen Pluralität, des „Zusammen- und Miteinander-Sein[s] der Verschiedenen “ (Arendt 1993: 9), das den „Sinn“ von Politik, Freiheit, im und durch Handeln aktualisieren soll (ebd.: 28, vgl. 2000: 215f.).
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