Dichtung im AufschreibesystemAufschreibesystem von 1800
AufschreibesystemAufschreibesystem von 1900 Die technischen Neuentwicklungen des 19. Jh., insbesondere das Grammophon und der Film, verändern diese Situation grundlegend und führen zum AufschreibesystemAufschreibesystem von 1900. Sie ermöglichen nun serielle Datenspeicherung ohne menschliches Bewusstsein und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Grammophon und Film speichern dabei das Reale selbst (Schallwellen auf Wachswalze, Lichtwellen auf chemisch behandeltem Papier) und nicht mehr symbolische Repräsentation (etwa in Buchstaben, die Laute verschriften) oder Bedeutung. Da gesprochene Sprache in ihrer individuellen Gestalt (Stimme) konservierbar wird und äußere Wirklichkeit durch detailreiche bewegte Bilder gespeichert werden kann, ist klar, dass Schrift und mit ihr Literatur nun nicht mehr universal sind. Zudem führen die neuen Aufzeichnungssysteme vor Augen, dass auch geschriebene Sprache von einem materiellen Zeichenträger abhängig ist – sie verliert ihren Status als quasi immaterielles MediumMedium. Neue MedienMedien und die entsprechenden Kunstformen ersetzen alte nicht, aber sie weisen ihnen neue Systemplätze zu, wie Kittler betont: Die ehemalige Universalkunst ‚Dichtung‘ weicht einer Schriftkunst ‚Literatur‘, die ihre Aufgaben neu zu bestimmen hat. Ihr bleiben mehrere Möglichkeiten. Sie kann sich (1) auf den Bereich konzentrieren, der von den konkurrierenden MedienMedien nicht oder unzureichend erfasst wird. Dazu gehört, wie wir oben bereits sahen, alles, was nicht konkret (‚real‘) oder bildhaft (‚imaginär‘), sondern abstrakt (‚symbolisch‘) ist; so werden sprachliche Zeichen nicht mehr in den Dienst einer Wirklichkeitsabbildung gestellt, die von anderen Künsten wie der Fotografie besser zu leisten ist, sondern absolut gesetzt – eines der poetologischen Hauptmerkmale des bereits erwähnten Futurismus. Sie kann (2) die Wiederentdeckung der materiellen Zeichen feiern, indem sie mit Buchstaben statt (oder zusätzlich zur) Bedeutung spielt; ein Beispiel hierfür ist das Kalligramm von Guillermo de Torre (Text 1.2). Oder sie ordnet sich (3) den (zunehmend erfolgreichen) KonkurrenzmedienMedien unter, indem sie MedienwechselMedien (z.B. VerfilmungLiteraturverfilmung) bereits in der Machart des Textes einkalkuliert. Mitunter sind etwa filmische Verfahren auch im Hinblick auf eine selbstbewusste Erneuerung für Literatur adaptiertAdaption worden, z.B. in Gestalt einer Nachahmung von Schnitt und Größeneinstellungen in der Erzähltechnik von RomanenRoman (siehe Einheiten 8 und 9).
Abb. 1.6
Literatur im AufschreibesystemAufschreibesystem von 1900
Zusammenfassung Ausgehend von Textbeispielen aus der spanischsprachigen Literatur konnten wir in der zurückliegenden Einheit eine Reihe von literarischen Merkmalen beschreiben, die durchaus dem Allgemeinverständnis vom Wesen und Anspruch der Literatur entsprechen und dieses konkretisieren. Zugleich stellten wir fest, dass es keine absoluten Kriterien für Literarizität gibt, sondern dass die Zurechnung eines Textes zur ‚Literatur‘ sehr stark durch den Kontext und den jeweiligen Umgang einer Gesellschaft oder eines Individuums mit ihm bestimmt wird. Charakterisiert man sehr allgemein Literatur als geschriebene Sprache, so richtet sich der Blick auf ihre medienspezifischenMedien Funktionsbedingungen, die anhand einer historischen Gegenüberstellung von 1800 vs. 1900 illustriert wurde.
Aufgabe 1.6? Erstellen Sie ein grafisches Resümee der Ausführungen zum LiteraturbegriffLiteraturbegriff. Rubrizieren Sie dabei die verschiedenen Eingrenzungsvorschläge und notieren Sie, farblich abgesetzt, jeweils Einwände und Gegenbeispiele. Eine Möglichkeit hierfür wäre eine Baumstruktur:
Gustavo Adolfo Bécquer:Rimas. Madrid: Espasa-Calpe 102009.
Jorge Luis Borges:„La Biblioteca de Babel“, in: Ders., Narraciones. Madrid: Cátedra 1999, 105–124.
Miguel de Cervantes:Don Quijote de la Mancha. Band I. Madrid: Cátedra 272008.
Julio Cortázar:„Situación de la novela“, Cuadernos americanos, IX, 1950, 223.
El País,18. 12. 2008.
José Sanchis Sinisterra:Ñaque o de piojos y actores. Madrid: Cátedra 122008.
Guillermo de Torre:„Paisaje plástico“, in: Poesía española de vanguardia (1918–1936). Madrid: Castalia 1995, S. 160.
Michel Foucault:„Was ist ein Autor?“, in: Ders., Schriften zur Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, 234–270.
Wolfgang Iser:Die Appellstruktur der Texte: Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitätsverlag 1971.
Friedrich Kittler:Aufschreibesysteme 1800–1900. München: Fink 42003.
[bad img format] Weiterführende Literaturhinweise finden Sie unter www.bachelor-wissen.de.
2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle
Inhalt
2.1 Poetik
2.1.1 Die Poetik des Aristoteles
2.1.2 Poetiken des Siglo de Oro
2.2 Gattungen
2.3 Epochen
2.4 Literaturgeschichte
2.5 Kanon
Überblick In Einheit 2 wird Ihnen der Begriff ‚Poetik‘ in Abgrenzung zur Literaturgeschichte und Literaturkritik vorgestellt. Wichtige poetologische Schriften werden als Orientierungspunkte im historischen Entwicklungsverlauf hervorgehoben. Ein spezielles Augenmerk gilt in diesem Zusammenhang den literarischen Gattungen, Epochen und dem Begriff des Kanons.
Der LiteraturbegriffLiteraturbegriff im zeitlichen Wandel Der Begriff ‚Literatur‘Literaturbegriff, das hat die vorangehende Einheit 1 verdeutlicht, ist inhaltlich nur schwer eingrenzbar und bleibt in seinen jeweiligen Definitionsversuchen abhängig von der jeweiligen Position in einem historischen und kulturellen Gefüge. Insofern kann man Texte immer nur für ihren bestimmten geschichtlichen Augenblick und unter dem Gesichtspunkt des jeweiligen Literaturverständnisses auf ihre Literarizität hin prüfen.
! PoetikPoetik ist die Lehre von der Dichtkunst Unter PoetikPoetik ( poética ) versteht man die Lehre von der Dichtkunst, und zwar in zweifacher Weise: Zum einen befasst sie sich mit dem Wesen von Dichtung, ihrer Bestimmung, ihrer Einteilung in Gruppen gleichartiger Texte und ihrem ästhetischen Wert. Zum anderen will sie in vielen Fällen auch eine Anleitung zum Dichten geben, sei es, dass sie bereits vorliegende bekannte Werke in ihren Vorzügen und Mängeln kritisch betrachtet ( deskriptives deskriptiv , d.h. beschreibendes Vorgehen), sei es, dass sie konkrete Hinweise bzw. Vorschriften für das Zum Begriff der ‚Dichtung‘ Verfassen von Werken enthält ( normativer normativ Anspruch). Neben den expliziten PoetikenPoetik, die sich als eigenständige Abhandlungen zur Literatur darbieten, existieren zahllose aussagekräftige immanente (auch: implizite) PoetikenPoetik, welche Autorinnen und Autoren in ihren Vorworten oder Vorreden, Nachworten oder Selbstaussagen (z.B. Interviews) formuliert haben und die über ihr persönliches Literaturverständnis Auskunft geben. Im Falle von ‚Metapoesie‘ bzw. ‚Metapoetikmetapoetisch‘ handelt es sich schließlich um Literatur, die selbst Auffassungen und Funktionen von Literatur betrachtet.
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