1 ...8 9 10 12 13 14 ...24 Vorbildcharakter ‚klassischer‘ Werke Die normativenormativ Gattungslehre ist zumeist darauf angewiesen, sich auf eine gezielte Auswahl von Referenztexten zu stützen, die auf beispielhafte Weise als Vorbild für alle anderen, ähnlich kategorisierbaren Produktionen gelten können. Neben für besonders wichtig gehaltene Werke früherer Epochen, die zumeist für ‚klassisch‘ erachtet werden (etwa im Falle von Vergil, der im Mittelalter als alles überragender Dichter der Antike rezipiert wurde), können durchaus auch die Werke von Zeitgenossen treten, z.B. bei Aristoteles. Die von Aristoteles überlieferte GattungseinteilungGattungen gibt zugleich ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sehr die Bemühungen um eine Systematisierung dem historischen Wandel ausgesetzt sind.
Text 2.4
Aristoteles: Poetik Poetik Die EpikEpik und die tragische Dichtung, ferner die KomödieKomödie und die Dithyrambendichtung 1sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht dieselbe Weise nachahmen. (Aristoteles: 1994, 5)
1 Dithyrambendichtung antike lyrische Gattung mit musikalischer Begleitung
Nicht nur der Wegfall der letztgenannten GattungenGattungen ist zu bemerken, auch die GattungsbegriffeGattungen selbst, z.B. derjenige der EpikEpik, haben sich grundlegend verändert oder wurden nachträglich ersetzt. Das moderne Lyrikverständnis umfasst z.B. nicht mehr notwendigerweise die musikalische Darbietung wie in der Antike (siehe Einheit 4).
Aufgabe 2.6? Inwiefern entspricht das von Aristoteles betrachtete antike EposEpos (z.B. Homers Ilias ) nicht mehr dem heute geläufigen Gattungsbegriff ‚EpikEpik‘?
Der historische Abstand zum in Text 2.4 zitierten Beispiel lässt erahnen, wie schwierig es ist, allgemeingültige GattungskategorienGattungen aufzustellen. Als besonders erfolgreich hat sich aus unserer heutigen Sicht wiederum die Einteilung der literarischen Formen in die drei Grundformen EpikEpik – DramatikDrama – LyrikLyrik, die sog. Gattungstrias, erwiesen. Sie reicht vom Ansatz her zwar auf bereits bei Aristoteles und Horaz formulierte Gedanken zurück, wurde aber erst im 18. Jh. zum poetologischenpoetologisch Gemeingut erhoben. Bedeutsam wurde in diesem Zusammenhang die Annahme, in den drei HauptgattungenGattungen spiegelten sich gleichsam Wesenszüge der menschlichen Seele, was Goethe auf die für den deutschsprachigen Raum höchst einflussreiche Formel von den „drei Naturformen der Dichtung“ brachte:
Text 2.5
Goethe: West-östlicher Diwan (1819–1827) Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: EposEpos, LyrikLyrik und DramaDrama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswerten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. (Goethe: 1978, 187f.)
‚Naturformen‘ der Dichtung Relevant an dieser Deutung ist neben der ahistorisch-wesenhaften Zuschreibung von Gattungsmerkmalen, die zugleich eine wirkungsästhetische Charakterisierung beinhalten, der Hinweis auf die Vermengung dieser Grundtendenzen im einzelnen literarischen Text. Hinzu kommt der komparatistische, auf eine Weltliteratur geweitete Blick Goethes. Noch der Schweizer Literaturwissenschaftler Emil Staiger entwarf 1946 in seinen Grundbegriffen der Poetik Poetik ein Modell, demzufolge sich jegliche Dichtung aus „Gattungsideen“ ableite, welche im Sinne von allgemeinen Stilqualitäten als ‚das LyrischeLyrik‘, ‚das Epischeepisch‘ bzw. ‚das DramatischeDrama‘ anzusehen seien.
Der Ansatz, die Literatur in ‚GattungenGattungen‘ aufzugliedern, ist nicht zuletzt ein Ergebnis der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und ihrer wissenschaftlichen Systematik des ausgehenden 19. Jh., als sich nach dem Vorbild der biologischen Erblehre das Modell des Stammbaums und der Ausdifferenzierung von Arten und GattungenGattungen etablierte.
Versucht man beispielsweise, die narrativen (erzählenden) GattungenGattungen systematisch zu erfassen, so kann zunächst einmal eine schrittweise Untergliederung nach folgendem Schema vorgenommen werden:
Abb. 2.6
Ausdifferenzierung des GattungssystemsGattungssystem am Beispiel Erzählprosa
Aufgabe 2.7? Finden Sie anhand eines geeigneten Nachschlagewerks Untergattungen aus dem Bereich der Lyrik (z.B. Sonett).
Es bleibt allerdings festzuhalten, dass die Trennschärfe der unterschiedlichen Gattungsdefinitionen zweifelhaft ist und nie dem literarischen Formenreichtum gerecht werden kann. Der Versuch, eine global gültige Systematik zu erstellen, ist nur unter der Bedingung möglich, eine Vielzahl von Mischformen anzuerkennen (z.B. die Ballade als erzählendes Gedicht), auf welche mehrere Gattungszuschreibungen zutreffen.
GattungstraditionGattungen Zugleich werden weitere ‚HauptgattungenGattungen‘ diskutiert (die Satire wie auch der EssayEssay wurden als 4. oder 5. GattungGattungen ins Gespräch gebracht, hinzu kommen aus heutiger Perspektive etwa die Gruppen der didaktischen Texte bzw. der Gebrauchsformen), auch wenn die moderne und postmodernePostmoderne Literaturtheorie gerade den Gattungsbegriff radikal in Frage gestellt hat und durch eine weitaus weniger idealisierende und systematisierende Auffassung von Textsorten zu ersetzen sucht. Als literaturgeschichtlicheLiteraturgeschichte Kategorien besitzen die GattungenGattungen aber einen spezifischen Erkenntniswert, da sie die Kommunikation über bestimmte Textgruppen erlauben – so unzureichend diese auch sein mag – und auch historische Konventionen benennen, die bei den Literaturschaffenden, im Bereich des literarischen Marktes und bei den Literaturrezipienten als sinnstiftendes Vorverständnis wirken.
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Aufgabe 2.8? Versuchen Sie für folgende (Unter-)GattungenGattungen bzw. Typen festzustellen, inwieweit mit dem Gattungsnamen bereits ein Vorverständnis in Bezug auf die Stilart, den Aufbau und die Inhalte verbunden sind: Tragödie; Science-Fiction-Roman; Liebesgedicht.
Neben der Gattungstypologie bildet die Einteilung in Epochen (z.B. Siglo de Oro, Romanticismo etc.) einen festen Bestandteil der LiteraturgeschichtsschreibungLiteraturgeschichte, auch wenn hier kritische Stimmen inzwischen ebenfalls eine Überprüfung des EpochenkonzeptsEpochen fordern.
EpochenEpochen als in sich möglichst homogene Zeiträume Zunächst einmal sollen die EpochenbezeichnungenEpochen den Fluss der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte in einzelne, in sich möglichst zusammenhängende Zeiträume einteilen, in denen eine Vielzahl von Texten – oder aber eine kleine Gruppe literarisch besonders relevanter Texte (Kanon, siehe Einheit 2.5) – bestimmte gemeinsame Merkmale aufweisen. Ermöglicht wird diese Einteilung im Weiteren durch die Benennung literaturgeschichtlichLiteraturgeschichte bedeutsamer Schlüsselereignisse, EpochengrenzenEpochen die als EpochengrenzenEpochen Ende und Beginn der dominanten literarischen Entwicklung markieren. Eine derartige Untergliederung in literarische EpochenEpochen erlaubt es, die Veränderungen innerhalb des GattungssystemsGattungssystem bzw. jene der literarischen Formen zu beobachten. Außerdem kann man sie mit anderen Periodisierungen, z.B. mit Stilrichtungen der Kunstgeschichte oder mit der (oftmals an Herrscherpersönlichkeiten oder Staatsformen orientierten) Politikgeschichte, vergleichen. Der Schweizer Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin (1864–1945) verstand im Rahmen seiner stilgeschichtlichen Untersuchungen die EpochenmerkmaleEpochen ‚barockBarock‘ und ‚klassisch‘ sogar als überzeitliche Typusbegriffe, zwischen denen sich die stilistischen Entwicklungen über die Jahrhunderte hinweg in einer Pendelbewegung entfalten. Andere Einteilungsversuche betonen stärker Gemeinsamkeiten und parallele Entwicklungslinien, wie die spanischen Bezeichnungen Primer Siglo de Oro Siglo de Oro für die RenaissanceRenaissance und Segundo Siglo de Oro Siglo de Oro für das BarockBarock nahe legen. Eine weitere Einteilungsmöglichkeit ergibt sich aus der Zuordnung von AutorinnenAutor/AutorenAutor zu Generationen, deren Biographien durch die gleichen soziopolitischen sowie kulturellen Grundproblematiken geprägt wurden, in Spanien vor allem in der Generación del 98 Generación del 98 oder der Generación del 27 Generación del 27 .
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