An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 10. Dezember 2015 Nr. 98
Bewegt, gerührt und leicht erschüttert teile ich Dir mit, dass eben, am 5. Tag Chanukka, die helvetisch-martinische Ziegelbibel* bei mir eingetroffen ist, eine Aug- und Herzweide. Ich komme aus der ersten Bewunderung nicht heraus, man gewinnt den Eindruck, dass es nicht nur ein Leben birgt, sondern auch den angemessenen Lohn für ein beispielhaftes Leben. Du hast mich – auch noch leichenredend** – verwöhnt und reich – und Leich beschenkt, wie dankt man dafür?
Um einen solchen Marti, KurtMarti müssen Generationen beten. – „wa’ani lo jadati“ (und ich wusste es nicht), sagt Jakob nach seinem Erwachen (Gen. 28, 16). Mehr lohnt sich jetzt nicht zu sagen, den Dank sollst Du brühwarm erhalten.
* Kurt Marti, KurtMarti: Notizen und Details 1964–2007. Zürich: Theologischer Verlag 2007. Der Band ist mit 1422 Seiten im Bibelformat ziegelsteinschwer.
** Anspielung auf Kurt Marti, KurtMarti: Leichenreden. Neuwied: Luchterhand 1969; München: Dt. Taschenbuch-Verlag 2004
An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 14. Dezember 2015 Nr. 99
Das Fehlen Silja Walter, SiljaWalters bei Marti, KurtMarti* ist ein Faktum und unveränderlich. In dieser seiner Welt hatte sie keinen Raum. Gespräch und Bücherschrank sind andere Welten. Ich stellte – und nur, weil ich gerade auf sie stieß – ihr Fehlen einfach fest. Ich war darüber keineswegs „erschüttert“. Marti, KurtMarti muss Silja Walter, SiljaWalter nicht schätzen, ich – ob ichs Dir gestehen darf? – schätze manche Flächen bei ihr auch nicht. Sie ist nicht umsonst und nicht von ungefähr Schwester Hedwig geworden. Ich musste mit ihr ringen, mein Ringen gründete auf Freundschaft und Instinkt, mein Instinkt bewährte sich, das Ringen ward mir nicht erspart. Das alles hätte Kurt Marti, KurtMarti nicht nötig. Du weißt, dass ich ihn schätze und nun auch liebe, ich bin ziemlich blind für ihn, aber ich bin nicht blind gegen seine Schwächen, auch in den Notizen** gibt es Entbehrliches, das „man“ nicht gern entbehrte, weil dies sein Charme ist: sich möglichst viel vorzunehmen und nicht nachzulassen. Er spricht von allem, was ihm nicht fremd bleiben soll, denn er will nicht, dass etwas Menschliches ihm fremd bleibe, die Hauptsache bleibt, dass er spricht und nicht redet, und die Art seines Sprechens ist unter allen Umständen Nähe suchend.
* Schwester Otto F. Walter, SiljaWalters; vgl. Ulrike Wolitz, UlrikeWolitz; siehe das Verzeichnis der Briefpartner(innen)
** Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. 2. Auflage. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1979
An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 30. Dezember 2015 Nr. 100
Ich säumte lange mit diesem Brief, der zu einem Buch auszuwachsen drohte. Dann kam ich (bei mir) ins Gespräch mit Marti, KurtMarti, und das Schreiben erübrigte sich. Danach gab ichs auch auf: Was soll ich ihn mit Schriftzügen überfahren. Nun wollte ich ihm doch einen Gruß schicken, einen kleinen Dank aus der Verspätung heraus und aus dem Land seiner Bibel. Zum Neujahr erreicht es ihn nicht mehr, vielleicht über Dich aber schneller, jedenfalls sicherer. In den Neujahrspostsäcken gingen diese Zeilen für lange unter. Auf die Unterschrift kommt es sowieso nicht (mehr) an.
Wenn Du kannst, lese ihm die Zeilen oder lass sie ihm zukommen auf einem der kurzen Wege, die Du kennst.
30.12.2015
Lieber Dichter, verehrter Herr Marti, KurtMarti,
jede Zeit hat ihre Verspätung.* Der Satz könnte noch zu KoheletKohelet gehören, den Sie so lieben wie ich. Mit Ihrem Buch über ihn**, mit Ihrer Übersetzung seines Buches, habe ich meine – eben verspätete – Marti, KurtMarti-Lektüre begonnen. So sind Ihre Bücher – mir rührend herzlich von Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan geschenkt – eine Erinnerung nach vorn. Wo immer ich aufschlage, bin ich mittendrin. Marti, KurtMarti ist eine Stadt, wohnlich, für ein gutes Leben eingerichtet, das aber ehrlich verdient werden muss, wenn man sein Gesicht in der Stadt zeigen will. Es zeigt sich nicht in Marti, KurtMarti, es muss ein jeder sich zeigen können. Ich weile seit 2 Monaten in Marti, KurtMarti, lerne alle Quer-, aber auch alle Kreuzverbindungen.
Habe viele Bekannte schon, darunter alte und sehr alte, wie Ihren Freund Rainer Brambach, RainerBrambach, den ich in einem Buch zitiere, und zwar aus dem schmalen Band „Tagwerk“***, den Sie gerade aus dem Regal ziehen, da Sie vom Tode Brambach, RainerBrambach, RainerBrambachs hören, wobei – wie immer bei Ihnen, wenn Sie ein Buch aus dem Regel hervorholen – ein Zeitungsausschnitt herausrutscht. Eine schöne, mir vertraute, nicht ganz „gesunde“ Gepflogenheit, weil sie dem Buch nicht bekommt. Zeitungspapier, zwischen Buchseiten gepresst, hinterlässt Spuren. Nun gehören aber auch die eingefalteten Zeitungsauschnitte zu Ihrer Geschichte mit dem jeweiligen Buch. Man sieht Sie und sieht Ihnen zu, vor dem Regal stehend: Erinnerungen zusammenrufen, Gedanken sammeln, die Worte denkmalend. Etwas will heraus, etwas zum Stehen kommen. In Marti, KurtMarti ist gut spazieren, und Kurt Marti, KurtMarti begleite ich gern durch seine Stadt, in der er nie das Sagen hatte****, aber die nicht zu übersehende Unbeirrbarkeit in Wort und Schrift und Bild. Das Tintenfass gab alle Tropfen in Königsblau her, federführend soll ein anderer werden, doch wo nimmt man einen Pfarrer, der Gedichte spricht und nicht die Leviten liest. Vielleicht machen wir im nächsten Jahr noch einen kleinen Ausflug in Marti, KurtMarti oder mit Ihnen, bei Ihnen.
* Am 23. Oktober 2015 hatte sich eine persönliche Begegnung von E. B. mit dem hochbetagten Schriftsteller-Kollegen Kurt Marti, KurtMarti (1921–2017) ergeben.
** Kurt Marti, KurtMarti: Prediger Salomo: Weisheit inmitten der Globalisierung. Stuttgart: Radius 2002; vgl. Variationen über ein verlorenes Thema, S. 153f.
*** Anm. EB: Brambach, RainerBrambachs „Tagwerk“ ist 1959 bei Fretz & Wasmuth in der Akazienreihe erschienen, in der sollte auch ein Gedichtband von mir, mit einem Vorwort von Margarete Susman, MargareteSusman, erscheinen, wozu es aber nicht gekommen ist. Als Muster wurde mir Brambach, RainerBrambachs „Tagwerk“ geschickt, das mir bis heute lieb geblieben ist, das Zitat daraus lautet: „Ausgesungen ist das Miserere, / nichts als Schnee liegt auf dem leeren Dach“.
**** Kurt Marti, KurtMarti war von 1961 bis 1983 Pfarrer an der Nydeggkirche in Bern. Er engagierte sich im Kampf gegen Atomwaffen und die US-Intervention in Vietnam. 1972 verweigerte ihm der Regierungsrat des Kantons Bern aus politischen Gründen eine Professur für Homiletik an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern.
An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 1. Januar 2016 Nr. 101
Marti, KurtMarti legt keinen Wert darauf, groß gedacht zu haben. Das zeigt sich in seinem Willen, kleinzuschreiben. Keiner Erscheinung abhold, zu Schattierungen neigend, ist ihm – wie einst dem Prediger Salomo – das Licht das Süße. Er kommt auf Gott nicht zu sprechen; nicht dafür wird er bezahlt, doch darum ist er Dichter geworden. Gott spricht, wenn wir zuhören. „Gott ist immer noch, nun auch immer wieder das Wunder“ (Spätsätze)*. Im Zurückhalten wie im Zuschlagen – der Prediger als Gentleman. Er lässt keinen sitzen, keinen fahren, läuft nicht mit und bleibt bei sich nicht stehen: Zeitgenosse rundherum und allerwegs. Dies zu bleiben, ist seine Aufgabe. Ob Marti, KurtMarti Aphoristiker ist? Er ist es als Prediger, als Prediger aber doch lieber Dichter. Dahin wollte er, dahin gelangte er, unbeirrbar und bibelfest. Ich kenne kein Aphorismenbuch von ihm, nur einzelne Aphorismen aus Friedemann Spicker, FriedemannSpickers Sammlung bei Reclam**, sie sind nicht überragend.
Kurt Marti, KurtMarti, Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze
Das steigende Alter,
die zurückgelassenen Jahre.
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