1 ...7 8 9 11 12 13 ...37 Die Interpretation der Chorpartien wird dementsprechend zu zeigen versuchen, inwieweit die Reflexion auf ein bestimmtes Moment der Handlung fokussiert, wie sich diese Fokussierung zum Rahmen der innerdramatischen Gegebenheiten verhält und welche (gegebenenfalls standardisierten) dramaturgischen Implikationen sich gerade hinsichtlich des dramatischen Tempos daraus ergeben.
Eine kontextualisierende Reflexion bezieht sich ebenfalls auf ein bestimmtes Moment der Handlung (worunter der oben gegebenen Definition entsprechend auch die momentane Gesamtlage der am Geschehen beteiligten Akteure verstanden werden kann); anstatt dieses allerdings fokussiert zu betrachten und hinsichtlich einiger ihm immanenter Facetten auszuleuchten, sucht diese Reflexion vielmehr, es in einen größeren Rahmen einzuordnen, der den unmittelbaren Bezugsrahmen des dramatischen Geschehens übersteigt.1 Dieses Kontextualisieren eines Moments dient dabei dazu, eine weitere Deutungsebene einzublenden, vor der das dramatische Moment selbst bzw. auch die gesamte Handlung neu oder anders ausgedeutet werden können.
Welche umfassenderen, den Rahmen des unmittelbaren dramatischen Geschehens übersteigende Kontexte kommen dabei in Frage? Eine reflektierende Partie kann das Geschehen bzw. einen Aspekt desselben in einen theologisch-religiösen oder einen allgemeinphilosophisch-gnomischen Kontext einordnen und dabei entweder nur das Wirken (quasi-)göttlicher,2 abstrakter3 Mächte bzw. menschlicher Grundkonstanten4 feststellen, oder – in einem noch umfassenderen Sinne kontextualisierend – dem Geschehen als Konkretisierung einer allgemeinen Wahrheit geradezu exemplarischen Charakter zusprechen.5 Ähnliches gilt im Fall der Einordnung dramatischer Momente in den Zusammenhang der (Familien-)Geschichte6 oder beim Aufweis mythischer Parallelen,7 die eine Kontextualisierung des Bühnengeschehens ermöglichen bzw. andeuten.
Ob dabei das dramatische Moment den Ausgangspunkt der Partie bildet oder die Reflexion erst konkretisierend auf das dramatische Moment zuläuft, bleibt im Wesentlichen der bewussten Komposition des Dichters überlassen, der damit je eigene dramaturgische Absichten verfolgt: Ein zu Beginn einer kontextualisierenden Partie gesetzter Bezug zum dramatischen Kontext holt die Rezipienten geradezu in der Handlung ab und öffnet das Geschehen in Richtung einer weiteren Deutungsebene,8 womit – über die gesamte Partie gesehen – grundsätzlich eine Entschleunigung des dramatischen Tempos gegeben sein wird. Dagegen bewirkt die entgegengesetzte Struktur, d.h. die Nennung des Anknüpfungspunkts erst am Ende der kontextualisierenden Partie, über alles gesehen eine beschleunigende Rückführung in die dramatische Realität, nachdem sich der Beginn der Passage zunächst vom unmittelbaren Kontext abgehoben haben wird.9 Näheres muss dabei die Einzelinterpretation ad locum zeigen; auch inwiefern eine der beiden Kompositionsformen für kontextualisierende (und andere) Chorpassagen typisch ist, wird sich erst nach Auswertung der Einzelergebnisse feststellen lassen.
Die Interpretation solchermaßen kontextualisierender Passagen hat dementsprechend im Besonderen den jeweiligen Anknüpfungspunkt zum dramatischen Geschehen herauszustellen und den Rahmen zu umreißen, in den das Geschehen durch den Chor gestellt wird. Auf der Basis dieser durch die Reflexion entworfenen Deutungsebene(n) müssen darüber hinaus die dramaturgischen Implikationen der entsprechenden Partie sowie ihre motivische Verankerung innerhalb des Dramenganzen untersucht werden.
4. Chorische Binnengliederung – dramaturgische Implikationen des Einzelstücks
Von besonderer Bedeutung wird es bei der Interpretation der Einzeltragödien sein, den Beziehungen zwischen den Chorpartien selbst nachzugehen, d.h. zu fragen, ob gewisse Chorpartien einander ergänzen, aufeinander Bezug nehmen oder hinsichtlich ihrer Motivik, ihrer Reflexionsinhalte und -strategien bzw. der ihnen eigenen dramaturgischen Funktionalisierung miteinander korrelieren. Diese Bezugnahmen der Chorpartien untereinander sollen dabei unter dem Stichwort „chorische Binnengliederung“ zusammengefasst werden.
Von besonderer dramaturgischer Bedeutung ist dabei das strukturierende Potential, das einer so gearteten chorischen Binnengliederung zukommt: Jenseits der rein formalen Gliederung, die die regelmäßige Einschaltung lyrischer Partien mit sich bringt, ist dem Dichter mit den Chorpartien so ein besonders wirksames Mittel gegeben, seine Tragödie auch motivisch-thematisch zu gliedern bzw. zu runden. Um die Bedeutung zu ermessen, die dem strukturellen Potential chorischer Binnengliederung im Fall unseres Autors zukommt, muss ein besonderer Umstand des uns vorliegenden Werks ins Gedächtnis gerufen werden.
Die uns vollständig überlieferten Tragödien des Sophokles waren nicht Bestandteile von Inhaltstetralogien,1 bei denen zumindest die drei zum Wettbewerb eingereichten Tragödien (tragische Trilogie) als eine Folge von Fortsetzungsstücken abschnittsweise und chronologisch aufeinander aufbauend einen Mythos auf die Bühne brachten.2 Mit aller gebotenen Vorsicht lässt sich auf Grund der Quellenlage behaupten, dass gerade Sophokles ab einem gewissen Zeitpunkt3 die Abkehr vom (aischyleisch geprägten) Kompositionsschema der Inhaltstetralogie4 hin zur Komposition von drei (Tragödien) bzw. vier thematisch in sich geschlossenen Stücken propagiert hat.5 Die so zu einer Tetralogie zusammengefassten Stücke waren, wenn überhaupt, nur noch thematisch-motivisch miteinander verknüpft.6 Eine Rekonstruktion der so gearteten sophokleischen Tetralogien ist allerdings bereits auf Grund der mangelnden Zeugnisse sehr schwierig: Bei vielen Stücken ist schlicht nicht bekannt, mit welchen anderen Dramen sie in einer Tetralogie zusammengefasst waren. Dass von einem Großteil der Tragödien einzig die Titel bekannt sind, erschwert eine Gesamtschau zudem. Beginnend mit Aristoteles7 scheint darüber hinaus auch die Tragödienphilologie der späteren Zeit kein besonderes Gewicht mehr auf die Trilogien- bzw. Tetralogienkomposition gelegt zu haben (vgl. die uns vorliegende Auswahl von sieben Einzelstücken sowie der darin enthaltenen byzantinischen Trias zu Schulzwecken).
Auch wenn uns so in Sophoklesʼ Fall die Vergleichsmöglichkeiten genommen sind,8 lässt sich schließen, dass sich die Komposition einer in den Verbund einer Inhaltstetralogie eingebundenen Tragödie von der eines als Einzelstück komponierten Dramas unterschieden haben muss: Die Anordnung der einzelnen Formteile, Szenen und Auftritte, die Phasierung des Stücks und demgemäß die poetisch-motivische Arbeit im Einzelnen dienen dem Aufbau eines auf die Dauer eines Stücks bemessenen Spannungsbogens. Dass in diesem Zusammenhang gerade die Gestaltung der Chorpassagen und ihre dramaturgische Funktionalisierung auch diesem Zweck dienen, ist folgerichtig. Konkret gesagt: Die formale Geschlossenheit, gar die durch offensichtliche Bezüge und Spiegelungen inhaltlicher9 oder formaler10 Natur erzeugte Rundung einer der uns überlieferten Tragödien festzustellen, ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen alles andere als banal.
V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit – praeliminaria
1. Zielsetzung und wesentliche Charakteristika dieser Untersuchung
Die vorliegende Arbeit setzt es sich zur Aufgabe, die „chorische Technik“1 des Sophokles eingehend zu beleuchten. Zu diesem Zweck soll auf der Basis einer detaillierten Interpretation der einzelnen Chorpassagen innerhalb der Tragödien ein möglichst umfassendes Bild des Formteils „Chor“ bei Sophokles gegeben werden. Im Vordergrund steht dabei zunächst das vertiefte Verständnis der entsprechenden Partie bzw. der in Rede stehenden Tragödie auf Basis des in dieser Einleitung entwickelten Instrumentariums. Ausgehend von den so erarbeiteten Einzelergebnissen soll ein schrittweiser Überblick über größere Einheiten (Lied/Chorpartie – Einzelstück – Gruppe – Gesamtwerk) generelle Erkenntnisse zur chorischen Technik bzw. zur Chorführung herausarbeiten.
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