Stephanie Catani - Geschichte im Text

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Wie lässt sich über Geschichte schreiben, wenn diese zuverlässig nicht mehr zur Verfügung steht? Ausgehend von dieser Fragestellung untersucht der Band die Literatur der Gegenwart als jenen Schauplatz, auf dem die Konkurrenz von Fakten und Fiktion im Zeichen historischer Narration sowie im Sinne einer geschichtstheoretisch begründeten «Bruchhaftigkeit der Geschichte» verhandelt wird.
Im ersten Teil werden die Signaturen eines seit dem 18. Jahrhundert kontrovers diskutierten Geschichtsbegriffes untersucht, der die Grenze zwischen Fiktion und Historie neu auslotet. Der zweite Teil gilt der Analyse historisch-fiktionaler Texte nach 1989: Diese erzählen nicht einfach von der Geschichte, sondern reflektieren dieses Erzählen bereits. Über traditionelle narratologische Fragen hinaus erfolgt die Textlektüre vor dem Hintergrund jüngster Erkenntnisse der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie, der Psychotraumatologie sowie der Medientheorie.

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Jahrhunderts: Die Einsicht, dass Geschichte und Literatur gleichermaßen durch die narrative Form ihrer Repräsentation bestimmt und damit einander durchaus verwandt sind, wird als Angriff auf eine der ›Wahrheit‹ verpflichteten Historiografie wie auf den poetischen Zuständigkeitsbereich literarischer Texte gewertet. Entsprechend kommt es zu einer Idealisierung frühaufklärerischer Formen der Geschichtsschreibung, die chronikalisch arbeitet und ihre »vornehmste Aufgabe in der Erarbeitung von Herrschergenealogien, Kirchen- und Fürstengeschichten« erkennt.17 Darüber hinaus unterliegt die Historie, wie auch die Dichtkunst, wenn sie Geschichte (be-)schreibt, geltenden poetologischen Regeln – Ansprüche an Formen und Inhalte der Dichtkunst werden auf den Gegenstand der Geschichtsschreibung übertragen und verantworten ein Konkurrenzverhältnis zwischen historischer und dichterischer Darstellung, wie Gottsched und Lessing es stellvertretend beschreiben. Aus diesem die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts noch dominierenden Konkurrenzverhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung entwickelt sich sukzessive ein Ringen um die Selbständigkeit beider Disziplinen, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts und endgültig erst im 19. Jahrhundert zu eigenständigen, nun auch wissenschaftlich differenzierten Fächern ausgebildet werden. Die zunächst fehlende Trennschärfe zwischen Geschichte und Dichtung macht sich insbesondere im akademischen Bereich bemerkbar, wo die Fächer nicht nur, wie etwa im Stundenplan der Jesuiten, zusammengehören, sondern die ersten Lehraufträge für Geschichte von Poetik-Professoren übernommen werden.18 Wesentliche Impulse für das Entstehen einer modernen Geschichtswissenschaft gehen dabei von der Reformuniversität Göttingen aus, die bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannte zeitgenössische Historiker wie August Ludwig von Schlözer, Ludwig Thimoteus Spittler, Arnold Hermann Ludwig Heeren oder Johann Christoph Gatterer versammelt und einen geschichtswissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt entwickelt. Andernorts jedoch dominieren nach wie vor die Fächer Theologie und Jurisprudenz die akademische Ausbildung und kann sich die im universitären Betrieb als selbständiges Fach lediglich als Hilfswissenschaft etablieren.19 Als erklärtes Ziel spätaufklärerischer Historik erweist sich daher die Entwicklung fachspezifischer Methoden, insbesondere im Bereich der Quellenkritik und der Quellenedition. Zugleich wird der Geschichtsbegriff neu formuliert – im Sinne eines überzeitlichen Prozesses, der nicht in der chronikalischen Auflistung einzelner Begebenheiten, sondern in kohärenzstiftenden Erzählungen vermittelt wird. Im Übergang von der alteuropäischen zur modernen Gesellschaft kommt es dabei fachübergreifend zu einer Etablierung innovativer Begrifflichkeiten, die eine Vielzahl verstreuter Erscheinungen nun »als kontinuierliches Ganzes« präsentieren, sprachlich in Form von Kollektivsingularen erfasst. Darunter fällt auch der Geschichtsbegriff, der bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wie bei Gottsched noch in der (zumindest gedachten) Pluralform dominiert und die moderne, polyvalente Bedeutung erst einer grundsätzlichen Neuausrichtung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verdankt.20 Reinhart Koselleck, der die Wandlung des Geschichtsbegriffes im Detail nachvollzogen hat, unterstreicht dessen semantische Neuorientierung, die auf dem Weg von ›den Geschichten‹ zur ›Geschichte‹ mit einem gestiegenen Abstraktionsgrad einhergeht. Das vom Subjekt individuell Erfahrene, bei Gottsched noch unter die »hier und da« zugetragene Begebenheit gefasst, verliert sukzessive an Bedeutung im Gegensatz zu einem entindividualisierten und überzeitlichen Begriff der Geschichte als das weite Feld menschlicher Fähigkeiten, als Raum von Handel und Wandel, von tastenden und entschiedenen Versuchen, sich aus der ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ (Kant) herauszuarbeiten und unter der Weisung der Vernunft den höchstmöglichen Grad an Vervollkommnung, an Perfektibilität des Menschengeschlechts zu erreichen.21 Erst der Kollektivsingular schreibt der Geschichte einen bis zu diesem Zeitpunkt kaum berücksichtigten prozesshaften Charakter ein – durch den Wandel der einzelnen Geschichte(n) zur »Geschichte überhaupt« avanciert die Geschichte vom Objekt, noch einmal mit Koselleck, »zu ihrem eigenen Subjekt«.22 Mit der Einsicht, dass Geschichte von der Form ihres Erzähltwerdens abhängig ist, gerät die narrative Form der Geschichtserzählung nun unweigerlich in den Fokus geschichtswissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Entsprechend wird gerade der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert als Schwellenzeit für den modernen Geschichtsbegriff wie das akademische Fach erkannt und mit der Frage nach der Repräsentation von Geschichte und ihren textuellen Verfahren eben hier angesetzt.23 Beispielhaft problematisiert Johann Martin Chladenius, durch Koselleck als »Vorbote der Neuzeit« hinreichend gewürdigt,24 in seinem Werk Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit gelegt wird(Leipzig 1752) die reziproke Verschränkung von Geschichte und Erzählung: § 16. Geschichte und Erzehlungen gehören zusammen. Weil historische Sätze, Erzehlungen und Nachrichten nicht stattfinden, wo nicht die dadurch ausgedruckten Begebenheiten und Geschichte vorausgesetzt werden (§ 15.): hingegen Begebenheiten und Geschichte, die uns nicht vorgestellt werden, auch kein Vorwurff unserer Betrachtung seyn können; so gehören zum Begebenheiten auch Erzehlungen und Nachrichten und wiederum zum Erzehlungen und Nachrichten gehören Geschichte. Mithin gehören diese Dinge so zusammen, daß eins ohne das andere nicht seyn kan. Sie müssen aber dennoch voneinander unterschieden werden; weil die historischen Schwierigkeiten bald aus der Geschichte und Begebenheit selbst, bald aber aus den Nachrichten und Erzehlung entspringen.25 Einmal mehr dokumentieren die Ausführungen Chladenius’, wie deutlich die Narrativität historischen Wissens bereits zu Beginn der Fachgeschichte einen Gegenstand disziplininterner Reflexionen darstellt. Darüber hinaus bereitet die hier noch versuchte Differenzierung zwischen den Begriffen der Geschichte (als den stattgefundenen Begebenheiten) und der Erzählung bzw. der Nachricht (als den Berichten von den Begebenheiten) auf die entscheidende semantische Neueinschreibung im auslaufenden 18. Jahrhundert vor, die an die Seite der bereits skizzierten Ausweitung des nun als Kollektivsingular etablierten Geschichtsbegriffs tritt. Geschichte, ursprünglich – von Lessing zu Chladenius – als res gestae(die vergangenen Ereignisse) verstanden, meint nun zunehmend auch die historia rerum gestarum(historische Beschreibungen der vergangen Ereignisse), bezieht sich damit gleichzeitig auf das Sujet der Geschichtsschreibung wie auf das Medium derselben.26 Damit avanciert Geschichte unweigerlich vom ›Wirklichkeitsbegriff‹ zum ›Reflexionsbegriff‹, der, indem er sich auf die sprachliche Vergegenwärtigung der Vergangenheit bezieht, bereits kritisch auf die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen ›Geschichtsarbeit‹ verweisen muss.27 Koselleck macht diesen entscheidenden Wandel an der terminologischen Unschärfe zwischen den Begriffen der historie(Wissenschaft und Erzählung von der Geschichte) und Geschichte(vergangener Ereignis- und Handlungsbereich) fest, der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts durch ein langsames Verschwinden der historiebemerkbar macht: Deren Bedeutung wird nun sukzessive auf die Geschichteübertragen.28 Sind es zu Beginn des Jahrhunderts Poesie und historie, die sich im Konkurrenzverhältnis befinden, etwa bei Gottsched, wenn er feststellt: »Sie [die Fabeln der Poesie, S.C.] sind dabei noch lehrreicher als die bloße Historie, weil sie ausdrücklich dazu erfunden worden […]«,29 ist es zur Jahrhundertwende der Begriff der Geschichte schlechthin, der jenem der Dichtung entgegengehalten wird. Diese semantische Neuausrichtung des Geschichtsbegriffs, der nun das tatsächlich Ereignete wie das retrospektive Erzählen davon gleichermaßen benennt, sorgt gegen Ende des 18. Jahrhunderts für neue Bewertungen hinsichtlich des Verhältnisses von Literatur und Geschichte bzw. Geschichtsschreibung. Deutlich pragmatischer als noch Gottsched und Lessing urteilt etwa Goethe, wenn er in den Maximen und Reflexionenpointiert: Die Frage, wer höher steht, der Historiker oder der Dichter? darf gar nicht aufgeworfen werden; sie concurriren nicht mit einander, so wenig als der Wettläufer und der Faustkämpfer. Jedem gebührt seine eigene Krone.30 Auch die von Gottsched und Lessing problematisierte narrative Form der Geschichtserzählung, die durch das Einbringen fiktionaler Elemente die Wirklichkeit verstelle, wird von Goethe gänzlich anders bewertet: Die Pflicht des Historikers ist zwiefach; erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bey sich selbst muß er genau prüfen was wohl geschehen seyn könnte, und um des Lesers willen muß er festsetzen was geschehen sey. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Collegen ausmachen; das Publicum muß aber nicht ins Geheimniß hineinsehen, wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden.31 Goethe verwendet den Geschichtsbegriff hier bereits in seiner ambivalenten Bedeutung, welche die Geschichte als Erzählung der historischen Fakten, mithin als Objekt wie Subjekt der Repräsentation, bereits reflektiert. Mit der Einsicht, »wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden«, antizipiert Goethe gleichsam die moderne Erkenntnis, dass der narrativen und immer schon nachzeitigen Repräsentation der Fakten eine genuine Unzuverlässigkeit eingeschrieben ist, die nicht zuletzt aus den subjektiven Selektions- und Interpretationsverfahren des Geschichtsschreibers resultiert. Gänzlich anders als Lessing und Gottsched bewertet Goethe hier die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des historischen Geschehens. Hatten erstere über diesen Begriff Dichtung und Geschichtsschreibung gerade voneinander abgegrenzt, überträgt Goethe Gottscheds wie auch Aristoteles’ Ideal der dichterischen Tätigkeit (»etwas so , wie es gemäß Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde«)32, auf den Geschichtsschreiber. Um die Unzuverlässigkeit der Geschichte bereits wissend, überwindet Goethe die naive Forderung, Geschichte müsse erzählen, was ›wirklich‹ geschehen ist und erkennt, dass eine der zentralen Aufgaben des Historiografen darin besteht, über die ›Wahrscheinlichkeit‹ des von ihm Beschriebenen (wenngleich nach wissenschaftlichen Grundsätzen) zu entscheiden und damit die zwangsläufig eingebrachten Selektions- und Interpretationsverfahren der Historiografie sichtbar zu machen. 2.2 Friedrich Schiller: Vordenker der modernen Geschichtswissenschaft Niemand repräsentiert die Schnittstelle zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung im auslaufenden 18. Jahrhundert derart nachdrücklich wie Friedrich Schiller, der in den Jahren zwischen 1787 und 1793 als Verfasser historischer Schriften, allen voran der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierungund der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs, außerordentliche Erfolge feiern kann. Dessen ungeachtet sorgt diese ›historiografische Zeit‹ innerhalb der literatur- wie geschichtswissenschaftlichen Forschung als »graue Zone im Leben Schillers«1 lange Zeit für Unbehagen, so dass sich noch 1995 in einem Aufsatzband zu »Schiller als Historiker« einleitend folgendes Urteil findet: Keine der hier zuständigen Wissenschaften fühlte sich bisher dafür verantwortlich. Die Literaturwissenschaften haben sich für die Geschichtsprosa Schillers bisher nie recht zuständig gefühlt; denn sie waren und sind auf die fiktive Literatur, die Dichtung und damit auch auf den Dichter Schiller fixiert. Innerhalb der Geschichtswissenschaft ist Schiller noch nie recht beachtet worden.2 Kritik erfährt Schillers historiografische Tätigkeit insbesondere im 19. Jahrhundert, allen voran durch Vertreter des Historismus, die Schillers historische Texte ausgehend von den eigenen Ansprüchen an eine möglichst gewissenhafte Quellensichtung und akribische Archivarbeit gerne verwerfen – ablesbar an Leopold von Rankes vielzitiertem Urteil: »Schiller hatte keinen Beruf zum Geschichtsschreiber«.3 Diese Vorwürfe jedoch greifen zu kurz und ignorieren, dass, wie Peter-André Alt in seinem Kommentar zu den historischen Schriften Schillers zu Recht betont, die »am methodischen Ideal der exakten Quellenprüfung ausgerichteten Arbeiten eines Niebuhr, Mommsen oder Droysen […] Maßstäbe [setzten, S.C.], mit denen Schillers Studien nicht zu erfassen waren.«4 Wie die Geschichtswissenschaft grundsätzlich, so ist die Geschichtsschreibung in ihrem Selbstverständnis im 18. Jahrhundert weit von inzwischen standardisierten methodischen Prämissen entfernt. Daniel Fulda folgt Alts Urteil und unterstreicht, dass die im 19. Jahrhundert laut werdende Kritik an der vermeintlich schlecht recherchierten sowie quellenkritisch kaum reflektierten Form der Geschichtsdarstellung keineswegs Schiller im Besonderen zur Last gelegt werden könne. Vielmehr entspreche sie den wissenschaftlichen oder besser: noch nicht wissenschaftlichen Gepflogenheiten der damaligen Zeit.5 In jüngster Zeit hat sich die Forschungslage sowohl aus geschichts- wie literaturwissenschaftlicher Perspektive verändert und ist die lange Zeit marginalisierte historische wie historiografische Tätigkeit Schillers als »entscheidender Schritt in die historiographische Moderne« neu gewertet worden.6 Die ›Renaissance‹ des Historikers Schiller zu Beginn des dritten Jahrtausends verdankt sich nicht zuletzt der Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft selbst. Diese muss sich in der Folge des linguistic turnder kritischen Einsicht stellen, dass eine der Sprache vorgängige Geschichte nur schwer zu haben ist, und unterzieht davon ausgehend die für die Konstitution historischen Wissens verantwortlichen narrativen Strukturen neuen Analysen. Geschichte und Literatur geraten durch die sie ausmachende narrative Repräsentation in ein verwandtschaftliches Verhältnis, das leicht an jene Einsichten Schillers rückzukoppeln ist, die sein Denken im Grenzraum von Literatur und Geschichte prägen. Programmatisch versteht sich in diesem Zusammenhang das berufliche Selbstverständnis, das Schiller etwa im Briefwechsel mit dem Freund Gottfried Körner entwirft. So verteidigt er sich am 7. Januar 1788, zur Zeit der Fertigstellung seines Manuskripts zur Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlandein einem Brief an Körner gegen dessen Kritik an der vermeintlich ›prosaischen‹ historiografischen Tätigkeit Schillers und legt seinen eigenen Begriff einer ›schöpferischen‹ Geschichtsschreibung dar: Deine Geringschätzung der Geschichte kommt mir unbillig vor. Allerdings ist sie willkührlich, voll Lücken und sehr oft unfruchtbar, aber eben das willkührliche in ihr könnte einen philosophischen Geist reitzen, sie zu beherrschen; das leere und unfruchtbare einen schöpferischen Kopf herausfordern, sie zu befruchten und auf dieses Gerippe Nerven und Muskeln zu tragen.7 Indem Schiller die Geschichte hier anthropomorphisiert und in das Zeichensystem des menschlichen Körpers übersetzt, macht er ihren prozesshaften, im Verlauf subjektiven Beeinflussungen ausgesetzten Status sichtbar. Geschichte lässt sich mit Schiller nicht als in sich abgeschlossene, linear nachvollziehbare Faktensammlung begreifen, sondern liefert lediglich ein körperloses »Gerippe«, das erst durch den Schöpfungsakt des Historiografen, insbesondere aber den »philosophischen Geist« des Dichters zum funktionstüchtigen Körper avanciere. Schiller nimmt das Bild der auf ein menschliches Skelett reduzierten Geschichte noch einmal auf, wenn er die Geschichte des dreissigjährigen Kriegsmit einem Ausblick auf die noch zu schreibende Geschichte des Westfälischen Friedens (die er selbst allerdings nicht mehr verfassen wird) wie folgt beschließt: [U]nd so ein großes Ganze die Kriegsgeschichte war, so ein großes und eignes Ganze ist auch die Geschichte des Westphälischen Friedens. Ein Abriß davon kann mit der hier nöthigen Kürze nicht gegeben werden, ohne das interessanteste und charaktervolleste Werk der menschlichen Weisheit und Leidenschaft zum Skelet entstellen, und ihr gerade dasjenige zu rauben, wodurch sie die Aufmerksamkeit desjenigen Publikums fesseln könnte, für das ich schrieb, und von dem ich hier Abschied nehme.8 Hier wird deutlich: Im Gegenteil etwa zu Gottscheds oder Lessings Warnungen vor einer poetischen ›Anreicherung‹ historiografischer Darstellungen erkennt Schiller gerade darin die Pflicht einer Geschichtsschreibung, wenn sie überhaupt Wirkung beim Publikum zu erzielen beabsichtigt. In der narrativen Form, die jedes historisches Geschehen erst vermittelbar macht, sieht Schiller für sich selbst die Chance, die Geschichte »aus einer trockenen Wissenschaft in eine reitzende« zu verwandeln und sich mittels einer historischen Einbildungskraft von genaue jenen »seichte[n], trockne[n] und geistlose[n] Bücher[n]« abzuheben, die er selbst zum Quellenstudium heranziehen musste.9 Golo Mann bleibt eine Ausnahme unter den frühen Urteilen zu Schillers historiografischer Arbeit, wenn er dessen Leistung als Historiker gerade darin erkennt, zu wissen daß Erzählen selbst dessen, was sich wirklich begeben, immer auch Dichtung ist, weil es so, wie es wirklich gewesen, in seiner formlosen Unendlichkeit, sich ja doch nicht ergreifen läßt; daß, wer etwas erzählen will, es schön erzählen muß, und sein eigenes Ich mit einsetzen, und Worte zu Rhythmen fügen und so den Chaosdrachen bannen für eine Zeit.10 Entscheidend ist, dass Schiller die erzählerisch-stilistische Aufwertung einer Geschichtserzählung dabei nicht (wie etwa Lessing) mit der Verminderung ihrer wissenschaftlichen Seriosität gleichsetzt – auf diese nämlich besteht er mit Nachdruck, etwa in seiner Vorrede zur Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung: Meine Absicht bei diesem Versuche ist mehr als erreicht, wenn er einen Teil des lesenden Publikums von der Möglichkeit überführt, daß eine Geschichte historisch treu geschrieben seyn kann, ohne darum eine Geduldprobe für den Leser zu seyn, und wenn er einem andern das Geständniß abgewinnt, daß die Geschichte von einer verwandten Kunst etwas borgen kann, ohne deswegen nothwendig zum Roman zu werden.11 Dass eine solche, mit Versatzstücken aus der »verwandten Kunst« bestückte Geschichtsschreibung die Historie jedoch nicht einfach rekonstruiert, sondern unter Umständen neu konstituiert, ist Schiller durchaus bewusst – wie er in einem Brief an Körner im Februar 1788 selbstbewusst zugibt: Eigentlich, lieber, finde ich doch mit jedem Tage, daß ich für das Geschäft, welches ich jetz treibe, so ziemlich tauge. Vielleicht gibt es beßere, aber nenne mir sie. Die Geschichte wird unter meiner Feder, hier und dort, manches, was sie nicht war. Das sollst Du am Ende selbst erkennen, wenn Du erst mein Buch gelesen haben wirst.12 Die Schiller’sche Erkenntnis, dass der historiografische Prozess (und darin dem literarischen gleich) immer auch ein sinnstiftender ist, reflektiert zum einen den bereits skizzierten polyvalenten Geschichtsbegriff, der sowohl den Kollektivsingular »Geschichte« als Verdichtung einzelner historischer Ereignisse, die res gestae, wie auch deren nachträgliche Repräsentation, die historia rerum gestarum, meint. Zum anderen antizipiert die bei Schiller formulierte Einsicht, dass dem Weg von den historischen Fakten zur narrativen Repräsentation dieser Fakten ein genuine Unzuverlässigkeit eingeschrieben ist, bereits Resultate des linguistic turns, der den Wirklichkeitsbegriff als erst sprachlich repräsentiertes und damit performativ erzeugtes Phänomen begreift. Schiller selbst problematisiert diese der Geschichte genuin eingeschriebene Unzuverlässigkeit noch nicht, sondern löst sie in seiner Gegenüberstellung von ›historischer‹ und ›poetischer‹ Wahrheit auf. Programmatisch entfaltet er diesen Gegensatz in einem Brief an Caroline von Beulwitz im Dezember 1788: Was Sie von der Geschichte sagen ist gewiß ganz richtig, und der Vorzug der Wahrheit, den die Geschichte vor dem Roman voraushat, könnte sie schon allein über ihn erheben. Es fragt sich nur ob die innre Wahrheit, die ich die philosophische und Kunstwahrheit nennen will, und welche in ihrer ganzen Fülle im Roman oder in einer andern poëtischen Darstellung beherrschen muß, nicht eben soviel Werth hat als die historische. […] Die Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegenstände müssen sich gefallen laßen, was sie unter meinen Händen werden.13 Hier deutet sich jener Geschichtsbegriff an, den Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?etablieren wird und der die Geschichte nicht mehr als reine Ansammlung von Fakten, sondern als »ganze moralische Welt« verstehen will.14 In seiner Vorlesung entfaltet Schiller ein universalhistorisches Systemdenken, das Geschichte als kohärenten, teleologisch ausgerichteten Prozess aufzufassen sucht, der das Gegenwärtige nur aus der Vergangenheit fassbar macht: »[D]ie ganze Weltgeschichte würde wenigstens nöthig seyn, dieses einzige Moment zu erklären.«15 Tatsächlich sind es jedoch nicht dieser in der Antrittsvorlesung emphatisch vorgetragene Geschichtsoptimismus und das teleologische Geschichtsmodell, die Schillers Ruf als modernen Geschichtsschreiber begründet haben. Vielmehr ist Daniel Fulda zuzustimmen, wenn er mit Blick auf die Schiller-Rezeption schlussfolgert: »Modernität wird Schillers Ansicht vom Geschichtsprozeß nur dort zugemessen, wo er sie einer (Selbst-)Kritik unterzieht.«16 Für die Frage nach den historischen Zusammenhängen von Geschichtsschreibung und Dichtung können die geschichtsphilosophischen Überlegungen Schillers außer Acht gelassen werden. Vielmehr sollen abschließend seine Ausführungen zu narrativen Strukturen der Historiografie berücksichtigt werden, die einmal mehr in der Antrittsvorlesung auffallen, wenn Schiller hier Prozesse der schriftlichen und mündlichen Überlieferung als Quellen historischer Erkenntnis ausführlich problematisiert: I. […] Die Quelle aller Geschichte ist Tradition, und das Organ der Tradition ist die Sprache. Die ganze Epoche vor der Sprache, so folgenreich sie auch für die Welt gewesen, ist für die Weltgeschichte verloren. II. Nachdem aber auch die Sprache erfunden und durch sie die Möglichkeit vorhanden war, geschehene Dinge auszudrücken und weiter mitzutheilen, so geschah diese Mitteilung anfangs durch den unsichern und wandelbaren Weg der Sagen. […] Die lebendige Tradition oder die mündliche Sage ist daher eine sehr unzuverläßige Quelle für die Geschichte, daher sind alle Begebenheiten vor dem Gebrauche der Schrift für die Weltgeschichte so gut als verloren. III. Die Schrift ist aber selbst nicht unvergänglich […]. Bey weitem der größre Theil ist mit den Aufschlüssen, die er uns geben sollte, für die Weltgeschichte verloren. IV: Unter den wenigen [Quellen, S.C.] endlich, welche die Zeit verschonte, ist die größere Anzahl durch die Leidenschaft, durch den Unverstand und oft selbst durch das Genie ihrer Beschreiber verunstaltet und kennbar gemacht. […] – Die kleine Summe von Begebenheiten, die nach allen bisher geschehen Abzügen zurückbleibt, ist der Stoff der Geschichte in ihrem weitesten Verstande.17 Indem Schiller hier nicht nur die Abhängigkeit der Geschichte von der Sprache, sondern darüber hinaus die Unzuverlässigkeit mündlicher Überlieferung sowie den häufig fragmentarischen Charakter schriftlicher Quellen und zuletzt die Figur des Geschichtsschreibers als subjektiven Interpreten der Geschichte problematisiert, stößt er mitten in den modernen geschichtswissenschaftlichen Diskurs vor, dessen Selbstverständnis mit der Einsicht in die ›sprachliche Verfasstheit‹ der Geschichte radikal erschüttert wird. Insofern lässt sich Schiller durchaus als Vorbote eines im Zeichen von Poststrukturalismus wie Postmoderne problematisierten Geschichtsbegriffes verstehen und von hier aus ist die auffällige Wiederentdeckung seiner historischen Schriften gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts erklärbar.18 Schiller selbst nimmt die daraus resultierende Literarisierung der Historie mit Blick auf die moralischen wie ästhetischen Wirkungsabsichten seiner historischen Schriften gerne in Kauf. Es ist, mit Johannes Süssmann, gerade sein kulturpolitisches Engagement, das »die Historie aus dem akademischen Ghetto vor die Augen der Nation« führt.19 Dass Schiller trotz seines Wissens um die narrative Modellierung historischen Wissens an dem historischen Erkenntnisgewinn einer auch poetisch angereicherten Geschichtsschreibung festhält, macht ihn zum Vordenker einer neuen Epoche der Geschichtswissenschaft und insofern stellt »das Bekenntnis zur Konstruktivität jeder Historiographie nach Maßgabe des jeweiligen Perspektivpunkts […] eine epochale geschichtstheoretische Leistung speziell Schillers dar.«20 2.3 Der Historismus des 19. Jahrhunderts Das aufklärerische 18. Jahrhundert vergegenwärtigt, so konnte gezeigt werden, jene Epoche, die den Beginn der Geschichtswissenschaft als autonome akademische Disziplin markiert und von einem entsprechenden Bemühen um ihre Professionalisierung geprägt ist. Zu diesem gehört die Differenzierung zwischen einer sich erst entwickelnden wissenschaftlichen Historiografie und der zeitgenössischen Poesie, mithin zwischen Historiker und Dichter. Im 19. Jahrhundert hingegen rücken beide Bereiche im Zuge der Etablierung der Geschichte als eigenes Wissenschaftsfach und einer damit verbundenen Ausweitung fachinterner Reflexionen zumindest vorgeblich auseinander. Die historische Forschung gewinnt an Relevanz und löst, so hält etwa Hans Schleier in seinem Epochenüberblick fest, die didaktisch-rhetorischen Funktionen ab, die man im 18. Jahrhundert etwa mit der Dichtkunst Gottscheds verbunden hatte. Nun avancieren eine sorgfältige Editionsarbeit, die Verwertung neuer Quellen sowie die Archivarbeit zum neuen Maßstab historischen Erkenntnisgewinns.1 Als Historismus im engeren Sinn bezeichnet Schleier dieses neue geschichtswissenschaftliche Selbstverständnis, das nun mit Vertretern wie Wilhelm von Humboldt, Leopold von Ranke oder Georg Waitz die Geschichtsauffassungen und die Historiografie durchdringe und »die Suche nach genauem Detailwissen und neuen Quellen« fördere.2 Diesen enger gefassten Historismus-Begriff scheint auch Hans-Jürgen Goertz zu meinen, wenn er in Aufklärung und Historismus jene Epochen erkennt, die – gerade in ihren Differenzen – auf noch anhaltende Diskussionen um die Darstellbarkeit einer ›historischen Realität‹ und dabei auf einen Umgang mit der Wirklichkeit verweisen, »der heute noch eine Rolle spielt«. 3 Die Gleichsetzung neuer geschichtstheoretischer Überlegungen wie geschichtswissenschaftlicher Praktiken des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff des Historismus ist hingegen nicht unumstritten: Noch immer herrscht in Bezug auf ihn kein Konsens, allen voran die 1990er Jahre stehen für die Brisanz der Debatte, wenngleich Daniel Fulda zuzustimmen ist, der diesbezüglich anmerkt, dass die Anzahl der Historismus-Begriffe »glücklicherweise« hinter die Menge der Fachvertreter zurückfalle, die sich an der Diskussion beteiligen.4 Einflussreich erweist sich in diesem Zusammenhang das Bemühen einer Gruppe von Historikern um Jörn Rüsen, die den Historismus, im Sinne der oben formulierten Epochenbezeichnung Schleiers, als Begriff für eine grundsätzliche ›Verwissenschaftlichung‹ historischen Denkens und Forschens etablieren. Diese habe mit der Spätaufklärung eingesetzt, präge insbesondere die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts und habe hier einen »Prozeß dauernden Wissenszuwachs in Gang gesetzt«.5 Die besondere Leistung eines so verstandenen Historismus’ sei es gerade, die Historiografie jenseits einer rein »literarischen Veranstaltung« neu begründet und dem historischen Denken »seine spezifisch moderne Form« verliehen zu haben – »nach den Prinzipien methodischer Rationalität organisiert, die in der neuzeitlichen Kultur notwendige Bedingungen wahrheitsfähiger Erkenntnis sind.«6 Daneben existiert eine zweite, weiter angelegte Begriffsdefinition, die den Historismus auf philosophische Debatten im ausgehenden 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bezieht. Historismus wird hier nicht auf den Bereich der Geschichtswissenschaft begrenzt, sondern interdisziplinär ausgeweitet und bezeichnet als ein konstitutives Phänomen der Moderne die Überzeugung von der historischen Bedingtheit aller kulturellen Erscheinungen.7 In die Krise ist dieser Historismus-Begriff geraten, weil er mitunter (und allzu vorschnell) mit Relativismus und Positivismus gleichgesetzt wurde, mithin reduziert wurde auf eine zur Stoffhuberei entartete Tatsachenforschung – eine Geschichtsforschung, die jedes Beliebige aus der Vergangenheit thematisieren kann, ohne jemals nach der Bedeutung des Vergangenen für die eigene Gegenwart zu fragen, eine handlungslähmende Geschichtsforschung mithin, die den Grundsatz, der Historiker müsse sich von den geistigen und politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit distanzieren, zu ihrem Postulat erhebt.8 Gerade dieser relativistisch und positivistisch gefärbte Historismusbegriff, schlagwortartig verknüpft mit dem Diktum Rankes, Aufgabe der Geschichtsschreibung sei es, zu zeigen, »wie es eigentlich wirklich gewesen« 9, hat zu erklärten Angriffen auf die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts geführt: Sichtbar gemacht nicht erst durch Vertreter einer strukturalistischen (Roland Barthes) oder narrativistischen (Hayden White) Geschichtsauffassung, sondern bereits durch Zeitgenossen wie Friedrich Nietzsche. Dieser verhandelt bekanntermaßen in seinen Unzeitgemässen Betrachtungenden Nutzen und Nachteil der Historie für das Lebenund verurteilt darin die seines Erachtens dominierende einseitige Orientierung an historischen Fakten, jenes alles und jeden »verzehrende[] historische[] Fieber«.10 Die Kritik Nietzsches am »überhistorischen« Menschen und an dessen konsequenter Deutung gegenwärtiger wie künftiger Phänomene aus dem Geist der Vergangenheit heraus verbindet sich mit einer kritischen Reflexion historischer Authentizität. Mit Nietzsche ist es Merkmal sowohl der monumentalischenwie der antiquarischenHistorie (die zusammen mit der kritischendie nietzscheanische Trias an »Arten der Historie« repräsentieren), auf fiktionsbildende Verfahren nicht verzichten zu können, welche ihrerseits das Aussehen der Historie maßgeblich verzerren.11 Gerade das den historischen Menschen ausmachende Bemühen, der Vergangenheit nachzueifern, gegenwärtiges Handeln nach ihr auszurichten oder sie zumindest dankbar zu bewahren, steht einem objektiven historischen Wissen im Weg. Bereits am Beispiel des antiquarischenGeschichtsbegriffes, hinter dem sich mit Nietzsche der Wunsch des Menschen verbirgt, »die Bedingungen, unter denen er entstanden ist, für solche [zu] bewahren, welche nach ihm entstehen sollen«,12 macht er die Instrumentalisierung der Historie sichtbar: die Tatsache nämlich, »dass die Vergangenheit selbst leidet, so lange die Historie dem Leben dient und von Lebensdiensten beherrscht wird.«13 Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt erkennt Nietzsche, dass eine als Dienst an der Gegenwart verstandene Historiografie historisches Wissen nicht einfach objektiv rekonstruiert, sondern subjektiven Maßstäben unterwirft, die von der Gegenwart, in der sie entstehen, entscheidender geprägt sind als von der Vergangenheit, die eigentlich festgehalten werden soll. Noch deutlicher wird Nietzsche im Hinblick auf den monumentalischenGeschichtsbegriff, der sich von der Überzeugung leiten lässt, dass »das Große ewig sein solle«,14 der also ausgehend von den Errungenschaften und Leistungen der Vergangenheit die Möglichkeiten und Hoffnungen für die Gegenwart formuliert: Solange die Seele der Geschichtsschreibung in den großen Antrieben liegt, die ein Mächtiger aus ihr entnimmt, […], ist sie jedenfalls in der Gefahr, etwas verschoben, in’s Schöne umgedeutet und damit der freien Erdichtung angenähert zu werden; ja es giebt Zeiten, die zwischen einer monumentalischen Vergangenheit und einer mythischen Fiktion gar nicht zu unterscheiden vermögen […].15 Hier warnt Nietzsche ganz ausdrücklich vor den Manipulationsversuchen, welchen die historischen Fakten in den Händen derjenigen ausgesetzt sind, die mit dem Beschwören der Vergangenheit ein bestimmtes Ziel zu erreichen suchen. Diese geschichtskritischen Reflexionen weiten sich im späteren Werk Nietzsches zu einer expliziten Kritik des Positivismus aus – erneut problematisiert Nietzsche die Deutung sämtlicher Phänomene aus ihrem historischen Charakter heraus, indem er die Zuverlässigkeit historischer Erkenntnis entschieden relativiert: Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt »es giebt nur Thatsachen«, würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum »an sich« feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. »Es ist alles subjektiv« sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das »Subjekt« ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese. Soweit überhaupt das Wort »Erkenntniß« Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne »Perspektivismus.«16 Nicht zuletzt in der interdisziplinären Rezeption der geschichtskritischen Schriften Nietzsches ist einer der Gründe für die hartnäckige Verurteilung des Historismus und seiner vermeintlich überholten positivistischen Positionen zu suchen. Dabei wird gerne übersehen, dass die Trennung zwischen den Fakten der Geschichte und ihrer nachzeitigen Repräsentation, mithin die Konstruktivität der Geschichtswissenschaft schon von Humboldt, Ranke (wenngleich hier weniger ausgeprägt), insbesondere aber Johann Gustav Droysen reflektiert wird.17 Ein Blick in Droysens Grundriss der Historikbelegt, dass dessen Ringen um eine systematische Darstellung der Geschichtswissenschaft, ihrer Methoden und Funktion, keinesfalls blind für die nur unzureichend zur Verfügung stehenden historischen Fakten ist: §. 28. Die [historische, S.C.] Kritik sucht nicht die »eigentliche historische Thatsache«; denn jede sogenannte Thatsache ist, abgesehen von den Mitteln, Zusammenhängen, Bedingungen, Zwecken, die mitthätig waren, ein Complex von oft unzähligen Willensacten, die, als solche mit dem Moment, dem sie angehörten, vergangen, nur noch entweder in den Ueberresten von dem, was damals und damit geformt und gethan wurd, oder in Auffassungen und Erinnerungen vorliegen.18 Ausgehend von der Problematisierung jeder historischen Tatsache, die retrospektiv nicht mehr zur Verfügung stehen kann, geht es der Historik, mit Droysen, keineswegs um die schlichte Rekonstruktion dieser Tatsachen, sondern lediglich um die Genese eines »geistigen Gegenbilds« der verlustig gewordenen res gestae: §. 26. Das Ergebnis der Kritik ist nicht »die eigentliche historische Thatsache«, sondern dass das Material fertig gemacht ist, aus dem das geistige Gegenbild derselben zu gewinnen ist.19 Die Schwierigkeiten, die sich im Zuge der Überführung vermeintlich historischer Fakten in die von ihnen berichtende Geschichtserzählung einstellen, veranlassen Droysen zum Entwurf eines wissenschaftlichen Modells historischer Quellenkritik, dessen Prämisse gerade in der Erkenntnis beruht, dass sich eine verlässliche Auskunft über die res gestaenur selten im vorhandenen Quellenmaterial findet: »Jedes historische Material ist lückenhaft, und die Schärfe in der Bezeichnung der Lücken ist das Maas [sic!] für die Sicherheit der Forschung.«20 Noch deutlicher wird Droysen in seiner dem Grundriss der Historik beigelegten Beitrag zu Kunst und Methode, der das »zweideutige Glück« der Historie problematisiert, »zugleich auch Kunst sein zu sollen«.21 Droysens Überlegungen gelten in dem Beitrag einem zeitgenössischen Publikum, das historische Aufklärung vorrangig aus einer an den historischen Roman angelehnten Historiografie, wenn nicht gleich aus historischen Romanen selbst bezieht. Das neue wissenschaftliche Selbstverständnis des Faches stoße, so Droysen, beim potentiellen Leser auf nur wenig Gegenliebe: »Freilich dem grossen Publikum war mit dieser Richtung unserer Historie nicht eben gedient; es wollte lesen, nicht studiren.«22 Droysen aber plädiert für einen Geschichtsbegriff wie für eine Historik, die sich vom Publikumsgeschmack freisprechen und die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft endgültig vollziehen. Blind für das fiktionasaffine Potenzial der Geschichte ist Droysen jedoch nicht: Vielmehr besteht er auf eine historische Methode, die sich kritisch mit den Quellen auseinandersetzt, wohlwissend, dass die Quellen keineswegs als authentisches Zeugnis der res gestaezu verstehen sind: Diese kritische Ansicht, dass uns die Vergangenheiten nicht mehr unmittelbar, sondern nur in vermittelter Weise vorliegen, dass wir nicht ›objektiv‹ die Vergangenheiten, sondern nur aus den ›Quellen‹ eine Auffassung, eine Anschauung, ein Gegenbild von ihnen herstellen könne, dass die so gewinnbaren und gewonnenen Auffassungen und Anschauungen Alles sind, was uns von der Vergangenheit zu wissen möglich ist, dass also ›die Geschichte‹ nicht äusserlich und realistisch, sondern nur so vermittelt, so erforscht und so gewusst da ist – das muss, so scheint es, der Ausgangspunkt sein, wenn man aufhören will in der Historie zu naturalisiren.23 Die von Droysen hier kritisch reflektierte Differenzierung zwischen res gestaeund historia rerum gestarumvergegenwärtigt ein wissenschaftliches Problembewusstsein, das mit seiner These einer ›objektiv‹ nicht zur Verfügung stehenden Historie bereits weit über den an Ranke orientierten positivistischen Historismus hinausgeht. Wie gewinnbringend eine Auseinandersetzung mit der historistisch und positivistisch geprägten Forschung des 19. Jahrhunderts für literaturwissenschaftliche Reflexionen, gerade auch in Hinblick auf historisch-fiktionale Texte, sein kann, führt die von Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger und Gotthart Wunberg gemeinsam verfasste Untersuchung zu Historismus und literarische Moderne(1996) vor Augen.24 Grundlage der Studie bildet ein über den geschichtswissenschaftlichen Kontext hinausführender Historismus-Begriff, der sich auf die Isolierung der Fakten durch eine historisch wie positivistisch orientierte Forschung bezieht, und nun anschlussfähig gemacht werden soll für ein bestimmtes Text-Verfahren moderner Literatur: das Phänomen der Lexemautonomie. Gerade in ihrer Auseinandersetzung mit historischen Stoffen entwickle die moderne Literatur, so die These der Autoren, »eine eigene Lexik, die erst in der Erledigung der Geschichte als ihres Gegenstandes zu sich selbst kommt.«25 Mit dem Begriff der Lexemautonomie wird die ›Unverständlichkeit‹ moderner Texte beschrieben, die sich hermeneutischen Ansätze scheinbar verschließt, das fehlende Referenzsystem zwischen Signifikant und Signifikat, »eigentlich die Dispensierung der gesamten herkömmlichen Semantik« sichtbar mache.26 Diese Loslösung der Fakten von ihrer Beschreibung formuliere jedoch nur scheinbar einen Widerspruch zur Dominanz der Fakten im positivistisch geprägten Historismus, tatsächlich aber resultiere sie eben daraus: »Die Geschichtswissenschaften, die gerade erst entstehenden Wissenschaften überhaupt, erreichen folglich zugleich, was sie keineswegs wollen.«27 Was innerhalb der Geschichtswissenschaften die ›Krise des Historismus‹ begründet, versteht sich für die Literatur der Moderne damit als Befreiungsschlag: Der Favorisierung der Fakten in historischer Forschung korrespondiert die Autonomie der Lexeme im historischen Roman – in der Literatur aber führt das damit initiierte Verfahren zu Konsequenzen, die die methodischen Begrenzungen des Positivismus auf unabsehbare Weise sprengen.28 Die These von der Lexemautonomie im historischen Roman erstaunt zunächst, handelt es sich doch gerade dabei um eine Gattung, die, so räumen die Autoren selbst an anderer Stelle ein, ausschließlich »unter der Voraussetzung narrativer Heteronomie«29 funktioniere. Gerade hier bleiben sprachliche Zeichen als Träger semantischer Bedeutung eng auf bestimmte Erscheinungen der außerliterarischen Wirklichkeit bezogen, etwa auf historische Figuren und Fakten. Tatsächlich aber weisen die Autoren nach, wie literarische Texte, die sich vordergründig auf historistische Verfahren beziehen und unter dem Begriff des technischen Historismusfigurieren, ihre Lexeme dem historischen Kontext entlehnen und im Anschluss autonomisieren. So werden Darstellungsmodi historischer Forschung, im Zuge der literarischen Moderne und endgültig im Kontext avantgardistischer Literatur, auf den poetischen Text übertragen und dort als innovative Textverfahren sichtbar gemacht. Zu solchen Darstellungsweisen gehören etwa: »der Katalog, die hyperdetaillierte Beschreibung, der disgressive Exkurs, name-dropping, Essayistik«. Diese ursprünglich der positivistischen Historiografie, »einer auf bessere Verständlichkeit der Welt zielenden Wissenschaft«, entlehnten Textverfahren avancieren nun zu einem literarischen Verfahren, »das in seiner Radikalität unverständliche Texte produziert« und autonome Lexeme hervorbringt, die schlussendlich auf kein textexternes Referenzsystem mehr verweisen.30 Diese Entwicklung eines technischen Historismus, der, so die Autoren, zu einer Auflösung der Sinnkategorie, zu der finalen Autonomie der Lexeme erst in der Literatur der Jahrhundertwende führe, problematisiert von Beginn an die Kohärenz literarischer Repräsentation. Dies hat unübersehbare Folgen für den historischen Roman bereits im 19. Jahrhundert, sowohl für Vertreter einer streng an den historistischen Positivismus angelehnten Gattung (genannt werden Dahn, Ebers und, mit Einschränkung, Scheffels) als auch im Besonderen für jene Autoren, die das historisch-fiktionale Erzählen bereits mit geschichtskritischen Reflexionen verbinden (etwa Fontane oder Raabe).31 3 Geschichte als Text: Linguistic turn und die Folgen Noch immer versteht sich der linguistic turnals der ›Mega‹-Turn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – häufig auch als Paradigmenwechsel aufgefasst, dem sämtliche sich anschließende und vorrangig kulturwissenschaftliche turnsverpflichtet bleiben.1 Die dieser sprachlichen Wende zugrunde liegende zentrale Erkenntnis fasst Richard Rorty, dessen Herausgeberband The linguistic turn1967 für die Namensgebung verantwortlich zeichnet, in seiner Einleitung pointiert zusammen: Since traditional philosophy has been (so the argument goes) largely an attempt to burrow beneath language to that which language expresses, the adoption of the linguistic turn presupposes the substantive thesis that there is nothing to be found by such burrowing.2 Wenn aber mit Rorty jenseits der Sprache keine Realität zu finden ist und man sich der Wirklichkeit ausschließlich über die Einsicht in ihre sprachliche Verfasstheit zu nähern vermag, hat das unmittelbare Konsequenzen für gerade jene Wissenschaft, die sich der (Re-)Konstruktion einer vergangenen Wirklichkeit verschreibt – die Geschichtswissenschaft eben. Das viel zitierte positivistische Bemühen Rankes zu »zeigen, wie es eigentlich gewesen,« führt spätestens jetzt nicht mehr zu den Fakten der Vergangenheit, den res gestae, sondern ausschließlich zu ihrer sprachlichen Vermittlung ( historia rerum gestarum) zurück, welche die Fakten erst konstituieren. Mit dem linguistic turngerät die Geschichtswissenschaft in eine Legitimations- und Existenzkrise: Nicht zufällig werden der linguistic turnund die Frage nach dem »Ende der Geschichte als Wissenschaft« häufig in einem Atemzug genannt.3 Von einer zeitnahen Reaktion der (zumindest deutschsprachigen) Geschichtswissenschaft auf den vermeintlichen Paradigmenwechsel kann dabei schwerlich die Rede sein, vielmehr werden Einsichten des linguistic turnerst verspätet rezipiert und reflektiert.4 Der Begriff selbst, darauf wurde in jüngster Zeit hingewiesen, ist durchaus missverständlich, insbesondere wenn er vorschnell zu einer Übersetzung mit »die linguistische Wende« führt.5 Um eine solche handelt es sich bei dem Paradigmenwechsel innerhalb der Geschichtswissenschaft im Eigentlichen nicht – vielmehr bietet sich hier der Ausdruck narrative, zumindest aber sprachlicheWende an.6 Denn hinter den geschichtswissenschaftlichen bzw. -theoretischen Überlegungen im Anschluss an den linguistic turnverbergen sich in der Regel keine die Linguistik als Struktur- oder Systemwissenschaft reflektierenden oder rein semiotische Fragestellungen, sondern erzähltheoretische, hermeneutische und textanalytische Ansätze. Dementsprechend ist die Referenzgröße in den seltensten Fällen Ferdinand de Saussure, mitunter Roland Barthes, vor allem aber Hayden White. Gerade letzterer fällt hingegen, wie noch zu zeigen sein wird, in seinen frühen, zugleich aber am stärksten rezipierten Schriften, hinter die Radikalität textsemiotischer Analysen, wie sie etwa Barthes vollführt, zurück. Die sprachliche Wendeder Geschichtswissenschaft ist in ihrer ambivalenten Auswirkung zu begreifen, die auf die grundsätzlich Polyvalenz des Geschichtsbegriffes zurückzuführen ist: Zunächst leitet die Fokussierung auf die ›Sprache der Geschichte‹ zur Geschichtsschreibung als dem Diskurs über, der die historischen Fakten im Medium der Erzählung, der historia rerum gestarum, erst verfügbar macht. Die Einsicht in die rhetorische Verfasstheit der Geschichte und die Gleichsetzung des Historikers weniger mit dem ›Entdecker‹ als vielmehr dem Interpreten der Geschichte sind im Ganzen dabei nicht neu. Sie finden sich, wie bereits dargelegt wurde, im auslaufenden 18. Jahrhundert, allen voran bei Schiller, und später im Kontext der Diskussion um einen weiter gefassten Historismusbegriff und die Positivismus-Kritik Nietzsches. In der Tat erfolgt das eben dargestellte, neu entdeckte Interesse der Geschichtswissenschaft an der Aufklärungshistorienicht zufällig zu einer Zeit, in der Geschichte als Text und damit mit seiner narrativen Qualität diskutiert wird. Diese Diskussion steht dem Selbstverständnis der Geschichtsschreiber um 1800 deutlich näher als den positivistischen Zugriffen auf die historischen Fakten, wie sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts von den Vertretern eines positivistischen Historismus verteidigt wurden. Neben dieser Problematisierung der Geschichtsschreibung im Besonderen, der sprachlichen Verfasstheit der Geschichte, zielt der linguistic turn– gerade in seiner Fortführung durch poststrukturalistische Ansätze – auf eine weitere, ungleich brisantere Diskussion, in der nun die historischen Fakten selbst, die res gestae, verhandelt werden: Wenn eine der Sprache vorgängige Wirklichkeit in Frage gestellt wird, wenn das Signifikat, mit Derrida, »seit je als ein Signifikant« fungiert,7 dann wird die bis dato vollzogene scharfe Trennung zwischen den res gestaeund der historia rerum gestarumhinfällig. Da auch das historische Faktum als erst ›gemacht‹ und nicht etwa immer schon vorhanden gedacht werden muss, geraten sowohl die Konstitutions- wie Konstruktionsbedingungen der Geschichtserzählung wie auch das von ihnen Bezeichnete unter den Verdacht der Unzuverlässigkeit. Erst in dieser zweifachen Rückführung zur ›Sprache der Geschichte‹ und der damit verbundenen gleichzeitigen Problematisierung von res gestaeund historia rerum gestarumversteht sich das Ausmaß der Erschütterung, die das Fach in der Folge prägt. 3.1 Der Poststrukturalismus: Roland Barthes und das Ende der res gestae Als programmatisch erweist sich in diesem Zusammenhang Roland Barthes Aufsatz Historie und ihr Diskurs, der im Original 1967 und ein Jahr später in seiner deutschen Übersetzung erscheint.1 Barthes ist einer der ersten Vertreter des französischen Poststrukturalismus, der sich mit dem historischen Erzählen (das bei Barthes die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts meint) im Unterschied zu einem literarischen auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang wirft Barthes die Frage auf, ob das historische Erzählen sich tatsächlich »durch irgendeinen spezifischen Zug, durch eine zweifelsfreie Relevanz von der imaginären Erzählung, wie man sie in der Epopöe, dem Roman, dem Drama findet«, unterscheide.2 In einem ersten Schritt differenziert Barthes zwischen dem Akt des Aussagens ( énonciation) und der Aussage ( énoncé), schließt also an die bereits bekannte Problematisierung des Kollektivsingulars Geschichte an, der sowohl die historischen Fakten ( res gestae) als auch das Erzählen davon ( historia rerum gestarum) meint. Um die Subjektivität jedes Aussageaktes nachzuzeichnen, untersucht Barthes die »Umschaltelemente« ( shifters), die den Übergang zwischen énoncéund énonciationmarkieren, etwa die (subjektive) Auswahl der Quellen, auf die sich der Akt des Aussagens stützt, vor allem aber die Konfrontation der unterschiedlichen Zeitebenen, die sprachlich ausgedrückt werden: die (präsentische) Zeit des Aussagens und die (vergangene) Zeit des ausgesagten Stoffes. Als Beispiel für jene Diskurselemente, die das Verhältnis dieser Zeiten steuern, führt Barthes die Geschichtsraffung, den Zickzackkursoder Sägezahnstil(Unterbrechung der Handlungschronologie) sowie die Einleitung des historischen Diskurses an, in der »der Anfang des ausgesagten Stoffes mit dem Beginn des Aussagens zusammenfällt.«3 Relevant sind mit Barthes diese Verschränkungen von erzählter Zeit und der Zeit des Diskurses (mit Barthes auch Papierzeit) nicht, weil sie subjektive Selektionsverfahren des Historikers, sondern ein Erzählverfahren sichtbar machen, das jedes historische Geschehen entchronologisiert und einer »komplexen, parametrischen« Zeit eingliedert. Diese verlaufe nicht mehr linear und werde allein vom Historiker, der über beide Zeitebenen verfügt, überschaut. Ein solches Erzählen ist mit Barthes ein genuin mythisches: Mythos und historischer Diskurs vereinen sich im Bestreben, »das chronologische Abspulen der Ereignisse durch Bezüge auf die seinem Wort zugehörige Zeit zu doppeln.«4 Bezugnehmend auf das Kommunikationsmodell Jakobsons widmet Barthes sich im Anschluss den im Diskurs vorhandenen Zeichen des Aussagenden/ Absenders, jenen Signalen also, die den Historiker als Subjekt des Aussageaktes sichtbar machen. Mit Blick auf die um einen gesteigerten Realismus und Objektivität bemühte Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts stellt Barthes fest, dass ein »objektiver« historischer Diskurs niemals existieren könne, sondern dass ein Mangel an Zeichen, die auf den Aussagenden verweisen, im Gegenteil als Referenzillusion( illusion référentielle) zu verstehen sei – als Versuch des Historikers also, sich selbst als die den Diskurs ordnende Distanz verschwinden und allein das Bezugsobjekt ( référent) sprechen zu lassen. Dieser Versuch ist mit Barthes, beim Historiker wie beim Romancier, zum Scheitern verurteilt, denn: »Wir wissen, daß der Mangel an Zeichen ebenfalls bezeichnend ist.«5 Nach der Analyse des Aussageaktes geht Barthes zur Auseinandersetzung mit der historischen Aussage ( énoncé), dem im Aussageprozess Bezeichneten, über. Diese setzt sich aus inhaltlichen Einheiten zusammen, die als Kollektionen zusammengesetzt und durch den Historiker strukturiert werden. Hier liegt die für das Selbstverständnis der Geschichtsschreibung brisante Einsicht Barthes verborgen: Denn dem Aussageakt analog verweist auch das Bezeichnete keineswegs auf eine objektiv erfahrene Wirklichkeit, sondern bleibt von seiner sprachlichen Konstitution determiniert: »Die Benennung stärkt die Struktur des Diskurses, weil sie diesem eine starke Artikulation gestattet.«6 Und erst die Benennung lässt das historische Faktum entstehen, jenseits des Wortes kann eine historische Wirklichkeit nicht existieren: »Das historische Faktum ist, linguistisch gesehen, an ein Privileg des Seins gebunden: Man erzählt, was gewesen ist; nicht, was nicht oder was zweifelhaft gewesen ist.«7 Weil die Fakten der Geschichte immer schon auf ein Auswahlverfahren, nämlich »das der Erinnerung Würdige, d.h. das [sic!] Bemerkens und Notierens Würdige« rekurrieren, vergegenwärtigt der historische Diskurs mit Barthes den einzigen, »bei der das Bezugsobjekt als etwas außerhalb des Diskurses Liegendes aufgefaßt wird, ohne daß es indessen je möglich wäre, es außerhalb des Diskurses in den Griff zu bekommen.«8 Diese von Barthes beschriebene Genese des historischen Faktums erweist ihre Modernität gerade im Vergleich mit unmittelbaren Vorgängerstudien wie der 1961 veröffentlichten und lange Zeit als Standardeinführung in das Studium der Geschichte (zumindest im angloamerikanischen Kontext) geltende Untersuchung Was ist Geschichtedes britischen Historikers Edward Hallet Carr. In seinem ersten Kapitel (»Der Historiker und seine Fakten«) wendet sich Carr, hier noch in Übereinstimmung mit Barthes, vehement gegen die Auffassung, es gebe »gewisse grundlegende und für sämtliche Historiker verbindliche Fakten, die sozusagen das Rückgrat der Geschichte ausmachten«.9 Im Gegensatz zur Barthes’ sprachkritischer Problematisierung der Fakten im Kontext einer modernen Semiotik konzentriert Carr sich allerdings ganz auf die Figur des Historikers und seine subjektiven Selektionsverfahren, die über Form und Aussehen der Geschichte entscheiden: Die Tatsachen sprechen für sich selbst, pflegte man zu sagen. Aber das stimmt natürlich nicht. Die Tatsachen sprechen nur, wenn der Historiker sich an sie wendet: er nämlich entscheidet, welchen Fakten Raum gegeben werden soll und in welcher Abfolge oder in welchem Zusammenhang.10 Das historischeFaktum – im Gegensatz zum Faktum an sich, an dem Carr im Unterschied zu Barthes festhält – unterliegt mit Carr immer schon einer a-priori-Entscheidung des Historikers. Damit ist die Geschichte als historia rerum gestarumder Interpretation des Historiografen ausgeliefert, ebenso wie die Entscheidung, welche Fakten der Vergangenheit zu historischen Fakten im Zuge ihrer wissenschaftlichen Historisierung werden. So stellt mit Carr etwa die Schlacht von Hastings 1066 nur deshalb ein historisches Faktum dar, weil »dieser Umstand von den Historikern als ein bedeutendes historisches Ereignis angesehen wird.«11 Obwohl Carrs Relativismus hinter der kurze Zeit später aufkommenden poststrukturalistischen, später dann postmodernen Problematisierung jeglicher Wirklichkeit zurückbleibt, ist es doch bemerkenswert, wie entschieden dem zuverlässigen Zugriff auf historische Fakten durch den Historiografen eine Absage erteilt und damit die historische Referenzialität in Frage gestellt wird – wenngleich ausschließlich bezogen im Hinblick auf subjektive Entscheidungen des Historikers: Der Glaube an einen festen Kern historischer Fakten, die objektiv und unabhängig von der Interpretation des Historikers bestehen, ist ein lächerlicher, aber nur schwer zu beseitigender Trugschluß.12 Carrs Plädoyer für einen soziologischen Zugang zur Geschichte, der zunächst die Figur des Historikers erforschen müsse und im Anschluss daran die von ihm ›konstruierten‹ Fakten, ist im Zuge einer streng poststrukturalistischen Geschichtswissenschaft unter Beschuss geraten, allen voran seine Differenzierung zwischen den keineswegs in Frage gestellten Fakten der Vergangenheit ( facts from the past) und den historischen Fakten ( historical facts) als Ergebnis unterschiedlicher Historisierungsprozesse.13 Tatsächlich bleibt es Barthes’ Essay vorbehalten, den zentralen logischen Widerspruch, den Carrs Thesen aufrufen, konsequent aufzulösen. Carr, der an den Tatsachen der Geschichte festhält und nur deren Historisierung wie historische Repräsentation zum Problem macht, bleibt die Antwort auf die daraus resultierende Frage schuldig, wie diese angeblichen Tatsachen jenseits ihrer Versprachlichung im Zuge historischer Rekonstruktion überhaupt zu denken sind. Eben hier setzt die Kritik Barthes’ an, der das historische Faktum als tautologisches Phänomen entlarvt, das »zugleich Zeichen und Beweis der Realität« sei.14 Die Historie ist demnach immer schon, nicht nur als historia rerum gestarum(wie bei Carr), sondern auch als Abfolge der res gestaemit Bedeutung aufgeladen, so sehr der Historiker auch darum bemüht ist, das Bedeutete aus seinem objektiven Diskurs zu verbannen und das Reale zu bezeichnen: Der historische Diskurs folgt nicht dem Realen, er läßt dieses nur bedeuten, wiederholt unablässig das das ist geschehen, ohne daß diese Behauptung je etwas anderes zu sein vermöchte als die be-deutete Kehrseite der ganzen historischen Erzählung.15 Damit liegt dem historischen Diskurs nicht mehr das Reale selbst, sondern mit Roland Barthes lediglich der Effekt des Realen (l’effet de réel)zugrunde.16 Die historische Erzählung als die der fiktionalen entgegengesetzte kann mit Barthes nicht bestehen, solange sie sich darauf beruft, das Reale zu bezeichnen. Denn das Zeichen der Historie ist, nach Barthes, fortan »weniger das Reale als das Intelligible.«17 Erstaunlich bleibt: So bahnbrechend Barthes Thesen hinsichtlich einer Geschichtsauffassung scheinen, die zwischen den Fakten der Vergangenheit und dem narrativen Modus, diese Fakten zu vergegenwärtigen, deutlich unterscheidet – sein Essay erweist sich als deutlich weniger wirkungsmächtig als etwa die Texte Hayden Whites.18 3.2 Die Narrativität der Geschichte: Hayden White Hayden Whites 1973 veröffentlichte Studie Metahistoryetabliert die These einer ›Poetik der Geschichte‹ und problematisiert den Wert einer eigenständigen ›historischen‹ Erkenntnis, da diese erst im Medium der Sprache sichtbar werde und damit bereits einer historischen Rekonstruktion unterworfen sei, die nach White eine grundsätzlich fiktive ist. Whites Überlegungen zur genuinen Verwandtschaft von Literatur und Geschichtsschreibung – programmatisch erfasst in seiner These von dem »historischen Text als literarisches Kunstwerk«1 und textanalytisch in seiner Untersuchung narrativer Strukturen der Geschichtsschreibung umgesetzt2 – führten in der Folge zu einer Revision und Repositionierung geschichtswissenschaftlicher Methoden und Überzeugungen. Wie Roland Barthes argumentiert Hayden White in Metahistoryzunächst ausgehend von der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und dem hier etablierten Geschichtsbegriff, welchem er »eine Art bewußter methodischer Naivität« unterstellt.3 Im Unterschied zu Barthes allerdings konzentrieren sich Whites Ansätze vorrangig auf den narrativen Charakter der Geschichtsschreibung, während die den polyvalenten Geschichtsbegriff ernstnehmende strukturalistische Differenzierung zwischen Signifikant und Signifikat (und deren letztliche Negierung) eine untergeordnete Rolle spielt.4 Es bleibt auffällig, mit welchem Nachdruck White als Begründer, zumindest aber Hauptvertreter des linguistic turnin der Geschichtswissenschaft wahrgenommen und auch kritisiert wird, obgleich er selbst weder zum turnan sich noch zu (sprach-)philosophischen Vertretern desselben Bezug nimmt. Tatsächlich liegt, so hat Frank Ankersmit festgestellt, der Ausgangspunkt seiner Reflexionen weniger in der Sprachphilosophie als vielmehr in der Literaturtheorie.5 Entsprechend wird White, das belegt die Wirkungsgeschichte seiner Studien, nur in den Anfängen seiner Rezeption als Historiker wahrgenommen, dann jedoch verstärkt von der literaturwissenschaftlichen Forschung berücksichtigt.6 Der ungewöhnliche Erfolg Whites setzt nicht unmittelbar nach der Veröffentlichung von Metahistoryein, sondern erreicht seinen Höhepunkt erst in den 1980ern und frühen 1990er Jahren. Während die geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen früh erfolgen und primär auf Whites Analysen der Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert eingehen, interessiert sich die Literaturwissenschaft auch gegenwärtig primär für Whites methodische Überlegungen, die er in seinem Einleitungskapitel zur »Poetik der Geschichte« und später in seinem Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerkprogrammatisch entwickelt. Insgesamt wird deutlich, dass mit der Rezeption der Thesen Whites, die in eine kontrovers geführte Diskussion um die Fiktionalität geschichtlicher Darstellungsweisen und ihrer poetischen modiresultiert, der linguistic turnendgültig zum narrative turn, wenn nicht gar zur »literarischen Wende«7 ausgeweitet wird. In der Einleitung zu seinem Hauptwerk Metahistoryformuliert White zunächst eine Prämisse, die an jene Positionen anzuschließen scheint, die sich seit Entstehung der modernen Geschichtsschreibung immer wieder selbstreflexiv mit der vermeintlichen Objektivität der Geschichtschreibung auseinandergesetzt haben: Es ist öfter gesagt worden, das Ziel des Historikers sei es, die Vergangenheit zu erklären, indem er die »Geschichten«, die in den Chroniken verborgen liegen, »findet«, »erkennt« oder »entdeckt«, und der Unterschied zwischen »Historie« und »Fiktion« bestehe darin, daß der Historiker seine Geschichten »finde«, während z.B. der Romancier die seinen »erfinde«. Diese Vorstellung verschleiert jedoch, in welchem Ausmaß die »Erfindung« auch die Arbeit des Historikers prägt.8 Whites hier geäußerte Grundüberzeugung von der genuinen Verwandtschaft zwischen Literatur und Geschichtsschreibung aufgrund der sie einenden narrativen Verfahrensweisen erklärt noch nicht die zum Teil heftigen Vorwürfe, mit denen die Geschichtswissenschaft, allen voran die amerikanische, zunächst auf seine Thesen reagiert hat.9 Tatsächlich greifen Whites Thesen auf die Einsicht in die Fiktionalität historischer Darstellungen zurück, wie sie etwa in Deutschland in den 1970er Jahren (und damit lange vor der Übersetzung der Werke Whites ins Deutsche) von Historikern, insbesondere aber von Literaturwissenschaftlern vertreten wird. Programmatisch dokumentiert diese Positionen der von Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz und Jörn Rüsen herausgegebene Band zu Formen der Geschichtsschreibung, der auf eine Tagungssequenz in den Jahren 1979/80 zurückgeht.10 Hans Robert Jauss etwa verabschiedet hier, bemerkenswerterweise mit Verweis auf die Positionen Reinhart Kosellecks und nicht etwa Hayden Whites, das Ideal eines »naiven historischen Realismus« und fordert die Historiker auf, die an sämtlichen historiografischen Prozessen beteiligten Fiktionalisierungsverfahren ernst zu nehmen. Eine Trennung zwischen res factaeund res fictaesei, so Jauss, nicht möglich, sondern allenfalls Resultat eines unhaltbaren Vorurteils: Dieses Vorurteil hat die hermeneutische Reflexion mit der Einsicht aufgelöst, daß die res factaekein Erstes sind, sondern als ergebnishafte Tatsachen schon in den bedeutungsstiftenden Akten ihrer Konstitution elementare Formen der Anschauung und der Darstellung geschichtlicher Erfahrung voraussetzen. Deren fiktionalen Status zu klären, sind historische und literarische Hermeneutik in diesem Kolloquium gemeinsam aufgerufen.11 Es lässt sich also davon ausgehen, dass die deutschsprachige ›Hochphase‹ der White-Rezeption in den 1980er und 1990er Jahren nicht dadurch zu erklären ist, dass der Historiker einen Angriff auf die Faktizität historischer Darstellung wagt, wie er vorher nicht versucht wurde. Vielmehr ist die leidenschaftliche Debatte wohl mit dem von White »behauptete[n] Ausmaß der Sprachlichkeit bzw. besser: Literarität der Historiographie«12 zu erklären, das die Unterschiede zwischen Dichtung und Historie vollkommen einzuebnen droht.13 Darüber hinaus geht es White weniger um die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert thematisierte Subjektivität des Historikers und deren Einfluss auf Form und Inhalte der Geschichtsschreibung als vielmehr um die jedem historischen Darstellungsversuch genuin inhärenten (und damit unvermeidbaren) modinarrativer Strukturierung, die in Whites Vorstellung einer allgemeinen Poetik der Geschichtsschreibung münden. Zuletzt verantwortet die Anzahl der White’schen Veröffentlichungen, die sich von den späten 1960er Jahren bis in die Gegenwart mit der Narrativität und Poetizität geschichtlicher Darstellungen beschäftigen, seine Stellung als ›Aushängeschild‹ der damit verbundenen Diskussion. Wie nun gelangt White zu seiner Einsicht in die ›poetische Beschaffenheit‹ historischer Texte? Zusammengefasst interessiert er sich für die Tiefenstruktur historischer Darstellung, die er als emplotment, als Einbindung der »rohen historischen Aufzeichnung« (bei White das historische Feld) in einen plotbegreift.14 Die »Geschicklichkeit des Historikers […], mit der er eine bestimmte Plotstruktur und eine bestimmte Menge von historischen Ereignissen, denen er eine bestimmte Bedeutung verleihen will, einander anpaßt«, entscheidet über den Modus der Darstellung und verantwortet mit White ein genuin literarisches respektive fiktionsbildendes Verfahren, das wie folgt aussieht: Zunächst werden die Elemente des historischen Feldes durch die Anordnung der zu erörternden Ereignisse in der zeitlichen Reihenfolge ihres Auftretens zu einer Chronik organisiert; dann wird die Chronik durch eine weitere Aufbereitung der Ereignisse zu Bestandteilen eines »Schauspiels« oder Geschehniszu-sammenhangs, in dem man klar einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß glaubt unterscheiden zu können, in eine Fabel umgewandelt. Diese Transformation der Chronik in eine Fabel wird durch die Kennzeichnung einiger Ereignisse der Chronik als Eröffnungsmotive, anderer als Schlußmotive und wieder anderer als Überleitungen bewirkt.15 Die Aufbereitung der historischen Ereignisse zu einer Fabel erfolgt nach White mit Blick auf die Wirkungsabsicht der von ihm zu schreibenden Geschichte sowie den damit verbundenen Lesererwartungen und ist mit einer dreifachen Interpretationsleistung des Historikers verbunden. Dieser müsse sich erstens für eine Erzählstruktur entscheiden, die der dargestellten Handlung Bedeutung verleiht. White kann sich dabei auf die von Northop Frye unterschiedenen archetypischen Erzählformen der Romanze, der Tragödie, der Komödie und der Satire berufen.16 Zweitens lege sich der Historiker, so White, vorab auf eine spezifische Argumentation fest, die an die zugrundegelegte »formale Schlußfolgerung« gebunden sei. Hier schlägt White in Anlehnung an Stephen C. Pepper formativistische, organizistische, mechanistische und kontextualistische Argumentationsmodelle vor.17 Drittens sei mit jeder historischen Darstellung eine ideologische Dimension verbunden, die White mit den vier (ursprünglich sind es fünf) ideologischen Grundpositionen Karl Mannheims zu erfassen sucht (Anarchismus, Konservatismus, Radikalismus und Liberalismus).18 Neben die hier ausgeführte Interpretationsebene des Historikers, die die konstituierende Grundlage jedes emplotmentdarstellt, tritt eine zweite, sprachliche Ebene, die mit White den Prozess bezeichnet, in dem der Historiker die rohen Aufzeichnungen des historischen Feldesin seine eigene Sprache überführt, um es »so für die Erklärung und Darstellung vorzubereiten, die er danach in seiner Erzählung geben wird.«19 Diesen Prozess versteht White als das Erstellen eines vorbegrifflichen sprachlichen Protokolls, das durch den in ihm dominierenden Tropus charakterisiert ist. Logisch stringenter als noch in Metahistoryführt White diesen Prozess, den er ausdrücklich als ›poetischen Akt‹ begreift, in seinem ein Jahr nach Veröffentlichung der Monografie erschienenem Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerkaus. White bestreitet hier jegliche mimetische Auffassung historischer Erzählungen als »maßstabgetreue« Modelle einer historischen Wirklichkeit. Vielmehr charakterisiert er unter Rückgriff auf die Sprachphilosophie Charles S. Peirces und dessen Begriff des Ikonsals Zeichen, das sich auf seinen bezeichneten Gegenstand durch das Merkmal der Ähnlichkeit bezieht, auch historische Erzählungen als Zeichensysteme. Diese verweisen, so White, sowohl auf die in der Erzählung beschriebenen historischen Ereignisse wie auch auf »den Typ von Geschichte oder Mythos, den der Historiker als Ikon der Struktur der Ereignisse gewählt hat«.20 Die Entschlüsselung der ikonischen Struktur einer historischen Erzählung lege schließlich jene »prägenerischen Plotstrukturen« offen, die verwendet werden, um unvertraute Ereignisse und Situationen mit Bedeutung aufzuladen. Dazu bedient sich der Historiker einer figurativen Sprache, deren Grundformen (in Metahistory als Tropenausgeführt) White ausgehend von den Überlegungen Giambattista Vicos in der Metapher, der Metonymie, der Synekdoche und der Ironie auszumachen glaubt.21 In dieser Theorie der Tropen meint White das geeignete Instrument gefunden zu haben, mit dessen Hilfe er hofft, die Geschichtsschreibung und das vorherrschende Geschichtsdenken, »wie es im Europa des 19. Jahrhunderts Gestalt annahm«, analysieren zu können.22 Während Metahistory– und gerade die in Bezug auf dieses Werk »äußerst oberflächliche«23 Rezeption differenziert hier nur wenig – in erster Linie ein Beitrag zur Historiografiegeschichte des 19. Jahrhunderts bleibt und als solcher zumindest von den Historikern zunächst wahrgenommen wurde, bezieht White in seinem bereits im Titel programmatischen Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerkeine deutlich verschärfte Position. Der Text pointiert die Grundaussagen von Metahistorynoch einmal, radikalisiert Whites (zumal hier nicht mehr nur für das 19. Jahrhundert beanspruchte) Thesen aber gerade dort, wo sie das Verwandtschaftsverhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung berühren, etwa wenn White hier über die historischen Quellen feststellt, sie seien nicht weniger intransparent als die Texte, die der Literaturwissenschaftler untersucht. Und auch die Welt, die diese Dokumente darstellen, ist nicht zugänglicher. Das eine ist nicht mehr ›gegeben‹ als das andere.24 Diese Relativierung der wissenschaftlichen Aussagekraft historischer Quellen (die als Angriff auf die Wissenschaftlichkeit des Faches an sich gewertet wurde) mündet in die Nivellierung jeglichen Unterschieds zwischen Literatur und den historischen Erzählungen, die mit White nichts anderes sind als sprachliche Fiktionen ( verbal fictions), deren Inhalt ebenso erfundenwie vorgefundenist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften.25 Historische Erzählungen wie literarische Texte zeichnen sich mit White gleichermaßen dadurch aus, »daß sie die metaphorischen Ähnlichkeiten zwischen Folgen von realen Ereignissen und den konventionellen Strukturen unserer Fiktion ausnutzen.«26 Beide Genres laden, indem sie eine Folge von Ereignissen zu einer nachvollziehbaren Geschichte konstituieren, diese Ereignisse mit der symbolischen Bedeutung auf, die sich in der Aufschlüsselung ihrer tropologischen Grundform erschließt. 3.2.1 Hayden White in der Kritik Bis in die Gegenwart gilt Hayden White als Initiator einer systematischen, »meta«-historischen Auseinandersetzung mit den Bedingungen historischen und literarischen Erzählens und wird in jüngeren Veröffentlichungen entsprechend gewürdigt.1 Dies soll jedoch nicht blind machen für die berechtigte Kritik, die Whites Thesen sowohl von Seiten der Geschichtswissenschaft wie auch durch Vertreter der Literaturwissenschaft erfahren haben. Die entscheidenden Vorwürfe aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive äußert mit Blick auf die recht spät einsetzende White-Rezeption in Deutschland der Historiker Jörn Rüsen schon früh.2 Zum einen vermisst er in Whites Untersuchung die im Rahmen der Historik, also der systematischen Selbstreflexion der Fachhistorie, »unerläßliche Frage nach der Wissenschaftsspezifik von Geschichtsschreibung«, die im Kontext einer streng textlinguistischen Untersuchung, wie White sie unternehme, zwangsläufig ausgeblendet bleiben müsse.3 Zum anderen wirft Rüsen White vor, die historische Dimension narrativer Verfahren der Geschichtsschreibung zu ignorieren, indem er sich auf eine Typologie berufe, die unhistorisch arbeitet. Die für den Wandel historischer Darstellungsformen so relevante zeitliche Dynamik bleibe dadurch unberücksichtigt.4 Insbesondere der Vorwurf, Hayden White unterschlage in seiner Profilierung eines Geschichtsbegriffes, der auf seine narrative Form als konstitutives Merkmal reduziert wird, das wissenschaftliche Selbstverständnis und die damit einhergehenden Ansprüche des Faches, wird bis in die Gegenwart diskutiert. So beklagt etwa Chris Lorenz die Unfähigkeit des von White etablierten metaphorischen Narrativismus, »das historische Schreiben mit der historischen Forschung zu verbinden.«5 Lorenz verteidigt einen Geschichtsbegriff, der den Wahrheitsanspruch des Historikers ernst nimmt, und warnt davor, die stilistischen wie rhetorischen Merkmale der Geschichtsschreibung mit der Geschichte als solche zu verwechseln und diese auf einen »Zweig der Ästhetik oder der Literaturwissenschaft« zu reduzieren: Das ist im wesentlichen, was in den vergangenen zwei Jahrzehnten geschehen ist, und es ist kein Zufall, daß viele Bücher zur Philosophie der Geschichte heutzutage in literaturwissenschaftlichen Instituten geschrieben werden.6 Der von Lorenz hier stellvertretend geäußerte Anspruch der Historiker auf die wissenschaftliche Selbständigkeit ihres Faches in Abgrenzung von der Literaturwissenschaft spiegelt sich im literaturwissenschaftlichen Bemühen um eine Differenzierung des Geschichts- vom Literaturbegriff. Diesbezüglich hat der Anglist und Narratologe Ansgar Nünning eine der ausführlichsten literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Thesen Whites vorgelegt.7 Im Einzelnen nennt er vier zentrale Kritikpunkte an Whites Thesen, die, so Nünning, nicht nur fundamentale Unterschiede zwischen historisch-wissenschaftlichen und fiktionalen Texten ignorieren, sondern zudem einen nur wenig präzisen Literaturbegriff formulieren würden. Zunächst unterstreicht Nünning, Jörn Rüsen folgend, die Wissenschaftsspezifik historischer Darstellungen sowie den historischen Texten inhärenten Wahrheitsanspruch, der die Diskurse Geschichte und Literatur grundsätzlich voneinander trenne. Tatsächlich profiliere White einzig den narrativen Modus als gemeinsames Charakteristikum historischer und literarischer Texte, ignoriere damit aber, dass beide Diskurse einen vollkommen differenten Wahrheitsanspruch für sich beanspruchen und grundsätzlich für »die Produktion und Rezeption literarischer Werke ganz andere Konventionen gelten als für geschichtswissenschaftliche«.8 Nünnings Kritik zielt auf einen in Whites Ausführungen installierten Literaturbegriff, der aus Sicht einer um die Autonomie des literarischen Kunstwerks bemühten Literaturwissenschaft heikel anmutet. White nämlich verteidigt seine Lektüre des historischen als literarischen Text mit dem Hinweis, dass beide doch ein ähnliches Ziel verfolgen: die Wirklichkeit zu erklären und Weltwissen zu vermitteln. So heißt es explizit in einem seiner Aufsätze jüngeren Datums: It is literature’s claim to manifest, express, or represent reality, to summon up and interrogate the real world in all its complexity and opacity, that brings it into conflict with writers of historical discourse.9 Hier bringt White einen Realismusbegriff ein, der nicht geeignet ist, den Begriff der Literatur zu erklären – vielmehr droht er die Literatur auf ein Werkzeug der Historiografie zu reduzieren und damit ihren autonomen Status einzuebnen. Ähnlich deutlich wird White in seinem Beitrag zum »historischen Text als literarisches Kunstwerk«, wenn er darin den erkenntnisstiftenden Status der Historiografie zu verteidigen sucht: Es würde ihn [den Status der Erkenntnis historiografischer Texte, S.C.] nur mindern, wenn wir der Meinung wären, daß die Literatur uns nichts über die Wirklichkeit lehrte, sondern Produkt einer Phantasie sei, die nicht von dieser Welt, sondern von einer anderen, nichtmenschlichen Welt wäre. Meines Erachtens erfahren wir die Fiktionalisierung der Geschichte als eine »Erklärung« aus demselben Grunde, wie wir große fiktionale Literatur als Erhellung einer Welt, in der wir zusammen mit dem Autor leben, erfahren. In beiden Fällen erkennen wir die Formen, mit denen das Bewußtsein die Welt, in der es sich einrichten will, sowohl konstituiert als auch kolonisiert.10 Die fehlende Abgrenzung der erkenntnisleitenden Intention eines historiografischen Textes (und seiner damit verbundenen Wissenschaftlichkeit) von jeglicher Art literarischer Texte erlaubt White, relativ unbedarft von den Gemeinsamkeiten beider auszugehen – führt jedoch zu einem prekären, engen Korsett, in das der Literaturbegriff gezwängt wird. Ähnlich undifferenziert, führt Ansgar Nünning in seiner Kritik an White weiter aus, gehe der Historiker bei seiner Einebnung des Unterschieds zwischen literarischen Verfahren und fiktionalem Aussagemodus vor. In der Tat wäre mit Nünning etwa zu fragen, ob ein literarischer Text, der realistische/dokumentarische Erzählelemente verwendet, zwangsläufig an Fiktionalität einbüßen muss. Drittens kritisiert Nünning die seines Erachtens »nicht haltbare[] Gleichsetzung von emplotmentmit Literarizität und Fiktionalität«.11 Hier liegt tatsächlich eine entscheidende Schwäche der White’schen Argumentation verborgen, da es ihm nicht gelingt, überzeugend nachzuweisen, inwiefern das emplotment(nämlich »die Kodierung der in der Chronik enthaltenen Fakten als Bestandteile bestimmter Arten von Plotstrukturen«), so wie White es mit Bezug auf Frye verstanden haben will, tatsächlich nur Literatur und Historiografie vorbehalten ist. Vielmehr ließe sich dieser Konstruktionsprozess auch auf journalistische und dokumentarische Texte ebenso wie auf jede Art von Fallbeschreibungen (juristische, klinische, psychologische) übertragen – die deshalb noch lange keine fiktionalen oder literarischen Texte darstellen. Zuletzt, hier setzt Nünning seinen vierten Kritikpunkt an, begegne bei White ein deutlich überstrapazierter Fiktionalitätsbegriff, der sich zumindest für die literaturwissenschaftliche Arbeit nicht eignet. Zu leichtfertig setze White den Konstruktionscharakter historiografischer Texte mit deren fiktionaler Beschaffenheit gleich. Statt von den Konstruktionsmechanismen eines Textes auf seine literarische Dimension zu schließen, wäre es (zumindest aus literaturwissenschaftlicher Sicht) sinnvoller, nach jenen Unterschieden zu fragen, die möglicherweise die narrative Konstruktion der Geschichte in literarischen Texten von jener in historischen trennt. Die Kritikpunkte an Whites Argumentation ließen sich fortführen, etwa mit Blick auf die Tatsache, dass White in Metahistoryseine Thesen ausschließlich über eine Analyse der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts entwickelt, die in den Folgeveröffentlichungen apodiktisch auf die geschichtliche Darstellung generell übertragen wird. Darüber hinaus ignoriert White, wenn er die tropische Struktur des Plots (der diegetischenEbene) untersucht, eine zweite Ebene, die der erzählenden Distanz, die in historischen wie literarischen Darstellungen jenseits der diegetischen Ebene positioniert sein und diese extradiegetische Position selbstreflexiv zum Ausdruck bringen kann. Zuletzt haben auch Whites oben ausgeführte Ansätze einer Narrationsanalyse und die darin vorausgesetzte Kombination der dominierenden Plotstruktur (Romanze, Komödie, Tragödie, Satire) mit Formen der ideologischen Implikation (konservativ, liberal, anarchistisch, radikal) literaturwissenschaftliche Vertreter in ihrer Logik nur bedingt überzeugt.12 Ungeachtet dieser, gerade aus literaturwissenschaftlicher Perspektive durchaus berechtigten Einwände bleibt Hayden White, und zwar deutlicher noch für Literaturwissenschaftler als für seine Historiker-Kollegen, die zentrale Referenz, wenn es um die Diskussion narrativer Verfahren der historiografischer Darstellungen geht: Tatsächlich wird seinem Werk bereits der Status eines »cultural icon« zugesprochen.13 3.2.2 Hayden White und die postmoderne Geschichtswissenschaft Die nahezu unüberschaubare, affirmative wie kritische Rezeption Hayden Whites in literaturwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Beiträgen zur Narrativität historischer Darstellungen hat dafür gesorgt, dass White als Vorreiter einer postmodernen Kritik am positivistischen Begriff der Geschichte wahrgenommen wird – auch White selbst gibt sich (wenngleich vorrangig in seinen späteren Veröffentlichungen) namentlich als ›Postmodernist‹ zu erkennen.1 Diese Fremd- und Selbstetikettierung hat dazu geführt, dass White für einen Repräsentanten jener poststrukturalistischen Ansätze gehalten wird, wie Roland Barthes, Jacques Derrida und Richard Rorty sie vertreten. Diese Positionen jedoch, so stellt ein genauer Blick insbesondere in Whites Veröffentlichungen der 1970er und 1980er Jahre klar, liegen dem Historiker fern. Entsprechend rechnet er in einem frühen Aufsatz mit der seines Erachtens »absurdistischen«, durch dekonstruktivistische Ansätze geprägten Literaturkritik der französischen Theoretiker ab, allen voran mit Jacques Derrida, dem, so White polemisch, »derzeitigen Magus der Pariser Intellektuellenszene«.2 Die Schärfe seiner Argumentation lässt keinen Zweifel daran, dass ihm der radikale Entwurf Derridas, in dem »der Welt jegliche Substanz abgesprochen wird und die Wahrnehmung blind ist«,3 zu weit geht. Vor diesem Hintergrund erklären sich die offensichtlichen Unterschiede, die zwischen White und der poststrukturalistischen Infragestellung jeglicher realer Ereignisse, wie sie etwa Roland Barthes in Historie und ihr Diskursvertritt, bestehen. Barthes erklärt die Trennung zwischen res gestae(als Signifikat der Geschichte) und historia rerum gestarum(als Signifikant) für obsolet, da er wie Derrida die Existenz eines »Text-Äußeren«4 bestreitet und die historischen Fakten nicht als Realität, sondern »Be-deutetes« erkennt. Hayden White jedoch gibt die historische Referenzialität nicht preis, sondern hält an der Existenz einer historischen Wirklichkeit fest – wenngleich er die Möglichkeit, diese mimetisch abbilden zu können, hinterfragt. Hier ist dem deutschen Historiker Hans-Jürgen Goertz zuzustimmen, der als einer der wenigen Fachvertreter darauf hinweist, dass White gerade nicht der postmodernen Neigung nachgibt, »die Wirklichkeit […] dem Text zu opfern«.5 Deutlich wird dies, wenn White in Metahistoryals sein erklärtes Arbeitsziel angibt, das Geschichtswerk in seinem offensichtlichsten Aspekt [zu] erschließen, nämlich als sprachliches Gebilde in der Form alltäglicher Rede, welches ein Modell oder Abbild vergangener Strukturen und Prozesse zu sein und auf dem Weg ihrer Darstellungdas »wirkliche Geschehen« zu erklärenbeansprucht.6 Hier wird die bei White noch aufrecht erhaltene Differenzierung zwischen der Geschichtserzählung und den ihr möglicherweise zugrunde liegenden Fakten offensichtlich – White problematisiert die historische Erkenntnis aufgrund der poetischen Eigenschaften der Geschichtsdarstellung, nicht aber die Existenz historischer Tatsachen an sich. Diesen jedoch entzieht Roland Barthes bereits den Boden, wenn er dem historischen Diskurs nicht mehr das Reale, sondern lediglich dessen Effekt ( l’effet de réel) zugrunde legt. Auch in späteren Veröffentlichungen hält Hayden White an der von ihm nicht weiter hinterfragten Existenz so genannter ›realer Ereignisse‹ oder ›realer Ereignisreihen‹ fest, etwa in seinem 1987 erschienenem Aufsatz zum Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, in dem er sich explizit mit Barthes poststrukturalistischen Thesen auseinandersetzt.7 Darin skizziert White die »›Dekonstruktion‹ von Narrativität, wie sie von Barthes und den Poststrukturalisten betrieben worden war,« und lässt keinen Zweifel an seiner Distanz zu deren Positionen, wenn er Barthes’ Schlussfolgerungen als das Resultat »einer Menge höchst problematischer Theorien« versteht, »die insbesondere mit den Namen von Jacques Lacan und Louis Althusser verbunden sind.«8 Umso erstaunlicher ist, dass Hayden White und Roland Barthes nicht nur häufig in einem Atemzug genannt werden, sondern Whites Positionen gerade wegen ihrer vermeintlichen Nähe zu poststrukturalistischen Ansätzen und deren Dekonstruktion des Wirklichkeitsbegriffes attackiert werden.9 Noch im Jahr 1995 reagiert White in Journal of Contemporary Historyauf einen solchen Angriff, der in der gleichen Zeitschrift in der vorausgegangenen Ausgabe erschienen war. Arthur Marwick, Historiker und überzeugter Kritiker der aus seiner Sicht überbewerteten Diskussion um die Narrativität der Geschichtsschreibung bzw. der Geschichte, vollzieht darin eine Abrechnung mit postmodernen Theoretikern und spannt seinen Bogen von Lévi-Strauss, Lacan, Barthes, Foucault bis hin zu Hayden White und Antony Easthope. Ihnen allen unterstellt er die Instrumentalisierung und Banalisierung der anspruchsvollen, gewissenhaften, einer seriösen Quellenkritik verpflichteten historischen Tätigkeit im Dienste eines fragwürdigen postmodernen Geschichtsbegriffes.10 Hayden White nimmt Bezug auf diese Kritik, wirft Marwick (zu Recht) einen insgesamt undifferenzierten Umgang mit dem Begriff der Postmoderne vor und positioniert sich in bezeichnender Weise zu Barthes’ theoretischen Standpunkt, indem er diesen zwar nicht angreift, jedoch in seinem Sinne umdeutet. I have been criticized elsewhere for my agreement with Barthes’s remark: ›Le fait n’a jamais qu’une existence linguistique‹. This has been taken to suggest that ›events‹ are only linguistic phenomena, that events have no reality, and that therefore there are not and possibly never were any such things as historical events. Now, such a view, if anyone ever held it, is manifestly absurd. By ›history‹ (considered as an object of historical research), we can only mean the sum total of all the events (including the interconnections between them) that happened in ›the past‹. The events have to be taken as given; they are certainly not constructed by the historian. It is quite otherwise with ›facts‹. They are constructed: […] It is the ›facts‹ that are unstable, subject to revision and further interpretation, and even dismissible as illusions on sufficient grounds. Thus, Barthes’s statement that ›facts have only a linguistic existence‹ I construe as an assertion that ›facts‹ – unlike events – are linguistic entities […].11 White gibt hier weder die historische Referenzialität noch den Wirklichkeitsbegrifft preis, da er zwar die Fakten des Historikers als Konstrukt, die dahinter liegenden historischen Ereignisse ( events) jedoch weiterhin als objektiv gegeben begreift. Zuletzt hat Hayden White sich an einer Differenzierung zwischen historical factund historical eventin einem 2008 veröffentlichten Gespräch mit der polnischen Historikern Ewa Domanska versucht. Unter Rückgriff auf Arthur C. Danto bezeichnet White factshier als »linguistic phenomena or concepts because the fact is an event under description« und gibt damit die herkömmliche Trennung zwischen den res gestaeund der historia rerum gestarum, wie sie auch Barthes bestritten hatte, scheinbar doch auf.12 Den Prozess, in dem ein Historiker aus dem tatsächlich Ereigneten das historische Faktum generiert, nennt White »factualization« und begreift diesen als performative Äußerung. Er nimmt damit implizit Bezug auf Barthes, der den historischen Diskurs ebenfalls als »verfälschte[n] performative[n] Diskurs« enttarnt hatte.13 Tatsächlich scheint White sich hier deutlich stärker an die Positionen Roland Barthes anzulehnen als in seinen frühen Veröffentlichungen – seine Interviewpartnerin bezeichnet sein Konzept des historischen Faktums entsprechend (und ohne dass White widerspricht) als »inherited from Barthes«.14 Und dennoch: White beharrt darauf, sich, anders als Barthes, auf etwas außerhalb des Diskurs Liegendes zu beziehen, das nicht mehr die Fakten, sondern die eventsmeint. Hier scheint ein auffälliger Widerspruch im Denken Whites zu liegen, der – obgleich er die sprachliche Gestaltung, die Selektions- und Interpretationsverfahren, denen die historischen Fakten unterliegen, immer wieder unterstreicht – nach wie vor an seinem Begriff der eventsals »things that really happened«15 festhält. Die Aufgabe des Historikers ist es mit White gerade, jene historischen Ereignisse ( events) zu interpretieren, die do not conform to the factual records that we already have processed. They fall outside and they are asking to be classified. This is what a historian does in his/her research about a given event.16 Wie aber lässt sich zwischen factsund eventsdifferenzieren, wenn sämtliches Wissen um ein vergangenes Geschehen, wie auch White betont, Prozesse der Repräsentation und der Erklärung voraussetzt? Das vergangene Geschehen ist jenseits seiner, mit White, Faktualisierungnicht zu haben und steht damit ausschließlich als »event under description« zur Verfügung. Mit dieser Einsicht aber ist eine Beschäftigung mit dem, was White als given eventbezeichnet, nicht mehr möglich, da die Geschichte sich nicht mehr, mit Barthes, auf das Reale, sondern lediglich das Intelligiblezurückrechnen lässt. Whites Bedeutung für die Geschichts- wie die Literaturwissenschaft liegt, das lässt sich abschließend feststellen, weniger in seiner Relativierung der historischen Wirklichkeit – das vollziehen (auch vor ihm) andere konsequenter. Vielmehr bleibt das entscheidend Neue seiner Arbeit die konsequente Analyse historischer Texte mithilfe einer Untersuchung ihrer rhetorischen Struktur und damit die analoge Betrachtung literarischer und historischer Texte. Die Reaktionen auf Whites Thesen durch die Geschichts- wie die Literaturwissenschaft fallen bis in die Gegenwart äußerst unterschiedlich aus, erweisen sich jedoch gerade in ihrer Heterogenität als konstruktiv: Im Versuch, Whites Argumentation zu entkräften und die Unterschiede zwischen Geschichtsschreibung und Literatur aufrecht zu erhalten, wird eine fruchtbare Diskussion über das Verhältnis von Literatur und Geschichte, eine Poetik der Historie und das historische Wissen der Literatur angestoßen. 3.3 Die Diskursivierung der Geschichte: Michel Foucault Die inzwischen nahezu unüberschaubare fachübergreifende Rezeption der Werke Michel Foucaults spiegelt sich in seiner geschichtswissenschaftlichen Berücksichtigung, allen voran im deutschsprachigen Raum, nur bedingt. Hier setzt eine Auseinandersetzung mit dem Franzosen erst in den 1990er Jahren ein und bringt zunächst Einzelanalysen hervor, die etwa machtanalytische und genderorientierte Ansätze für geschichtswissenschaftliche Untersuchungsfelder fruchtbar zu machen suchen oder an Foucaults archäologische Studien zur Geschichte des Wahnsinns, der Pathologie sowie der Kriminalität anknüpfen.1 Die Entdeckung des Historikers Foucault verdankt sich vorrangig der umfangreichen, 1998 erschienenen Studie Ulrich Brielers, die zu folgendem Ergebnis kommt: In summa: Die Historie Foucaults kann als der radikalste Versuch zeitgenössischen Geschichtsdenkens verstanden werden, die vermeintliche Objektivität der historischen Gegenstände und ihrer theoretischen Fassungen zu brechen.2 Inzwischen sind Brielers Untersuchung weitere Arbeiten gefolgt, die das Werk Foucaults aus einer breiteren geschichtswissenschaftlichen Perspektive beleuchten.3 Von Interesse für die vorliegende Untersuchung ist die Frage, inwieweit Foucaults Ausführungen zur Geschichte an der tiefen Verunsicherung der Geschichtswissenschaft angesichts der postmodernen Einsicht in die sprachliche Verfasstheit der Wirklichkeit teilhaben, inwieweit also eine positivistisch vorausgesetzte historische Realität in Foucaults Diskursbegriff aufgeht. Diesbezüglich findet eine frühe Verurteilung durch die Geschichtswissenschaft statt, indem Foucaults Konzept der Diskursanalyse hier ausdrücklich als Signal des linguistic turnund als Ansatz verstanden wird, den außersprachlichen Kontext unberücksichtigt zu lassen – mithin die historische Referenzialität einmal mehr aufzugeben.4 Als vermeintlich exponierter Vertreter des (Post-)Strukturalismus wird Foucault zum einen (insbesondere von Vertretern eines um politische Intervention bemühten Marxismus) die Flucht aus der Realität in einen apolitischen Szientismus unterstellt. Zum anderen – und dies ist das aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive entscheidendere Argument – wird ihm die grundsätzliche Infragestellung historischer Kontinuität zugeschrieben sowie die Absage an die Möglichkeit des Einzelnen zur historischen Veränderung und damit das »Ende des Subjekts«.5 Offenbar zeigt sich innerhalb dieser Diskussion eine ähnliche Undifferenziertheit, wie sie bereits die oben ausgeführte Vereinnahmung der Thesen Hayden Whites durch poststrukturalistische Positionen (und der Kritik daran) sowie die fehlende Trennschärfe zwischen der Narrativitätsdebatte und dem vermeintlich postmodernen Abschied von den historischen Fakten kennzeichnet. Zum Teil verführt wohl der Foucault’sche Diskursbegriff dazu, ihn analog zu dem von Barthes profilierten und damit ganz im Sinne des Poststrukturalismus zu verstehen. Tatsächlich aber ist Philipp Sarasin zuzustimmen, wenn er mit Blick auf das Foucault’sche Gesamtwerk behauptet: »Wir werden sehen: Diskursanalyse nach Foucault hat kaum etwas mit dem linguistic turn zu tun […].«6 Wie Barthes entwickelt Foucault den Diskursbegriff ausgehend von der Unterscheidung der Ebene des Geschehens ( histoire) und der Ebene seiner sprachlichen Darstellung ( discours), löst sich in der Folge jedoch von dem streng linguistischen Entwurf und hält beide, wie Hans-Jürgen Goertz im Blick auf die sich wandelnden Positionen Foucaults unterstreicht, in »einer Spannung, die neue Perspektiven für die historische Arbeit zu eröffnen vermag«.7 Diese Spannung wird insbesondere im Übergang von Die Ordnung der Dinge(1966) zu Die Archäologie des Wissens(1969) nachvollziehbar, jenen Schriften, die im Kontext geschichtswissenschaftlicher Auseinandersetzungen am stärksten rezipiert worden sind.8 Foucaults Einordnung als Poststrukturalist verdankt sich unübersehbar dem früheren der beiden Werke, in dem Foucault eine Archäologie der Humanwissenschaften(so der Untertitel der Studie) entfaltet, welcher er seinen Begriff der Epistemezugrunde legt, jenes Ordnungschema, das »im Raum der Gelehrsamkeit« die Bedingungen konfiguriert, »die den verschiedenen Formen der empirischen Erkenntnis Raum gegeben haben.«9 Als Episteme der Renaissance begreift Foucault die Ähnlichkeit, welche die Signatur und das von ihr Bezeichnete verbindet – beide sind hier noch »von genau gleicher Natur«.10 Das Prinzip der Ähnlichkeit fungiert damit als das erkenntnisstiftende Zwischenglied, das Zeichen und Bezeichnetes miteinander verknüpft: »Den Sinn zu suchen, heißt an den Tag zu bringen, was sich ähnelt.«11 Das heißt auch, dass die Sprache als epistemologisches Instrument hier zum einen nicht in Frage gestellt wird, und zum anderen Hermeneutik (als die Suche nach dem bedeuteten Sinn) und Semiologie (als Auseinandersetzung mit den deutenden Zeichen) ineinander übergehen.12 Im Übergang zum klassischen Zeitalter, im auslaufenden 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts, beginnen Signifikat und Signifikant sich, mit Foucault, voneinander zu lösen. Um eine Verbindung zwischen beiden herzustellen, dominiert nun die Episteme der Repräsentationund später, im modernen Zeitalter, die des Menschenund der (subjektiven) Bedeutung, die er den Dingen verleiht. Von nun an, so Foucault, wird man sich fragen, wie ein Zeichen mit dem verbunden sein kann, was es bedeutet. Auf diese Frage wird das klassische Zeitalter durch die Analyse der Repräsentation antworten, und das moderne Denken wird mit der Analyse des Sinnes und der Bedeutung antworten. Aber genau dadurch wird die Sprache nichts anderes mehr sein als ein besonderer Fall der Repräsentation – für die klassische Epoche – oder der Bedeutung – für uns. Die tiefe Zusammengehörigkeit der Sprache und der Welt wird dadurch aufgelöst.13 Das im klassischen Zeitalter etablierte Ordnungssystem der Repräsentationstellt dabei ein selbstregelndes Zeichensystem zur Verfügung, welches das Bezeichnete im repräsentierenden Bezeichnenden unmittelbar aufgehen lässt und die Erkenntnisfunktion der Sprache weiterhin aufrecht hält. Foucault verweist in seiner Argumentation auf das in der Logik von Port-Royalangegebene Beispiel der Landkarte, die dem von ihr bezeichneten Raum nicht ähnelt, sondern allein über die abstrakte Idee der Repräsentation funktioniert: Tatsächlich hat das Bezeichnende als alleinigen Inhalt, als alleinige Funktion und als alleinige Bestimmung nur das, was es repräsentiert: es ist völlig danach geordnet und transparent; aber dieser Inhalt wird nur in einer Repräsentation angezeigt, die sich als solche gibt, und das Bezeichnete liegt ohne Rückstände oder Undurchsichtigkeit im Innern der Repräsentation des Zeichens.14 Dieser Glaube an eine Naturgeschichte, in der die Erkenntnis der Wesen aus der Möglichkeit ihrer Namensgebung resultiert und das Prinzip der Repräsentation den Dingen eine Realität gibt, erfährt im modernen Zeitalter, im Umbruch zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert, eine radikale Erschütterung. Diese wird, folgt man Peter Sloterdijk, ausgelöst durch die Einsicht in die »den Dingen selbst inhärenten Grenzen, […] die Autonomie der sachlogischen Ordnungen und ihre Irreduzibilität auf die Weise ihrer Vorstellung«.15 Repräsentation und Realität fallen nun mit Foucault auseinander, veranschaulicht an den Bereichen der Arbeit, des Lebens und der Sprache. Jedes Sprechen ist von nun an durch den historischen und sozialen Ort determiniert, in dem es stattfindet – der Diskursals die (zunächst noch sprachlich gefasste) Erscheinungsform der Episteme rückt in den Vordergrund der Foucault’schen Argumentation und meint nun eine Denk- und Aussagepraxis, die jene Dinge, von denen sie spricht, erst produziert. Hier erst setzen jene sprach- und erkenntnistheoretischen Reflexionen Foucaults an, die seine Wahrnehmung als Poststrukturalist primär verantworten. Exemplarisch zeigt das die Rezeption durch Hayden White, der einen Schulterschluss mit Foucault bereits früh übt. In einem 1973 veröffentlichten Beitrag setzt er sich mit Die Ordnung der Dingeund Die Archäologie des Wissensauseinander und deutet Foucaults Aussagen dabei als erkenntnistheoretische Prämissen einer Geschichtswissenschaft, die sich der spЧитать дальше
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