15 Tatsächlich zeigen sich von den politischen Ereignissen in den Jahren 1989/1990 Vergangenheit und Zukunft der deutschen Literaturgeschichtsschreibung gleichermaßen beeinflusst:16 Zum einen geht es um die Genese einer kollektiven Identität, die sich nach 1990 im Hinblick auf die bislang »geteilte« deutsche Literatur neu formieren muss. Zum anderen positioniert sich die literarische Kritik neu, die im wiedervereinten Deutschland nun mit einem Literaturbegriff abrechnet, der in der DDR durchgehend »nicht in einer autonomen Wertsphäre angesiedelt, sondern unmittelbar der Lenkung und Kontrolle durch die SED unterworfen« war.17 Erst die Öffnung der staatlichen Archive in den Jahren nach 1989 (und nicht nur jene der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit, sondern auch die des Schriftstellerverbandes, der Akademie der Künste oder der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel) macht die Verschränkung des literarischen Systems mit (macht-)politischen Interessen in ihrem ganzen Ausmaß deutlich – und fordert Korrekturen an der ›Arbeit an der Vergangenheit‹ ebenso wie innerhalb der Literaturgeschichtsschreibung ein.18 Das Feld der literarischen Historiografie, der Literaturkritik sowie der literarischen Produktion trägt Spuren der nun nicht mehr zensierten und um bislang zurückgehaltene Einsichten erweiterten Forschung: Es zeigt sich dominiert von der schwierigen Frage, wie Literatur vor 1989, insbesondere die DDR-Literatur, nach der Wende neu gelesen werden kann, bzw. muss. Rainer Benjamin Hoppe stellt in diesem Zusammenhang dar, dass jede Auseinandersetzung mit literarischen Texten vor der Epochenzäsur sich grundsätzlichen Fragen zu stellen habe, die über rein hermeneutische Kategorien hinausgehen: Beruht ein anderes Verständnis von fiktionalen Texten, die vor 1989 geschrieben wurden, nach 1989 lediglich auf neuen Informationen, welche wiederum die Grundlage für neue Analysen oder Interpretationen bieten? Oder sind die neuen Lesarten das Produkt einer grundlegenden politischen Umorientierung? Anders ausgedrückt: Dreht es sich um eine Horizonterweiterung im Sinne der Hermeneutik, oder unterwerfen die neuen Machtverhältnisse den Diskurs der DDR-Literatur einer politisch motivierten Umwertung?19 Die vorliegende Untersuchung nimmt den Epochenumbruch von 1989 ernst und beabsichtigt zugleich, die oben beschriebene Auseinandersetzung um die Thematisierung von Wirklichkeit in der Literatur unter moralistischen Gesichtspunkten hinter sich zu lassen. In den Vordergrund rückt hingegen ein Wirklichkeitsbegriff, der nicht mehr gegen seine politische Instrumentalisierung verteidigt werden muss, sondern als extraliterarischer wie spezifisch historiografischer Referenzbereich im Medium der Literatur selbst kritisch diskutiert wird. Welche Aufgaben sich mit der Literatur nach 1989 im Kontext der politischen Umbrüche ebenso wie dem neuen Realitätsverständnis möglicherweise verbinden, formuliert stellvertretend für die Schriftstellergeneration der 1990er Jahre Robert Menasse. Der österreichische Autor äußert sich nicht nur in seinem literarischen Oeuvre, sondern auch als Essayist wiederholt zur österreichischen wie europäischen Geschichte und fordert in einem 1995 geführten Interview für die zeitgenössische Literatur eine neue Auseinandersetzung mit dem Geschichtsbegriff ein: Die neunziger, obwohl wir erst die erste Hälfte hinter uns haben, haben ja bereits ein bestimmtes Image. Sie begannen 1989 und sind das erste Jahrzehnt seit langem, in dem wieder Weltgeschichte passiert ist und nicht nur aufzuarbeiten oder festzuschreiben versucht wurde. Ich glaube, wenn die Literatur sich als zeitgenössisch versteht und das reflektieren will, dann wird sie sich einfach verstärkt mit dem Geschichtsbegriff auseinandersetzen müssen.20 Menasse setzt nun gerade nicht, im Unterschied zu zahlreichen Vertretern der Literaturkritik wie der Literaturgeschichtsschreibung, die neu aufkommende Relevanz politischer Realität leichtfertig und unkommentiert mit dem Ende postmoderner Vorstellungen gleich. Stattdessen koppelt er diese zunächst noch an den aktuell gültigen Geschichtsbegriff, den es literarisch einzufangen gelte: Was ist Geschichte überhaupt? Ich meine, wenn der Glaube an einen immanenten Sinn der Geschichte, an Fortschritt und an ein Geschichtsziel verlorengeht, dann hat das Auswirkungen auf jede Geschichte, die wir jetzt erzählten wollen. Die narrativen Zusammenhänge etwa, die wir herstellen, können ja nicht unbeeindruckt bleiben von der Zerstörung der Zusammenhänge, die wir gewohnt waren und die wir vorausgesetzt haben.21 Menasse skizziert hier sehr pointiert einen Spannungsbogen, der die Produktion und die Rezeption historisch-fiktionaler Texte seit 1989 maßgeblich steuert und die Herausforderung dieser Literatur sichtbar macht, die Historie nämlich als literarisches Sujet tatsächlich ernst zu nehmen und zugleich deren einschneidende (dabei nicht allein postmodernistisch geprägte) Neuausrichtung auf inhaltlicher wie formal-stilistischer Ebene sichtbar zu machen. Das Ende der Nachkriegszeit: Ein Generationswechsel und seine Folgen Die Jahre nach 1989 bedeuten nicht nur mit Blick auf das politisch wiedervereinte Deutschland eine Zäsur, sondern zugleich auch angesichts der veränderten Rolle, die dem Thema der ›Vergangenheitsbewältigung‹ zukommt. Der Historiker Michael Wildt beschreibt in seiner Auseinandersetzung mit der »Epochenzäsur 1989/90« das Ausmaß der Horizonterweiterung, den diese Jahre allem voran für die Geschichtswissenschaft bedeuten: Durch den Zusammenbruch des Kommunismus fiel nicht allein die ständige Zumutung fort, sich legitimatorisch von der marxistischen Geschichtsschreibung abgrenzen zu müssen. Vor allem wurde mit dem Fall des Eisernen Vorhangs der Blick auf Osteuropa frei, wo die Massenverbrechen des NS-Regimes überwiegend stattgefunden hatten. […] Insgesamt aber war die deutsche Historiographie zum Nationalsozialismus 1989/90 noch stark nationalgeschichtlich ausgerichtet gewesen. Nun nahm Osteuropa nicht nur seinen Platz in Gesamteuropa wieder ein, sondern auch die Geschichtsschreibung erkannte, dass das NS-Regime seine Vernichtungspläne mit besonderer massenmörderischer Vehemenz außerhalb der ehemaligen deutschen Reichsgrenzen verwirklicht hatte – nämlich in den besetzten Ostgebieten.22 Unmittelbare Folge dieser Ausweitung der nun nicht mehr allein nationalgeschichtlich bestimmten Historiografie ist mit Wildt die Europäisierung und Globalisierung des Holocaust-Diskurses, die sich in neuen Formen der Erinnerungspolitik bemerkbar machen.23 Aleida Assmann geht diesem Wandel der Erinnerungs- und Geschichtspolitik nach 1989 nach und unterstreicht ebenfalls, dass sich hier »die Gedächtnisrahmen noch einmal deutlich verschoben« haben.24 Mit Assmann ist es eben jene auch von Wildt konstatierte neue, weltöffentliche Aufmerksamkeit, die nun spezifisch nationale Gedächtniskonstruktionen verabschiede und für neue kollektive Erinnerungsformen sorge, die nicht mehr in die Muster einer nachträglichen Heroisierung und Sinnstiftung fallen, sondern auf universale Anerkennung von Leiden und therapeutische Überwindung lähmender Nachwirkungen angelegt sind.25 Voraussetzung für diese Sensibilisierung, die Schuldabwehr durch Schuldannahme ersetzt, ist der in den 1980er und 1990er Jahren sichtbar werdende Generationswechsel, der unmittelbaren Einfluss auf die Dynamik des kollektiven Gedächtnisses nimmt. Eine gewichtige Folge dieses Generationswechsels ist die schwindende Stimme der Zeitzeugen – jener Generation der Überlebenden wie der Täter. Das Bewahren dieses Zeitzeugengedächtnisses vergegenwärtigt in den 1990er Jahren einen fundamentalen Aufgabenbereich der NS-Historiografie, ablesbar an dem Bemühen um ein möglichst umfangreiches Archiv an Dokumentationsmaterial, das dem Verstummen der ›erlebten Geschichte‹ Einhalt gebieten soll.26 Für Deutschland bedeutet der beschriebene Generationswechsel im Besonderen den Wandel vom Erfahrungs-, nicht zuletzt vom Tätergedächtnis, das sich der Vergangenheitsbewältigung und damit der Annahme eines auch negativen Gedächtnisses bis dato häufig in den Weg stellte, zu Formen einer kollektiven Erinnerung der Nachgeborenen, die – mit Assmann – die dunklen Kapitel ihrer Geschichte nicht mehr mit Vergessen übergehen können, sondern für diese Verantwortung übernehmen, indem sie sie im kollektiven Gedächtnis stabilisieren und ins kollektive Selbstbild integrieren.
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