Allerdings bleibt an dieser Stelle zu bedenken, dass eine mediengestützte Didaktik immer nur dann greifen kann, wenn die Schulen über die nötigen technischen Voraussetzungen verfügen. Faktisch bewertet aber nur ein Viertel aller Lehrer die technische Ausstattung ihrer Schule als gut oder sehr gut – 72 % aller Fremdsprachenlehrer dagegen als mittelmäßig bis sehr schlecht (cf. BITKOM 2011, 30sqq.). Angesichts dieses Ergebnisses einer Umfrage im Rahmen der Studie Schule 2.0 stellt sich die Frage, wie trotz technisch mangelhafter Ausstattung die Kompetenz des Hör-Seh-Verstehens anhand audiovisueller Materialien geschult werden kann.
Etwaige Lösungsansätze führender Schulbuchverlage können dem weiteren Verlauf dieser Arbeit entnommen werden (cf. Kap. 6.3.4.3). Es sei vorab darauf hingewiesen, dass im Fall technisch mangelhaft ausgestatteter Schulen die seit 2012/13 von den Verlagen Klett und Cornelsen für den Französischunterricht bereitgestellten Lernvideos von großer Hilfe sind, da sie mit dem Erwerb des zugehörigen Übungshefts jedem Schüler individuell zur Verfügung stehen. Das hat den Vorteil, dass Lehrer unabhängig von der technischen Ausstattung ihrer Institution Hör-Seh-Verstehen nahezu uneingeschränkt schulen können, zumal die Schüler von zu Hause aus auf das Medium zugreifen können.
Hinzu kommt, dass insbesondere die seit 2012 auf dem Markt erschienenen Lernvideos auf die spezifischen Kompetenzen und Bedürfnisse des Anfangsunterrichts zugeschnitten sind. Zwar bestehen gemäß des GeR noch keine europaweit gültigen Deskriptoren zum Hör-Seh-Verstehen auf der Niveaustufe A1, die frühe Einsatzmöglichkeit ebendieser Lernvideos kommt jedoch der Forderung des Lehrplans nach, Medien an geeigneter Stelle bereits im Anfangsunterricht einzusetzen. Damit gelingt es den besagten Verlagen, der Diskrepanz zwischen Lehrplan und GeR zumindest ein Stück weit entgegenzuwirken (cf. Kap. 6.3).
Insgesamt kommt dem modernen Lehrwerk durch die bewusst systematische Aufnahme von Lernvideos eine richtungsweisende Bedeutung zu, die „im günstigsten Fall auch Neuerungen in den Unterricht“ (Quetz 1999, 168) transportiert und belegt, dass Lehrwerk und technischer Fortschritt einander nicht ausschließen. Die überarbeitete Konzeption geht einher mit einer regelrechten Aufwertung des Lehrmaterials, da neben den traditionellen Basiskompetenzen auch die zeitgemäße Schulung des Hör-Seh-Verstehens hinreichend Berücksichtigung findet.
5 Kompetenzerwerb durch Lernvideos: Diskursfähigkeit, Medienkompetenz und Differenzierungsmöglichkeiten
Lernvideos leisten in vielerlei Hinsicht einen Beitrag zum fremdsprachlichen Kompetenzerwerb. Ausgehend von den curricularen Forderungen nach einem integrierten Hör-Seh-Verstehen als Teilfertigkeit des Sprachlernprozesses ermöglichen sie eine einzigartige Bündelung von Kompetenzen, deren Zusammenspiel die Ausbildung fremdsprachlicher Diskurs- und Handlungsfähigkeit begünstigt. Letztere umfasst neben funktional-kommunikativen, transkulturellen und Sprachlernkompetenzen auch Sprachbewusstsein und Medienkompetenz. Im Sinne einer individuellen Förderung, die den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Bedürfnissen der Schüler gerecht wird, sollten beim Einsatz von Lernvideos zusätzlich Strategien zu Gunsten eines differenzierten Kompetenzerwerbs herangezogen werden.
Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung verschiedener Hör-Seh-Beispiele zeigt dieses Kapitel auf, inwiefern Lernvideos den Erwerb der zuvor genannten Kompetenzen unterstützen können. Neben Förderungsmöglichkeiten zur Schulung funktional-kommunikativer Fertigkeiten soll deren Potential als Wegbereiter für transkulturelle Kompetenzen sowie Sprachlernkompetenz, Sprachbewusstheit und Medienkompetenz vorgestellt werden, sodass abschließend auf Szenarien eines differenzierten Kompetenzerwerbs eingegangen werden kann.
5.1 Förderung funktional-kommunikativer Kompetenzen durch Lernvideos
Lernvideos haben ein hohes Kommunikationspotential. In Ergänzung zu textbasiertem Lehrmaterial sind sie integraler Bestandteil der Fremdsprachenvermittlung. Zu den Unterrichtszielen zählt jedoch nicht nur das erfolgreiche Decodieren und Interpretieren eines audiovisuellen Inputs. Entscheidend ist, dass der Lerner neben der Anwendung diverser Strategien zur Bildentschlüsselung auch in der Lage ist, auf der Basis des audiovisuellen Inhalts auf unterschiedlichen Ebenen zu interagieren. Dies betrifft insbesondere die Fähigkeit, andere – mündlich, schriftlich oder darstellerisch – am eigenen Hör-Seh-Verstehen teilhaben zu lassen und miteinzubeziehen.
Die kommunikative Kompetenz umfasst mehrere Teilfertigkeiten und ist in diesem Zusammenhang „eng mit dem Erwerb und der Verfügbarkeit von grundlegenden sprachlichen Mitteln verbunden: Wortschatz, Grammatik, Orthographie, Aussprache und Intonation“ (HKM 2011, 16). Wie im Folgenden veranschaulicht wird, besteht eine enge Verbindung zwischen produktiven und rezeptiven Aufgabentypen der Hör-Seh-Verstehensschulung. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass sich deren Entwicklung gegenseitig beeinflusst und unterstützt.
5.1.1 Rezeptive Kompetenzen
„Das Verhältnis gesprochener zu geschriebener Sprache [beträgt] in der täglichen Kommunikation […] 95 % zu 5 %“ (Thaler 2007b, 12; cf. Kieweg 2000, 5). Inwieweit diese Pauschalisierung zutrifft, sei allerdings offen gelassen, da nicht alle Sprachen über eine autonome Verschriftlichung verfügen.1 Dennoch unterstreicht das Zitat die Wichtigkeit der gesprochenen Sprache und somit die Funktion des Hörens als notwendige Bedingung für sprachliche Interaktionen und als Teil des sozialen Handelns.
Audiovisuelle Medien bieten einen sehr guten Zugriff auf authentische und unverfälschte Aussprache, weil sie diverse Register und Varietäten der Zielsprache präsentieren. Für Fremdsprachenlernende ist insbesondere das Kennenlernen von Phänomenen der gesprochenen Sprache ( code parlé ) von großer Bedeutung. Gerade im Französischen aber auch im Spanischen kommt es im Alltag immer wieder zu Äußerungen, die von der standardisierten Schriftsprache abweichen. Hierbei handelt es sich um teilweise erhebliche Differenzen auf lexikalischer und grammatischer Ebene, um Ellipsen oder Versprecher. Mit Hilfe von Lernvideos können Lernende in ihrem Sprachbewusstsein für eben diese sprachlichen Besonderheiten sensibilisiert werden.2 „Wird dieser Typ von Sprache nicht vermittelt, dann schränkt dies auch das Verstehen […] ein“ (Meißner 2001, 361). Der Sprachlerneffekt ist insofern gegeben, als Lerner darauf vorbereitet werden, spezifische Merkmale der Alltagssprache zu verstehen. Dies wirkt sich wiederum positiv auf ihre sprachliche Kommunikations- und Handlungsfähigkeit aus und ist von hoher transkultureller Bedeutung (cf. Reimann 2011, 124).
Die Schulung verschiedener Varietäten und Sprachregister umfasst natürlich auch den systematischen Aufbau einer allgemeinen Hörverstehenskompetenz. In Anlehnung an das zu Grunde liegende Lernziel und Material empfiehlt es sich, zwischen selektivem, Detail- und Globalverstehen zu unterscheiden. Dementsprechend variieren auch die zugehörigen Aufgabentypen zwischen Lückentexten, richtig/falsch-Aufgaben, oder dem globalen Erfassen der Gesamtsituation. An dieser Stelle ist auch denkbar, dass die Bildspur ausgeblendet wird oder Geräuschen Sinn verliehen wird. Ein klassisches Beispiel ist das Hineinfühlen und Vertrautmachen mit (Film-)Musik: Nur ein kurzer Ausschnitt genügt, um Gefühle zu wecken, Assoziationen herzustellen oder Vermutungen über den Film anzustellen.
Gleichermaßen haben bestimmte Äußerungen von Schauspielern aufgrund von Übertreibungen oftmals einen besonders einprägsamen Charakter, der zum Nachahmen einlädt und daher besonders stimulierend und einprägsam ist.
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