Eine in seine Partikularismen verliebte Intelligenz […] beginnt, keine mehr zu sein. Oder, um es noch deutlicher zu sagen: ich fürchte, für einige besteht das Mexikaner-Sein in etwas so Exklusivem, dass es uns die Möglichkeit verweigert, einfach nur Menschen zu sein. Und ich erinnere daran, dass Franzose, Spanier oder Chinese zu sein nur eine geschichtliche Art und Weise ist, über das Französische, Spanische oder Chinesische hinauszugehen.172
Wenn Paz also in Los hijos de La Malinche , das mexikanische Wesen unter dem Vorzeichen einer ‚extrañeza‘ betrachtet – einem tief empfundenen Befremden, das ein Gefühl des Hermetismus und einer fehlenden Lesbarkeit erweckt – so lässt sich dies in einem universell existenzialistischen Kontext interpretieren. So wirken gewiss nicht nur die Mexikaner „herméticos e indescifrables“.173 Auch Sprache selbst steht bei Paz zunehmend unter Vorbehalt: In unserer Sprache, schreibt Paz in Los hijos de La Malinche, gebe es geheime Wörter ohne klar umrissenen Inhalt, dessen ,magischer Vieldeutigkeit‘ wir sowohl den brutalsten als auch den subtilsten Ausdruck unserer Gefühle anvertrauten. Jeder Buchstabe, jede Silbe, so Paz, scheinen von einem Doppelleben beseelt, das uns gleichzeitig enthüllt und verbirgt.174 Auch wenn sich Paz hier noch konkret auf das sehr mexikanische Wort ,chingada‘ bezieht, scheint sich doch schon eine Entwicklung abzuzeichnen, die jenes ,Abgründige‘ vom reinen nationalen Identitätsnarrativ fortschreitend entkoppelt und in einer Sprachkritik universalisiert.
El mono gramático steht auf der Blüte dieser Entwicklung, die Identität auf einer sehr persönlichen Ebene an das Verhandeln einer Sprachproblematik knüpft. Die gesteigerte Sensibilität gegenüber Inhalten, die in der Alltagssprache verborgen oder latent sind, treibt Paz’ ,écriture‘ nicht nur zu einer poetischen Erkundung von Poesie, sondern rückt ihn auch in die Nähe des französischen Surrealismus. Obwohl Paz ein ,automatisches Schreiben‘ für sein eigenes Werk nie übernommen hatte und ihm immer weniger zustimmte, pflegte er doch eine intensive Freundschaft mit André Breton, mit dessen Werk er vertraut war. Der ,écriture automatique‘ geht es um eine Subversion der Alltagssprache durch den Entzug ihrer kommunikativen Funktion.175 Diese Subversion sieht Breton ganz allgemein in der Poesie verwirklicht, die sich jedoch nicht im Rahmen einer institutionalisierten ,Literatur‘ beschränkt halten solle, sondern, unter Aufhebung des Unterschieds von ,Kunst‘ und ,Leben‘, aus dem Randbereich in den Mittelpunkt einer Lebenspraxis gerückt werde.176 Durch die „zufällige Ausstreuung des Signifikanten“177 will Breton dessen ursprünglichen Gehalt wiederherstellen. „Die ,écriture automatique‘ soll Inhalte restituieren, die toten Formen wiederbeleben, die Präsenz des Ausgedrückten in die Sprache einholen.“178 Dabei geht es Breton nicht um das pauschale Verwerfen des Rationalismus, sondern um dessen Befreiung von seinem Nützlichkeitszwang und die Ermutigung des Menschen, sich all seiner Fähigkeiten zu bedienen.179 Es geht nicht darum, Kunstwerke zu produzieren, schreibt Breton etwa in seinem Zweiten Manifest des Surrealismus , sondern darum „aufzuklären über den nicht-erkannten und doch erkennbaren Teil unseres Seins, wo alle Schönheit, alle Liebe, alle Kraft, die wir kaum kennen, in intensivem Licht leuchten“.180 Der ,Automatismus‘ ist also Poesie, verstanden als Möglichkeitsdiskurs und Drang zu einer Entdeckung eines in der Sprache Verborgenen. Breton hat nicht einfach eine ästhetische Gestaltung des Lebens im Sinn, sondern eine Durchdringung und vor allem eine „Befreiung der durch die Zivilisation unterdrückten Wünsche“.181 Damit antwortet das automatische Schreiben auf ein ,Unbehagen in der Kultur‘. Ein unterdrücktes Unbewusstes soll hier mit Mitteln zum Vorschein gebracht werden, die Freud bereits sehr ähnlich in der Traumdeutung angelegt hatte. So ordnet Breton für das Schreiben automatischer Texte eine „passiv rezeptive Haltung“ an. Diesen Zustand „kritikloser Selbstbeobachtung“ empfiehlt auch Freud für die Bildung freier Assoziationen, um den latenten Trauminhalt durch die Zensur zu lotsen.182
Was nun diese Ansätze gerade für die Entwicklung einer ,poetischen Essayistik‘ so interessant macht, ist nicht zuletzt der Aspekt der Selbstbeobachtung, den Breton im Zweiten Manifest hervorhebt. Nicht nur ein Schreiben dürfe der ,Automatismus‘ sein, sondern auch die Erkundung der Ursprünge dieses Schreibens in sich selbst. Andernfalls blieben jene ,logischen Sondergebiete‘, die es zu erschließen gelte, eine Unbekannte: „Was sage ich: sie bleiben nicht nur unerforscht, diese logischen Gebiete, sondern man verharrt so sehr wie je in Unkenntnis über den Ursprung jener Stimme , die jeder von uns in sich vernehmen kann, die uns in seltsamster Weise von anderem spricht, als wir zu denken meinen […].“183 Die Erforschung jenes Anderen, in der Sprache stets Verfehlten, das als Unbewusstes in der Sprache diese immer wieder aufbricht und die denotativen Werte torpediert, ist eine Kraft, die Octavio Paz in der Poesie ausmacht. Er wird versuchen, sie nicht nur poetologisch, sondern auch poetisch zu ergründen. Der Rückgriff auf die dichterischen Vermögen des Menschen steht im Zeichen einer Enthüllungs- oder Demaskierungspsychologie: Sie konzentriert sich auf die ,sprachliche‘ Natur des Unbewussten. Insofern etabliert eine ,poetische Essayistik‘ Verbindungen sowohl zur Psychoanalyse als auch zu poststrukturalen Ansätzen. Damit betritt Paz einen Raum, den Jacques Lacan und die École Freudienne de Paris paradigmatisch bearbeitet haben und deren Erkenntnisse Julia Kristeva in ihren Studien kritisiert und erweitert hat. Octavio Paz steht in El mono gramático einer ,écriture automatique‘ nahe durch eine rezeptive Haltung, die in beobachtender Passivität einen Fluss der Zeichen empfängt. Was sein Schreiben jedoch deutlich vom ,Automatismus‘ unterscheidet, ist die Intervention der Kritik. Auch wenn Paz die Rolle des Zufalls im poetischen Ausdruck anerkennt, objektiviert er diesen Ausdruk stets mit Präzision und Bedacht: Seine Poesie ist „hija del azar; fruto del cálculo“.184 Tatsächlich erhält der Leser einen Eindruck sich verselbstständigender Sprache, indem Paz eine Vielzahl miteinander verknüpfter Bedeutungsgehalte, Mallarmés berühmtem coup de dés nachempfunden, inspirativ ,ausschüttet‘. Gleichzeitig setzt jedoch ein kritisches ,Abarbeiten an der Sprache‘ ein; der poetische Fluss der Zeichen wird objektiviert und kritisiert. Poetische Essayistik bei Paz, so wie sie sich in El mono gramático darstellt, entspringt einer Sensibilität gegenüber dem Abgründigen, dessen poetische Gehalte durch eine Praxis des poetischen Schreibens zu Bewusstsein gebracht werden. Gleichzeitig ist sie jedoch auch das Anhalten dieses poetischen Flusses, um ihn mit dem Echolot der rational zentrierten Kritik zu erkunden.
Es scheint mir, dass María Zambrano und Octavio Paz das gleiche Projekt, doch vielleicht in ,umgekehrter Richtung‘ verfolgen: inspiratives Ausschütten der Signifikanten bei Paz, in die sich die Kritik senkt, bzw. Wahl des philosophischen Ausdrucks bei Zambrano, um ihn anschließend vom Widerhall seines poetischen Gehalts auseinandertreiben zu lassen. Poesie zu Kritik bzw. Kritik zu Poesie. Am Grund dieser Bewegungen lässt sich eine Sprachkritik ausmachen, die sich letztlich auch auf die Kritik selbst zurückwendet. Damit drückt sich ein Aspekt des ,Essayistischen‘ aus, der sehr nah an die Sensibilitäten des Poststrukturalismus heranreicht. Wie Müller-Funk schreibt, hat Essayistik vor allem insofern mit Dekonstruktion zu tun, als sie sich am abendländischen Logozentrismus reibt und darin eine selbstreflexive Metaebene erreicht: „Beide, der Essayismus wie die Dekonstruktion, sind ,parasitär‘: Das wissenschaftliche Denken, das sie durchkreuzen und subvertieren, ist die Bedingung der Möglichkeit ihrer eigenen sprachlich-theoretischen Existenz.“185
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