1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Nach Claire de Obaldia vereint das ,Essayistische‘ alle aristotelischen Kategorien in sich: das Lyrische, das Dramatische und das Epische. Während Obaldia den epischen Anteil des ,Essayistischen‘ mit einer Funktion des in der ,Exempla‘-Literatur begründeten ,Storytelling‘ assoziiert, sieht sie das Dramatische in einer Imitation von Dialog durch das Einnehmen verschiedener Blickwinkel umgesetzt. Das dichterische Element des ,Essayistischen‘ zeigt sich ihrer Ansicht nach an einer bilderreichen, ,poetischen‘ Sprachführung sowie in der assoziativen Struktur, die den spontanen Prozess der Gedankenfindung spiegelt. Der Fokus liegt für sie aber nicht allein auf der poetischen Sprache, sondern auch auf einem gewissen Grundton des Diskurses: So sei ein Essay in dem Sinn poetisch, in dem ein Autor den Eindruck erwecke, mehr zu sich selbst als zu anderen zu sprechen. Diese Haltung begründe die Form einer Meditation.112 Die beiden in dieser Arbeit vorgestellten Texte von Zambrano und Paz akzentuieren die lyrische Seite zunächst in einer Weise, die Obaldia hervorhebt: Es handelt sich um ,meditative‘ Textstücke, die eine große Nähe zur Dichtung pflegen und durchdrungen und strukturiert sind von einer reichen Metaphorik. Beide Texte suggerieren aber auch ein ,Bei-sich-selbst-Sprechen‘. Diese Innerlichkeit ist entscheidend für die Sprechsituation eines ,poetischen Essaystils‘ , denn sie ist vor allem Ausdruck einer besonderen sprachlichen Intimität und Nähe, auf die ich später noch ausführlicher zurückkommen möchte.
Auf die generell große Bedeutung der Lyrik für essayistische Texte haben Autoren wie Gerhard Haas bereits aufmerksam gemacht.113 Gleichzeitig aber ist diese Art der Essaykunst Reflexion ihres historischen Moments ab etwa der Mitte des 20. Jh., in dem sich ästhetische, philosophische und poetologische Themensetzungen mit entsprechenden Textverfahren verbinden, die sie ganz in sich aufnehmen, widerspiegeln und kommentieren.
Zu Beginn des 20. Jh. hatten die ,Generación del 98‘ in Spanien und die Generation der zwischen 1890 und 1934 geborenen Autoren in Lateinamerika essayistisches Schreiben im Sinne einer narrativen Ausgestaltung, des ,Storytelling‘ nach Obaldia, literarisiert und es in einer Rückbesinnung auf seine spekulativ tastende Haltung wieder an die von Montaigne begründete Form angelehnt. Auch die Entstehung einer lyrischen oder poetischen Essayistik mit María Zambrano, Octavio Paz ebenso wie Gabriela Mistral und José Lezama Lima bewegt sich im Rahmen dieser Neuentdeckung oder ,Literarisierung‘, insofern das Poetische Anteil am Literarischen hat. Die Rückbesinnung auf Montaigne liegt hier in einer besonders deutlichen Auflösung der Grenze von logischem Denken und Kunst als reiner Intuition, die Peter Earle und Robert Mead für zeitgenössisches essayistisches Schreiben geltend machen. Gerade die Synthese von ,Kunst‘ und ,Leben‘ eröffne den Weg zurück zu einer Konzeption ,des Essays‘, in dem die Erfahrung des schreibenden Subjekts wieder im Mittelpunkt steht und das gerade aus dem Zusammenspiel dieser beiden Elemente seine gestalterische Kraft beziehe. Earle und Mead bringen dies auf die schöne Formel, ,der Essay‘ sei eine logische Struktur, in der aber die Logik zu singen beginne – „El ensayo […] es una estructura lógica, pero donde la lógica se pone a cantar.“114 Während sich eine Verknüpfung mit der Erzählung und der Fiktion noch innerhalb eines Felds des Diskursiven bewegt, rührt eine ,poetische Essayistik‘ an einen besonders tiefen Punkt des ,Essayistischen‘ . Denn sie verknüpft durch die Akzentuierung des Lyrisch-Poetischen zwei radikal unterschiedliche Formen sprachlicher Aussage. Damit erst zeigt sich das ,Essayistische‘ als wahrer Transgressionsmodus. Die Radikalität, welche die poetischen Essays in der zweiten Hälfte des 20. Jh. entfalten, liegt dabei zusätzlich noch auf einer Invertierung der Elemente, welche die diskursumwälzende Kraft des ,Essayistischen‘ zusätzlich betonen: Denn während die Dichtung bei Montaigne eher noch als erneuernder Impuls für die logischen Strukturen des Denkens hervortritt, wird sie nun extensiv und greift auf das Ganze des Textkörpers über. Aus der ,estructura lógica que se pone a cantar’ wird eher eine ,estructura lírica que se pone a filosofar‘.
Für die Erneuerung lateinamerikanischer Essayistik beobachtet Jaime Alazraki drei Stoßrichtungen im 20. Jh. und macht die jeweiligen Entwicklungen anhand dreier Autoren fest: Jorge Luis Borges, Julio Cortázar und Octavio Paz: Borges, der sein Material nach Maßgaben der kurzen Erzählung, des ,cuento‘ , strukturiert und ihm dadurch eine relativ feste Form verleiht; Cortázar, der sein essayistisches Werk, paradigmatisch in Rayuela, als ,novela‘ organisiert. Damit komme Cortázar Musils Vorstellung des Essayismus, als Form, die das Innenleben einer Person in ihrem Denken ausdrücke, am nächsten.115 Er habe die essayistische Prosa dabei zusätzlich im Sinne eines mündlichen Stils verändert. Octavio Paz wiederum habe, und dies ganz besonders in El mono gramático , ein Projekt der Versöhnung zwischen Essay und Poesie verfolgt und einen Essay mit poetischen Funktionen oder ein Gedicht mit essayistischen Funktionen geschaffen.116
Diese Einordnung literarhistorischer Entwicklungen ist übersichtlich und durchaus plausibel; allerdings spricht auch Alazraki von Essay als fester Gattung. Borges, Paz und Cortázar zwängen ,den Essay‘, über seine eigenen Beschränkungen hinauszutreten.117 Wenn wir das ,Essayistische‘ aber als ohnehin transgressiv wirksame Praxis begreifen, ist Alazrakis Argumentation wenig zielführend, da nicht eindeutig ermittelt werden kann, worin jene generischen Beschränkungen (límites) bestünden. Es ist wenig überraschend, dass Alazraki in der Exposition seines Artikels Francis Bacon anführt, während er Michel de Montaigne nicht mit einem Wort erwähnt. Die Anerkennung einer entscheidenden Rolle der drei genannten Autoren als große Erneuerer des essayistischen Schreibens innerhalb einer grob gefassten ,Literarisierung‘ ist durchaus richtig. Doch eine ‚poetische Essayistik‛ als bloße Stilfrage klären zu wollen, als poetische Ausgestaltung eines essayistischen Texts, trifft nicht, was diese spezielle Essaykunst ausmacht. Ein Essay ist nicht einfach als formales Gattungsexperiment zu definieren; insofern kann eine ,poetische Essayistik‘ kein Sonderfall des ,Essayistischen‘ sein; vielmehr hat sie Anteil an ihm. Sie ist Ausdruck bestimmter Sensibilitäten, die das ,Essayistische‘ in einer besonderen Radikalität und Deutlichkeit hervortreten lassen. Man müsste die Frage nach den verschiedenen Ausprägungen des ,Essayistischen‘ anders stellen und sie als unterschiedliche Akzentuierung von Fragestellungen begreifen, die sich gleichzeitig als epochenspezifisch und geschichtsinvariant, als individuell und universell erweisen. Bei einer Betrachtung ,poetischer Essayistik‘ müssen wir also nicht nur stilistisch formale Besonderheiten in Augenschein nehmen, sondern vor allem versuchen, ihre tieferen Sensibilitäten zu ergründen. Aus welchen historischen Entwicklungen geht sie hervor? Auf welche Fragen versucht sie zu antworten?
Die moderne Essayistik geht von Michel de Montaignes 1580 erstmals veröffentlichten Essais aus. Doch wie in ganz Europa, so gab es auch in Spanien bereits vor Montaigne eine Kunst des Aufsatzschreibens, geprägt vor allem durch den moralisch-religiösen Antimachiavellismus des Fray Antonio de Guevara oder durch die Abhandlungen über Gerechtigkeit von Luis Vives. Auch die starke Tradition der Mystiker um Fray Luis de León, San Juan de la Cruz, Santa Teresa und Fray Luis de Granada können als Vorläufer der modernen spanischen Essaykunst betrachtet werden.118 Juan Marichal spricht sogar von einem Ruf Spaniens als Mutterland der Essayistik, der in den Ursprüngen spanischer Kultur verankert sei. So erinnert Marichal etwa an das berühmte Wort Graciáns vom ,discurrir a lo libre‘ als genuin spanischer Eigenschaft und bezeichnet es als eine der Hauptachsen der Literatur- und Ideengeschichte spanischsprachiger Länder.119
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