Als Vida hörte, daß Kennicott ein hübsches junges Mädchen heiraten wollte, das noch dazu aus der Großstadt kam, verzweifelte sie. Sie gratulierte Kennicott und entlockte ihm nebenbei die Trauungsstunde. Um diese Stunde saß Vida in ihrem Zimmer und malte sich die Hochzeit in St. Paul aus. Voll von einer Ekstase, die sie entsetzte, folgte sie Kennicott und dem Mädchen, das ihr ihre Stelle gestohlen hatte, folgte ihnen in den Zug, durch den Abend, die Nacht.
Es wurde ihr leichter, als sie sich zu dem Glauben durchgerungen hatte, es sei nicht eigentlich schändlich von ihr, es bestehe eine mystische Beziehung zwischen ihr und Carola, die es ermöglichte, daß sie mittelbar und doch wirklich bei Kennicott sei und ein Recht darauf habe.
Sie sah Carola gleich nach ihrer Ankunft in Gopher Prairie. Sie starrte das vorüberfahrende Automobil an, in dem Kennicott und das Mädchen saßen. In dieser Nebelwelt der Gefühlsübertragung empfand Vida keine gewöhnliche Eifersucht, sie hatte die Überzeugung, seitdem sie Kennicotts Liebe durch Carola empfangen habe, sei diese ein Teil von ihr, ein Astral-Ich, ein erhöhtes und geliebteres Ich. Sie freute sich über den Charme des Mädchens, über ihr glattes schwarzes Haar, den ätherischen Kopf, die jungen Schultern. Aber plötzlich ärgerte sie sich. Carola blickte sie eine Viertelsekunde an, sah aber an ihr vorbei, auf eine alte Scheune neben der Straße. Wenn sie schon das große Opfer gebracht hatte, konnte sie zumindest Dankbarkeit und Anerkennung erwarten, raste Vida, während ihr bewußter Lehrerinnenverstand sie verworren bat, diesen Wahnsinn zu unterdrücken.
Bei ihrem ersten Besuch wollte eine Hälfte von ihr einen Menschen willkommen heißen, der sich gleichfalls für Bücher interessierte; und die andere Hälfte brannte darauf, zu erfahren, ob Carola etwas von Kennicotts früherem Interesse für sie selbst wüßte oder nicht. Wie sie erkannte, ahnte Carola nicht einmal, daß er je die Hand einer anderen Frau berührt hätte. Carola war ein amüsantes, naives, seltsam gelehrtes Kind. Während Vida auf das lebhafteste die Pracht und Herrlichkeit des Thanatopsis schilderte und der Bibliothekarin Carola Komplimente über ihre Arbeitsausbildung machte, stellte sie sich vor, dieses Mädchen wäre das Kind, das sie Kennicott geboren hätte; und aus dieser Symbolbildung zog sie einen Trost, der ihr seit Monaten fremd gewesen war. Als sie dann nach dem Abendessen mit den Kennicotts und Guy Pollock nach Hause kam, empfand sie eine plötzliche, nicht unangenehme Abkehr von der Zärtlichkeit. Sie lief in ihr Zimmer, schleuderte ihren Hut aufs Bett und schwatzte los: »Das ist mir egal! Ich bin fast genau so wie sie – nur ein paar Jahre älter. Ich bin auch leicht und rasch, und ich kann ebenso gut reden wie sie, und ich bin ganz sicher – Die Männer sind solche Narren. Ich könnt' ihn zehnmal so schön lieben wie dieses verträumte Baby. Und ich bin genau so hübsch wie sie!«
Allein, als sie auf dem Bett saß und ihre dünnen Schenkel anstarrte, verließ der Trotz sie allmählich. Sie wehklagte:
»Nein. Ich bin's nicht. Du lieber Gott, wie halten wir uns selber zum Narren! Ich behaupte, ich bin ›geistig‹. Ich behaupte, meine Beine sind hübsch. Sind sie gar nicht. Sie sind mager. Altjüngferlich. Es ist mir ekelhaft! Ich hasse diese impertinente junge Person! Eine egoistische Katze, die seine Liebe für selbstverständlich hält – Nein, sie ist zum Anbeten … Ich finde, sie sollte nicht so freundlich zu Guy Pollock sein.«
Ein Jahr lang liebte Vida Carola, sehnte sich danach, die Einzelheiten ihrer Beziehungen zu Kennicott auszuspionieren – tat es aber nicht – freute sich an ihrem Spieltrieb, der sich in kindischen Teegesellschaften auslebte, und ärgerte sich, da nun das mystische Band zwischen ihnen vergessen war, auf höchst gesunde Weise darüber, daß Carola annahm, sie sei ein soziologischer Messias, der gekommen sei, Gopher Prairie zu erlösen. Dieser letzte Teil von Vidas Gedankenkette wurde nach Ablauf eines Jahres am häufigsten beleuchtet. Sie brütete verdrossen: »Die Leute, die alles mit einemmal, ohne jede Arbeit, ändern wollen, gehen mir auf die Nerven! Ich muß mich vier Jahre hinstellen und arbeiten, die Schüler für Debatten aussuchen und abrichten, sie quälen, damit sie sich vorbereiten, sie bitten, sich selbst Themen zu wählen – vier Jahre, um zwei, drei gute Diskussionen zu bekommen! Und sie kommt rauschend daher und erwartet, sie könnte in einem Jahr die ganze Stadt in ein Bonbonparadies verwandeln, in dem kein Mensch mehr etwas anderes tut, als Tulpen züchten und Tee trinken. Und dabei ist es doch wirklich eine nette, gemütliche alte Stadt!« Aber trotzdem betrog sie sich nie, und immer wieder war sie zerknirscht.
Durch Hughs Geburt erwachte ihre transzendentale Gefühlswelt wieder. Sie war empört darüber, daß Carola nicht ganz davon ausgefüllt war, Kennicotts Kind geboren zu haben. Sie gab wohl zu, daß Carola das Kind zärtlich zu lieben und tadellos zu pflegen schien, aber sie begann jetzt sich mit Kennicott zu identifizieren und in dieser Phase zu empfinden, daß sie viel zu sehr unter Carolas Unbeständigkeit gelitten hätte.
Vida hatte an Raymie Wutherspoons Singen in der Anglikanerkirche Gefallen gefunden; sie hatte bei »Geselligen Methodistenzusammenkünften« und im Bon Ton das Wetter erschöpfend mit ihm besprochen. Aber wirklich lernte sie ihn erst kennen, als sie in Frau Gurreys Pension zog. Es war fünf Jahre nach ihrem Abenteuer mit Kennicott. Sie war neununddreißig, Raymie vielleicht ein Jahr jünger.
Sie sagte zu ihm, ganz aufrichtig: »Mein Gott! Sie können ja alles erreichen, was Sie wollen, mit Ihrem Verstand und Takt und mit Ihrer großen Stimme. Sie waren so gut im ›Mädchen von Kankakee‹. Ich bin mir damals ganz dumm vorgekommen. Wenn Sie zum Theater gehen würden, könnten Sie, glaube ich, ebenso gut sein wie irgendwer in Minneapolis. Aber trotzdem tut es mir nicht leid, daß Sie Kaufmann bleiben. Das ist ein so aufbauender Beruf.«
Es war für beide das erstemal, daß sie zufriedenstellende geistige Kameradschaft fanden. Sie sahen herab auf den Bankangestellten Willis Woodford und seine verschüchterte Frau, die nur für ihre Kinder lebte, auf die schweigsamen Lyman Cass', den salopp redenden Reisenden und den Rest von Frau Gurreys Gästen. Voll Freude erkannten sie, daß sie ein gemeinsames Glaubensbekenntnis hatten:
»Leute wie Sam Clark und Harry Haydock nehmen Musik und Bilder und schöne Predigten und wirklich feine Filme nicht ernst, aber, andererseits, Leute wie Carola Kennicott reiten zuviel auf der Kunst herum. Man kann ja ruhig schöne Dinge würdigen, aber trotzdem muß man praktisch sein und – und alles praktisch betrachten.«
An einem Sonntagnachmittag im Spätherbst gingen sie zum Minniemashiesee hinaus. Ray sagte, er würde gern das Meer sehen; es müßte ein großartiger Anblick sein; es müßte noch großartiger sein als ein See, sogar als ein riesig großer See. Vida stellte bescheiden fest, sie habe es gesehen; sie habe es gelegentlich einer Sommerreise zum Cape Cod gesehen.
»Sie sind bis zum Cape Cod gekommen? Massachusetts? Ich wußte, daß Sie Reisen gemacht haben, aber ich hätte nie gedacht, daß Sie so weit gekommen sind!«
Durch sein Interesse größer und jünger geworden, legte sie los: »O ja, ja. Es war ein wunderschöner Ausflug. In Massachusetts gibt es soviel interessante Stellen – historische Punkte. Dort ist Lexington, wo wir die Rotröcke zurückgeschlagen haben, und das Haus Longfellows in Cambridge und Cape Cod – dort gibt's einfach alles – Fischer und Walfischfänger und Sanddünen und alles.«
Sie sprach den Wunsch aus, einen kleinen Stock in der Hand zu tragen. Er brach ihr einen Weidenzweig ab.
»Herrje, sind Sie stark!« sagte sie.
»Nein, nicht sehr. Ich wollte, ich hätte Gelegenheit zu regelmäßigem Trainieren.«
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