Eine quälende Unruhe bemächtigte sich seiner. Er dachte an Vanilleblume, den Rebellen. Cholollan musste unbedingt zu dessen Kriegsbund stoßen und die Feindschaft mit Tlaxcallan überwinden. Vanilleblume brauchte jeden Mann. Es war nicht gut, nur abzuwarten, sonst würde Cholollans Freiheit den Tag nicht überdauern, an dem Vanilleblume den Sieg errang und seine Mitstreiter belohnte. Nachtjaguars Sohn bekam glänzende Augen. Sein Herz schlug schneller – so, als gäbe es für ihn noch etwas zu wollen.
Nachtjaguar war nicht im Unrecht – weder, was Vanilleblume, noch was die Rebellion der Totonaken betraf. Boten von Vanilleblume waren bei deren König gewesen – und nicht nur das. Im Lager der Fremden waren zwei Krieger vom Volk der Otomi aufgetaucht, die man an ihren um die Stirn gewundenen Steinschleudern erkannte. Sie hatten einen Krieger vom Range eines Cuachic eskortiert, eines Geschorenen, der zwanzig Heldentaten vollbracht hat und keinerlei Gefahren scheut. Der hielt sich hinter einer Standarte verborgen, aber einmal hatte man kurzzeitig eine Kopfhälfte gesehen – die Glatze, auf dem Scheitel mit einem imposanten Kamm gekrönt, der wie der eines Baumleguans aussah, die Haare zu langen Stacheln frisiert, und, wie man ahnen konnte, mit Cochinille rot gefärbt. Wenn dies stimmte, war der Mann, der sich da im fahlen Dämmerlicht zu dem fremden Gesandten schlich, Vanilleblume höchstpersönlich. Motecuzoma ging im Thronsaal unruhig auf und ab: Was suchte sein missratener Neffe bei dem Fremden? Er nutzte aus, dass derzeit jeder zu dem Fremden kam, der einen Anspruch auf Tribut aus der Region besaß. Auch Cacama hatte eine Gesandtschaft bei ihm, und Motecuzoma hatte den Herrn des Schwarzen Hauses geschickt, um für die Freilassung der Tributeinnehmer zu danken, die der Fremde bewirkt hatte. Er wollte immer noch nach Tenochtitlan kommen und trug dem Großen Sprecher auf diese Weise seine Freundschaft an. Gleichzeitig bat er um Verschonung der Rebellen. Frieden also, dachte der Herrscher.
Eigentlich hatte der totonakische König, der ob seiner Leibesfülle einfach nur „der Dicke“ hieß, ja den Tod verdient. Motecuzoma stellte ihn sich vor; nichts an ihm erinnerte auch nur entfernt an einen Krieger, und sein Wille war möglicherweise so weich wie sein Fleisch. Eine Frist von achtzig Tagen konnte Motecuzoma ihm gewähren, ohne das Gesicht zu verlieren. Der Dicke würde ihm die Füße küssen, ihm die doppelten Tribute schicken, wenn Motecuzoma ihm verzieh. Einstweilen allerdings saß er in seiner Felsenburg, einstweilen baute der fremde Gesandte am Meer eine Festung mit Mauern und Türmen.
Krieg also. Motecuzoma hatte die engsten Verbündeten konsultiert und mehr als eine Meinung gehört. Der Dreifache Thron war zu keinem Beschluss gelangt. Niemand konnte den Fremden einschätzen. Cacama von Tetzcoco wünschte mit ihm Frieden, der alte König von Tlacopan wollte lavieren. „Was verschlägt es? Gib dem Dicken doch die achtzig Tage, inzwischen spalten wir ihm seine neuen Freunde ab.“ Dagegen war kaum etwas einzuwenden. Die kleinen Könige der Uferstädte, die Motecuzoma noch hinzugezogen hatte, waren auch für eine Zwischenlösung. Nur einer, sein jüngerer Bruder Cuitlahua, forderte eindringlich Krieg. Wenn Motecuzoma in Richtung Saalausgang schritt, hörte er die Stimme von Cacama – Frieden –, und wenn er umgekehrt den Thron im Blickfeld hatte, die seines Bruders – Krieg.
Draußen wartete der Feldherr Atlixca; immer, wenn die Türvorhänge sich fast unmerklich bewegten, wie von einem Lufthauch angeblasen, entsann er sich dessen. Schließlich wurde ihm das heimliche Spähen des Dieners zu viel.
„Schick ihn herein, mein Vater.“
Motecuzoma nahm auf dem Jaguarthron Platz. Seinem Vetter Atlixca unterstanden die Angriffstruppen. Er durfte im Palast Sandalen tragen. Auf diese fixierte sich Motecuzoma während der Begrüßung. Sie waren schlicht für seine hohe Stellung: einfach gebunden, unverziert, zweckmäßig wie die des einfachen Kriegers. Darin verriet sich Atlixcas Vater, der Große Sprecher Ahuízotl, Motecuzomas Amtsvorgänger. Er, König Otter, hatte sich in jeder Lage auf das Kurzschwert verlassen, und Atlixca schlug ihm nach. Motecuzoma erlaubte ihm aufzustehen.
„Feldherr Atlixca-tzin, ein neues Wasserhaus ist angekommen. Seinem Bauch entstiegen sechzig bärtige Männer und einige Hirsche des Landes Caxtillan. Und kaum war die Verstärkung eingetroffen, da fuhr ein Schiff von der Küste fort.“
„Um noch mehr bärtige Krieger zu holen?“
„Wer weiß. Der fremde Gesandte ließ inzwischen die meisten Wasserhäuser zerstören.“
„Hat er vom Rauschpilz gegessen?“
„O Atlixca-tzin, er war bei Trost. Er ließ die Ladung bergen, er weidete die Schiffe förmlich aus und ließ Masten, Planen, Taue, alle Dinge aus Metall und Holz ins Trockne schaffen. Es sieht so aus, als ob er bleiben wollte.“
„Totecuiyo, unsere Krieger sind bereit.“
„Ich werde mich daran erinnern.“
„Wünschst du nicht, dass ich sie an die Küste führe?“
„Der Dreifache Thron setzt auf Diplomatie.“
„Dann kann der Fremde ungehindert weiter Schaden stiften. Er hat doch den Dicken aufgewiegelt!“
„Vielleicht ist es auch umgekehrt. Der Dicke könnte ihn erwartet haben. Es waren ja schon einmal Fremde da. Der Herr des Schwarzen Hauses hat einen davon wiedererkannt.“
„Totecuiyo, ist das nicht egal? Der Dicke muss begreifen, wer der Herr im Hause ist – und auch der Fremde muss es wissen.“
„Darum wirst du deine Krieger jetzt in der Regenzeit trainieren. Du musst immer marschbereit sein.“
„Totecuiyo.“ Rückwärts gehend entfernte sich Atlixca, und der Herrscher nahm seine Wanderung wieder auf. Auf und Ab. Ab und auf. Auf und ab und auf, ab, auf. Niemand wagte es, ihn zu stören.
Tags darauf begehrte ein sonderbarer Mensch Audienz beim Großen Sprecher. Sechs Finger hatte er an jeder Hand, an jedem Fuß sechs Zehen. War er ein Bote der Unterwelt? Vorsorglich begab sich Motecuzoma zu den Schwarzen Häusern. So hieß die Höhere Schule für Söhne und Neffen des Großen Sprechers und des Cihuacoatl, der Weiblichen Schlange. Sie stand am Tempel der Erdgöttin, die mit dem Totenland und überhaupt mit dunklen Dingen und allem Geheimnisvollen verbunden war. Hier hatte Motecuzoma einen stillen Raum, der ihm angemessen schien, solch einen Gast zu empfangen. Er überquerte den Innenhof der Schwarzen Häuser und betrat das mit blauschwarzen Wandbehängen ausgekleidete Gemach. Noch hörte er den Brunnen plätschern. Er ließ ein Feuerbecken in seine Nähe rücken und, sobald die Flamme kräftig brannte, den Mann mit den sechs Fingern rufen.
Der kam lautlos wie ein Geist heran, denn seine Schritte wurden von den dichten Federteppichen verschluckt. Noch als er sich niederwarf, vernahm Motecuzoma nicht das leiseste Geräusch.
Der Fremde durfte sich erheben. „Was führt dich zu mir?“
„Totecuiyo, hast du nicht Befehl erlassen, dass ein jeder – ob Mann, ob Frau, ob Kind – dich aufzusuchen habe, der etwas Ungewöhnliches bemerkt? Namentlich Traumdeuter, Wahrsager und Zauberer, die das Verborgene kennen?“
„Wohl sehe ich, dass du dergleichen in einem Sack auf dem Rücken trägst. Doch hüte dich, mir Trug zu enthüllen.“
„Ich heiße Uhu und bin der Erste Magier am Hof meines Herrn.“
„Dass du mir ja keine Menscheneule bist, die sich der Schwarzen Kunst schuldig macht. Woher kommst du?“
„Ich bin aus der Stadt Tetzcoco gebürtig, wo eine eigene Strafkammer sich mit solchen Leuten beschäftigt.“ Der Magier zog ein Blatt Papier hervor, auf dem Cacamas Namenszeichen, ein Maiskolben, prangte.
„Was schickt mir mein Neffe?“
Der Bote nahm den Sack von der Schulter und zog ein längliches Etwas heraus. „Dies gehört dir. Du allein vermagst seine Bedeutung zu ermessen. Streck deine Hände aus, o Herrscher!”
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