1.1 Ursachen für Segregationstendenzen
Die erneut im Teilhabebericht aufgezeigten Segregationstendenzen in Bezug auf Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf haben verschiedene Ursachen, die sich zum Teil wechselseitig beeinflussen und verstärken:
• Leistungsangebote, die die Notwendigkeit erhöhter Präsenz von Mitarbeitenden mit sich bringen, werden aktuell in ambulanter Form nicht ausreichend finanziert bzw. in Form von Kombinationsleistungen an den Schnittstellen der sozialrechtlichen Finanzierungssysteme nicht hinreichend ausgestaltet. Zudem fehlt angemessener bzw. geeigneter Wohnraum (Franz & Beck 2015, S. 117 ff.).
• Das Leben in gemeinschaftlichen Wohneinrichtungen wird von Angehörigen der Menschen mit hohen Hilfebedarfen und Mitarbeitenden von Einrichtungen und Diensten oft als alternativlos angesehen, da eine hohe Intensität pädagogischer und pflegerischer Unterstützungsleistungen im Rahmen der bestehenden Hilfelandschaft oftmals nur in vollstationären Zusammenhängen »gedacht wird« (Seifert 2010, S. 179 f., 203; Schädler et al. 2008). Dies wird dadurch verstärkt, dass die hohe erforderliche Präsenszeit aus Sicht von Trägerverantwortlichen und Mitarbeitenden die Differenzierungslinie von ambulanten und stationären/besonderen Wohn- und Unterstützungssettings verwischt und aus dieser Warte Vorzüge ambulanter Wohnformen kaum noch gesehen werden (Franz & Beck 2015, S. 130 ff.).
• Menschen mit umfassenden Beeinträchtigungen können eigene Wohnwünsche häufig nicht direkt artikulieren und für diejenigen, die sie im Alltag begleiten, ist die Erfassung dadurch erschwert. Zwar zeigt sich in Studien zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderung, dass Wünsche zur Veränderung im Sinne eines Wohnortwechsels bestehen (Schäfers 2008, S. 329), jedoch wird auch deutlich, dass die sichere Erforschung des Wunsches hohe Anforderungen an die Qualität der Instrumente stellt (Schäfers 2008, S. 158 ff.). Die dadurch notwendigen aufwendigen Forschungsmethoden führen vielfach zu einem Ausschluss dieser Personengruppen aus Studien, so dass ihre Sichtweise wenig berücksichtigt wird. Zudem können Unsicherheiten hinsichtlich der stellvertretenden Deutung von Wohnwünschen bei Angehörigen und Professionellen mitunter Hemmungen auslösen, Entscheidungen von großer Tragweite (Änderung der Wohn-/Betreuungsform) voranzutreiben. Und selbst Befragungsergebnisse mit geringen Ausprägungen von Veränderungswünschen der Wohnform bedürfen einer kritischen Reflexion. So wirken langjährige Sozialisationserfahrungen in stationären Einrichtungen im Sinne eines »Zufriedenheitsparadoxon«, bei dem auch objektiv schlechte Lebensbedingungen von den betroffenen Menschen mit Behinderung positiv gedeutet werden, weil Erfahrungen und Wissen über denkbare Wahlmöglichkeiten fehlen (Hagen 2002, S. 295).
Vor diesem Hintergrund werden Wohn- und Lebenswünsche in der Regel nur im Rahmen dieser »gesetzten« Grenzen erhoben und befördert. Wahlmöglichkeiten im Sinne einer realisierbaren Option einer Wohnalternative außerhalb spezialisierter Einrichtungen sind kaum möglich (vgl. auch Franz & Beck 2015, S. 16). In der Folge führen diese Aspekte dazu, dass Menschen mit höheren Hilfe- und Pflegebedarfen in besonderen Wohnformen verbleiben.
Das wiederum führt zu der Gefahr einer Teilung der Gruppe bislang stationär betreuter Menschen mit Behinderung im Sinne einer Segregationsbewegung in »ambulantisierbare« und »nicht ambulantisierbare« Menschen, die einer Zuordnung der Menschen nach Höhe des Hilfebedarfs folgt (vgl. auch Franz & Beck 2015, S. 164 f., 172 f.). Um diesem Risiko entgegenzuwirken, müssen Menschen mit Behinderung und umfassenden Unterstützungsbedarfen in den Bereichen soziale Teilhabe, selbstbestimmte Lebensführung und Pflege bei der Umsetzung des Anspruchs auf freie Wahl des Wohnortes deutlich stärker berücksichtigt werden (Rohrmann & Weber 2015, S. 231).
1.2 Handlungserfordernisse
Die Erhebung von Wohnwünschen und eine nachfolgende Realisierung von Wahlmöglichkeiten erfordert ein Umdenken in der bisherigen Vorgehensweise, um den Bedarfslagen der Betroffenen Rechnung zu tragen. Für beide Aspekte – 1) die Erhebung des Wohnwunsches und 2) die Umsetzung dieser Wünsche in Bezug auf Wohnen – gibt es für Menschen mit Komplexer Behinderung aufgrund struktureller wie auch personengebundener Gründe bislang noch keine erprobten Modelle und Konzepte. Es fehlen Kenntnisse darüber, wie die Wünsche, insbesondere von Menschen, die sich nicht oder nur eingeschränkt verbalsprachlich äußern, ermittelt werden können und wie deren Umsetzung unterstützt werden kann.

Zentrale Herausforderungen sind damit:
1. die Entwicklung und Erprobung von Methoden und Instrumenten zur Erfassung individueller Wünsche und Zukunftsperspektiven von Menschen mit Komplexer Behinderung in besonderen Wohnformen (unter Berücksichtigung von Aspekten »›konditionierter‹ Nichtselbständigkeit« (Gerspach & Mattner 2004, S. 76) sowie
2. eine daran anschließende Entwicklung und Bereitstellung von Wohnangeboten (jenseits der Orientierung und Zuweisung an der Höhe des Hilfebedarfs).
Hinweise zur Ermittlung von Wohn- und Lebensperspektiven finden sich in der Methode der Zukunftsplanung. Sie ermöglicht es, durch die Verknüpfung unterschiedlicher methodischer Zugänge, Wünsche und Bedürfnisse systematisch zuzulassen und zu erfassen und durch eine darauf aufbauende kreative Planung zu realisieren (Doose 2013). Die Methode wird durch Netzwerke und internationale Forschungsprojekte weiterbefördert (ex. New paths to Inclusion 2013–2015).
Eine zentrale Erkenntnis daraus ist, dass die Entwicklung von Zukunftsperspektiven mit Organisations- und Sozialraumentwicklung einhergehen muss. Echte Wahlmöglichkeiten erfordern die Bereitstellung oder Entwicklung alternativer Wohn- und Unterstützungsangebote, die den Wünschen, Bedürfnissen und Bedarfen entsprechen (ex. New paths to Inclusion 2013–2015).
Für den Personenkreis von Menschen mit Komplexer Behinderung und hohem Unterstützungs- und Pflegebedarf ist die o. g. Methode jedoch bisher noch nicht konsequent weiterentwickelt. Es fehlt an evaluierten Konzepten, die eine systematische Erfassung und Entwicklung von Wohnwünschen und Zukunftsperspektiven von Menschen mit Komplexer Behinderung ermöglichen.
Mit der Umsetzung von Wohnwünschen muss auch die Bereitstellung gewünschter, bedürfnis- und bedarfsgerechter Unterstützungsangebote einhergehen. Studien zeigen, dass insbesondere im Hinblick auf ambulante Unterstützungsangebote diese Voraussetzungen als nicht hinreichend erfüllt erlebt werden (Hellmann et al. 2007; Hofmeister et al. 2010). Die Ausgestaltung von Unterstützungsarrangements ist derzeit geprägt vom Spannungsfeld zwischen:
• sozialrechtlich unterschiedlichen Anforderungen der Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung,
• unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und
• Aushandlungsprozessen unterschiedlicher professioneller Akteur*innen, die insbesondere zwischen pflegerisch und (heil-)pädagogisch qualifizierten Professionellen nicht immer konfliktfrei verlaufen (Seifert et al. 2001; Tiesmeyer 2003).
Wie genau diese Ausgestaltung in den unterschiedlichen Unterstützungsarrangements erfolgen kann und welche gemeinsam geteilte Wissensbasis und Kompetenzerweiterungen (insbesondere im Bereich der Pflege) dazu ggf. notwendig sind, ist bisher nicht hinreichend untersucht (Tiesmeyer 2015).
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