Ich schob die Gummibärchen über die Tampons. Bäh. Hoffentlich brauchte ich die niemals. Dann umarmte ich Papa und flüsterte: »Tut mir leid. Danke.« Papa wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und strahlte mich an. »Oh Papa. Jetzt heul nicht. Voll peinlich.« Ich verdrehte die Augen und suchte im Fußraum nach meinen Kopfhörern. Papa verdrehte ebenfalls die Augen, schnallte sich an und startete das Auto. »Na dann mal los.«
Der Bus und die Frage nach dem Kuss
Am nächsten Morgen kam ich kaum aus dem Bett. Freitags stand ich immer alleine auf, weil Papa früh arbeiten musste. Er stellte mir jedes Mal drei Wecker. Kein Witz! Einen in meinem Zimmer, einen im Flur und einen im Bad. Damit ich auch WIRKLICH aufstand. Genervt drückte ich den Kopf in meine Blümchenbettdecke, die mir Mama letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte und die mir nicht gefiel. Aber das konnte ich ihr nicht sagen, da Mama ja eh schon immer ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie so selten da war. Da wollte ich ihr kein noch größeres wegen ihrer Geschmacklosigkeit machen. Die blöden Wecker wurden umso lauter, je länger man sie ignorierte. Also sprang ich irgendwann aus dem Bett, lief hastig durch mein Zimmer, raus auf den Flur und ins Bad und drückte alle drei auf »aus«.
Der gestrige Abend war nicht gerade gut verlaufen. Papa hatte Abendessen gekocht und mich mit dem Thema »Pubertät« in Ruhe gelassen, stattdessen aber angefangen nach Mama zu fragen. Er wollte wissen, ob ich sie vermisste, ob ich gerne öfter mit ihr reden würde und wie es mir generell so zu Hause ging. Ich hatte nicht geantwortet. Mama war ständig auf irgendwelchen Geschäftsreisen oder Besprechungen. Was sollte es bringen, darüber zu reden? Davon würde sie auch nicht öfter nach Hause kommen. Stattdessen verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer, um meiner besten Freundin Ella zu schreiben.
Danach hatte ich »Gute Nacht« durch die geschlossene Tür gebrüllt und mich ins Bett gelegt. Papa kam an meine Tür und sagte, dass ich immer mit ihm reden könne. Doch auch wenn er sich Mühe gab, ich wollte nicht. Das war meine Privatsache.
Müde putzte ich mir die Zähne. Ich hatte die ganze Nacht von Kamelen geträumt und mein Schädel brummte ein wenig. Einen Blick in den Spiegel vermied ich und beim Anziehen wählte ich einen Pulli, der obenrum möglichst weit saß, damit bloß niemand meine Knubbel sehen konnte. Papa hatte vergessen, mir ein Pausenbrot zu schmieren. Ich schaute in den Kühlschrank. Gähnende Leere. Na toll. Ich stieg auf den Küchenstuhl und schüttelte unser Notfallsparschwein auf dem Schrank. Ein paar Euro waren noch darin. Damit konnte ich mir nachher ein Brötchen holen. Ich schaute auf mein Handy:
Jaja, schon erledigt. Ich schickte ein zurück, nahm meinen Schlüssel vom Haken und zog die Haustür ins Schloss.
Mein Schulweg dauerte nicht lange, aber an regnerischen Tagen, so wie heute, nahm ich lieber den Bus. Der Nachteil daran war, dass er oft viel zu voll und stickig war. Der Vorteil aber, dass ich meistens Sarah traf. Sarah und ich waren zusammen in der Grundschule gewesen. Da sie im Rollstuhl saß, hatte meine Klassenlehrerin Frau Hölzerlin mich zu ihrer Patin auserkoren. Ich sollte ihr bei allem helfen. Mathe, Schönschrift und in den Pausen. Dies hatte sich jedoch schnell als ziemlich unnötig herausgestellt, da Sarah in der Schule und auch generell sehr viel besser war als ich. Zudem war sie schon zwei Jahre älter, aber da wir vormittags Unterricht mit allen Schüler*innen gemeinsam hatten, hielt Frau Hölzerlin es trotzdem für eine gute Idee, dass ich Sarah in dieser Zeit unterstützte. Aufgrund meiner mangelnden Fähigkeiten in Mathe und einigen anderen Fächern wurde sie dann allmählich eher zu meiner Patin und half mir oft bei den Hausaufgaben. Doch trotz ihrer guten Noten musste Sarah nach der Grundschule eine Förderschule besuchen, da alle anderen Schulen nur Treppen und keine Rampen für ihren Rollstuhl hatten. Richtig daneben. Nun sahen wir uns nur noch ab und an im Bus, aber Sarah war die beste Ratgeberin auf der Welt und hatte von allem eine Ahnung, deshalb hatte ich darauf gehofft, sie heute zu erwischen.
Tatsächlich hatte ich Glück. Im mittleren Teil des Busses sah ich Sarah, neben ihr eine ihrer Integrationshelfer*innen oder so, die sie immer zur Schule brachten. Die meisten von denen waren ganz nett, auch Nelly, die heute dabei war. Als sie mich einsteigen sah, zwinkerte sie mir zu und steckte sich ihre Kopfhörer in die Ohren. Sie wusste, dass Sarah auch mal Privatsphäre brauchte und dass wir gern ungestört redeten. So gut das im Bus eben möglich war. Dankbar ließ ich mich auf den ausklappbaren Sitz in der Mitte des Busses neben Sarah plumpsen und schleuderte meinen Rucksack auf den Boden.
»Oh mein Gott, ich muss dir was erzählen«, flüsterte ich aufgeregt. Sarah klatschte in die Hände: »Super. Mir war schon langweilig! Schieß los!«
»Wow, der Nagellack ist schön«, rief ich begeistert. Sarah hielt mir stolz ihre mit blauem Glitzer lackierten Nägel hin. »Hab meine Mutter überredet, dass sie es mir erlaubt.« Ich schaute auf meine Nägel, die ich mal wieder halb abgekaut hatte, und nahm mir vor, mir auch glitzernden Nagellack zu besorgen.
»Also was gibt’s?«, fragte Sarah aufgeregt. »Psst!«, ich senkte wieder die Stimme. »Ist streng geheim. Also mir wachsen seit gestern …« Ich deutete unauffällig auf meinen Oberkörper. Sarah sah mich verständnislos an. Ich flüsterte noch leiser. Super peinlich. Das sollte hier bloß niemand hören. »Da wächst was.«
»Ah, Brüste, cool!«, lachte Sarah laut.
»PPPPPPSSSSTT!!! Sei leise«, zischte ich und sah mich verstohlen um. Es war niemand aus meiner Klasse zu sehen.
»Sorry!«, Sarah senkte die Stimme. »Streng geheim. Klar. Ich hab auch welche. Und meine Tage.« Sarah konnte immer einfach so über solche Dinge reden. Keine Ahnung, wie sie das machte. »Echt?«, flüsterte ich. »Wie ist das so?« Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Nervt irgendwie, ist aber auch nicht so schlimm.«
»Mir ist das irgendwie alles zu viel. Ich finds super eklig.« Sarah legte mir eine ihrer coolen Glitzerhände auf die Schulter. »Du schaffst das schon. Ist halb so schlimm. Du wirst schon sehen.«
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