Rainer Nübel / Susanne Doppler
Storyporting
Wie aus Storytelling und Reporting eine konstruktive Kommunikationsform entsteht
Mit Gastbeiträgen von Lia Hiller und Burkhard Schmidt
UVK Verlag · München
Umschlagabbildung: © Johnny Greig · iStock
Autorenfoto Rainer Nübel: © Hochschule Fresenius Heidelberg
Autorenfoto Susanne Doppler: © Hochschule Fresenius Heidelberg
DOI: https://doi.org/10.24053/9783739881201
© UVK Verlag 2022
— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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ISBN 978-3-7398-3120-6 (Print)
ISBN 978-3-7398-0578-8 (ePub)
Gibt man den Begriff ‚Storytelling‘ bei Google ein, werden um die 100 Millionen Ergebnisse angezeigt. Die Methode der narrativen Darstellung und Vermittlung von Erfahrungswissen, Informationen, Themen, Ereignissen oder auch Produkten hat in Deutschland und international Hochkonjunktur, insbesondere im Bereich der Unternehmenskommunikation, speziell im Marketing, sowie in den sozialen Medien. Zahlreiche Fachbücher und Praxisratgeber empfehlen Storytelling, weil es Emotionen, Involvement, Identifizierung, recognition , Persuasion und schließlich Kaufinteresse stärker zu evozieren scheint als die nüchtern-sachliche, datenzentrierte oder auf Argumente setzende Darstellung (z. B. Müller 2014, S. 9–17).
In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Narration und Storytelling wird häufig auf den anthropologischen Aspekt verwiesen, dass Menschen sich schon immer Geschichten erzählt haben, um Informationen auszutauschen, Erfahrungen und Traditionen weiterzugeben oder einfach um sich gegenseitig zu unterhalten (z. B. Müller 2020, S. 18ff.; Thier 2017, S. 3 u. 9.). Dass Menschen, soziale Gruppen und ganze Nationen Narrative haben und auch brauchen, um (Lebens-)Sinn und Identität zu generieren, gilt als unbestritten. Für den Soziologen Hartmut Rosa etwa sind soziale Gemeinschaften „Resonanzgemeinschaften“, weil sie „die gleichen Resonanzräume bewohnen“ (Rosa 2016, S. 267). Dies seien sie vor allem als „ Narrationsgemeinschaften , die über ein gemeinsames, Resonanzen erzeugendes und steuerndes Geschichtenrepertoire verfügen“ (ebd.) Storytelling-Forscher Michael Müller ist der Überzeugung, große Massen erreiche man „mit Narrativen und Geschichten, die auf Resonanz stoßen“ (Müller 2020, S. 15).
Anschaulich und emotional erzählte Geschichten mit interessanten Protagonist:innen, starkem Spannungsbogen, einem Prozess der Veränderung und am Ende gelösten Konflikten gelten weithin als wirkungsvoller als die rein sachlich-logische Darstellung. Der Einsatz von Storytelling gerade im Unternehmenskontext wird daher inzwischen selbst zur Aufbereitung von Daten (Nussbaumer Knaflic 2015) und für Bereiche wie Controlling und Rechnungswesen empfohlen, die bisher eindeutig oder ausschließlich vom Reporting, der nüchternen Darstellung von Daten und Kennzahlen, dominiert waren (z. B. Langmann Consulting & Training o. J.). Storys, so wird häufig argumentiert, nehmen die Rezipierenden mit auf eine (Helden-)Reise in zunehmend komplexer gewordene Realitäten, aktivieren deren Selbsterfahrung und erzeugen Identifizierung und Akzeptanz. All dies kann gerade heute von großer Bedeutung sein, in dieser Zeit des tiefgreifenden Wandels, von dem sämtliche gesellschaftliche Funktionsbereiche, alle Berufsfelder und Menschen betroffen sind und der bei vielen Unsicherheit und auch Ängste auslöst. Als größter Treiber dieser Transformation gilt die Digitalisierung, doch es sind u. a. auch die weitergehende Globalisierung, demografische, politische, sozioökonomische und kulturelle Entwicklungen zu berücksichtigen sowie auch und besonders der Wandel der öffentlichen Kommunikation.
Gerade in diesem essenziellen Kontext tritt freilich ein großes Aber in den Fokus: Storytelling steht immer stärker unter dem Verdacht des Manipulativen. Im medialen Bereich ist es u. a. die Relotius-Affäre um erfundene bzw. gefälschte Reportagen, die das Misstrauen gegen das publizistisch-professionelle Erzählen verstärkt und das sowieso schon zunehmend gestörte Verhältnis zwischen Medien und Publikum (Weischenberg 2018; Wolf 2015) weiter beeinträchtigt hat. Dass mit Storytelling Menschen stark beeinflusst werden können, stellen seriöse Forschende nicht in Zweifel (z. B. Müller 2020; Thier 2017; Prinzing 2015). Doch häufig werden fast im selben Atemzug die Vorzüge und Chancen von Storytelling beschworen, häufig verbunden mit dem Hinweis auf das scheinbar größere Wirkungspotenzial von erzählten Geschichten. Dabei hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend gezeigt, dass strategisch-manipulativ eingesetzte oder häufig auch bewusst verkürzte Narrative Bevölkerungen spalten, Radikalismus und demokratiefeindliche Tendenzen befördern können. Besonders evident wurde dies in der Amtszeit des US-Präsidenten Donald Trump, der mit rassistisch konnotierten Narrativen wie „Make America great again“ oder dem Narrativ eines gänzlich unbewiesenen Wahlbetrugs solche Spaltungswirkungen evoziert hat. Auch in Deutschland setzen populistische Gruppierungen verkürzte oder lügenhafte Narrative verstärkt und nicht selten wirkungsvoll für demokratiefeindliche Propagandazwecke ein.
Hinzu kommen Hatespeech-Narrative in sozialen Medien und die evidente Zunahme von Verschwörungsgeschichten, die laut einer 2021 erschienenen Studie im Kontext der Coronapandemie weiter forciert wurde (Schüler et al. 2021). Gleichzeitig führt die ausgeprägt narrative Performance-Kultur in sozialen Medien, mit immer neuen geposteten Erfolgs- oder Aufreger-Storys, zu einem „endlosen Aufmerksamkeits- und Valorisierungswettbewerb“ (Reckwitz 2018, S. 179), unter dem nicht wenige User:innen zunehmend leiden. Negative Erfahrungen, etwa des Scheiterns oder der Krise, werden nach der Analyse des Soziologen Andreas Reckwitz in der heutigen digitalen Affekt- bzw. Positivkultur unterdrückt oder vermieden. Einzigartig, singulär sein zu sollen in diesem Aufmerksamkeitswettbewerb generiert einen „ Profilierungszwang , der zugleich ein Originalitäts-, Kreativitäts- und Erlebniszwang ist“ (Reckwitz 2018, S. 266).
Darüber hinaus ist die in nicht wenigen Fachbüchern und Praxisratgebern formulierte Euphorie, was die scheinbar deutlich größeren Wirkungspotenziale narrativer Darstellungsformen gegenüber nichtnarrativen angeht, nur bedingt angebracht und daher mit Vorsicht zu genießen. Dies lässt sich aus Metastudien ableiten, in denen jeweils eine größere Anzahl publizierter Studien zu kognitiven, emotionalen oder evaluativen und motivational-konativen Wirkungen des Storytellings analysiert wurden. Der Leipziger Kommunikationsforscher Felix Frey hat 2014 einen solchen systematischen Forschungsüberblick vorgelegt, in dem er 70 Studien aus 55 Publikationen analysiert hat (Frey 2014, S. 120–192). Der überwiegende Teil (75 Prozent) der Studien stammt aus den USA (ebd., S. 141). Die untersuchten Studien waren in den allermeisten Fällen (74 Prozent) in einem kommunikationswissenschaftlichen Anwendungskontext realisiert worden, u. a. in den Bereichen Werbung, Journalismus, politische Kommunikation und Gesundheitskommunikation. Studierende machten mit 70 Prozent in den Studien den überwiegenden Teil der Proband:innen aus (ebd.).
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