Da die Frage adäquater Kommunikation, gerade im zeitaktuellen Kontext der (digitalen) Transformation, von grundsätzlicher Relevanz ist, richtet sich dieses Buch an Lehrende, Studierende und Schüler:innen, aber insbesondere auch an Funktionsträger:innen aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Bildung, Wissenschaft, Medien, Kultur und Sport sowie an interessierte Bürger:innen. Wir wünschen allen Leser:innen eine möglichst anregende Lektüre, die zu einer regen Diskussion und auch kritischen Gegenrede motivieren mag.
1 Heldenreisen, Erfahrungs- und Erfolgsstorys, Performance-Geschichten und der Clash der Narrative: Eine Bestandsaufnahme zum Einsatz von Storytelling
Überblick | Das erwartet Sie in diesem Kapitel
In welchen Bereichen wird Storytelling eingesetzt, warum und wie geschieht dies? Diese Bestandsaufnahme zum Einsatz narrativer Konzepte und Tools soll neben den jeweiligen strategischen Zielsetzungen und Wirkungsmustern sowohl Stärken und Chancen als auch Schwächen sowie Risiken des Storytellings beleuchten, um ein möglichst differenziertes Gesamtbild zu erarbeiten. Am Ende des Kapitels erfolgt daher eine SWOT-Analyse.
Die Beschäftigung mit den Einsatzfeldern von Storytelling als Methode der narrativen Darstellung von Sachverhalten, Ereignissen oder Entwicklungen erfordert die trennende Kategorisierung in fiktionale und faktuale Erzählung (Müller 2019, S. 136f.). Gleichzeitig gilt es auch, den Blick darauf zu richten, wo und in welcher Form beide Bereiche Schnittstellen aufweisen oder sich miteinander verbinden bzw. ineinanderfließen.
1.1 Fiktionales Erzählen in Filmen und Serien
Romane, Theaterstücke, Kino- und Fernsehfilme oder Serien stehen typischerweise für die fiktionale Narrati onNarrationfiktionale. Romanautor:innen und Drehbuchschreiber:innen haben die Lizenz zur Erfindung jeglicher nur denkbaren oder imaginären Figuren, Handlungen und Welten. Sie sind nicht an realitäre Räume und Zeiten gebunden, können die unglaublichsten Dinge und kühnsten Utopien schildern. Doch sehr häufig beinhalten fiktionale Texte Bezüge zu realen Orten, historischen Zeiträumen oder Sachverhalten. Und insbesondere in der Rezeption des fiktionalen StorytellingStorytellingfiktionaless kommen Aspekte des Faktualen zum Tragen: Rezipient:innen erwarten meist nicht nur Kohärenz, Verständlichkeitund Logik, sondern fordern nicht selten, dass auch erfundene Geschichten , realistisch‘ sein sollen.
Tatort -Drehbuchautor:innen kennen dies. Wenn sie in einem – fiktiven – Mordfall die TV-Kommissar:innen mit Strategien und Methoden jenseits des professionellen Polizeialltags ermitteln lassen, lässt die Kritik an den Macher:innen der ARD-Krimikultserie nicht lange auf sich warten: „viel zu unrealistisch.“ Inzwischen werden nach Ausstrahlung der Krimis Fakten-Checks zu deren Realitätsgehalt publiziert. Wahrgenommene Widersprüche zwischen der fiktiven Erzählwelt und der selbst erlebten oder empirisch nachprüfbaren Welt des Faktualen können bei Rezipient:innen also kognitive Dissonanz enDissonanzenkognitive auslösen.
Weichen Inhalte eines Spielfilms von gesellschaftlich-konventionellen Denkmustern, Realitätsdarstellungen, Frames, brain scripts und Narrativen ab, kann die evozierte Dissonanz sogar hochpolitisch konnotiert sein. Fast schon zu einer Staatsaffäre wuchs sich 2017 die Stuttgarter Tatort -Folge „Der rote Schatten“ aus. Regisseur Dominik Graf hatte nicht nur zeitgeschichtliche Dokumente zum RAF-Terror im Jahr des ‚Deutschen Herbstes‘ 1977 in den Krimi eingebaut. Vielmehr hatte er die in linken Kreisen lange ventilierte Spekulation, das Führungstrio um Andreas Baader habe im Stammheimer Hochsicherheitstrakt nicht Selbstmord begangen, sondern sei von einem Mordkommando umgebracht worden, szenisch durchgespielt. Selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sah sich damals, nachdem die Bild -Zeitung bereits großbuchstabig die Skandalisierungsmaschine angeworfen hatte, zu einer staatlich-offiziösen Kritik an einer fiktionalen Krimiserie veranlasst: Der Tatort habe „die Märtyrerlegende vom Justizmord an den Häftlingen“ wiederaufleben lassen (Körte 2017).
Gerhard Baum, der in der ‚bleiernen‘ Zeit der RAF-Morde an Generalbundesanwalt Siegfried Buback, Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer und anderen Repräsentanten des Staates Bundesinnenminister war, warf dem Tatort -Regisseur vor, „die unerträgliche Vermischung von Realität und Fiktion“ sei „unverantwortlich“ (Körte 2017). Dies löste wiederum im Feuilleton deutscher Medien Erregung aus. „Was Baum unerträglich findet, man muss leider so trivial werden, ist das Prinzip fiktionalen Erzählens in Literatur, Film und Theater“, schrieb Peter Körte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (ebd.). „Dass er es so unerträglich findet, mag auch damit zu tun haben, dass Graf ein unausgesprochenes Bilderverbot übertreten hat. Zu sehen, wie die Häftlinge getötet werden, hat eine größere Wucht, als würde lediglich darüber gesprochen“ (ebd.). Man solle trotzdem das Durchspielen von Möglichkeiten nicht mit einer These verwechseln (ebd.). Und der Kulturjournalist gab zu bedenken:
„Wenn die empörten Kritiker im staatstragenden Ton warnen, nach Ansicht des Films werde man die Tötung für die amtliche Version der Wahrheit halten, dann erklären sie implizit das Publikum für unfähig zu begreifen, was sie selbst natürlich durchschaut haben; es treibt sie dabei weniger die Sorge um fatale Auswirkungen auf das politische Bewusstsein der Nation als die Angst um ihre Deutungshoheit, die sie mit Filmen wie dem ‚Baader-Meinhof-Komplex‘ durchgesetzt glauben. Für diese Hegemonie ist Grafs Verfahren natürlich ein Affront, weil auch die immergleichen RAF-Bilder, die zirkulieren, nun konkurrieren müssen mit neuen“ (Körte 2017).
Reflexion | Was denken Sie?
Wie realistisch sollen oder dürfen fiktive Filme sein?
Dieses Fallbeispiel zeigt exemplarisch, wie stark die Wirkung von Narrativen in einem fiktionalen Genre auf das Verständnis oder die Konstruktion von Realitätim faktualen Kontext sein kann.
Fundierte und intensive Recherche, so der Tenor in der Filmbranche, gehört zwingend zum Handwerkszeug von Drehbuchautor:innen oder Regisseur:innen. Sie wird von Funktions- und Entscheidungsträger:innen im Film- und Fernsehgeschäft zunehmend eingefordert. Ein Drehbuch für einen ‚schwäbischen Krimi‘ abzuliefern, in dem sich das Schwäbische lediglich darin finde, dass der Kommissar regelmäßig Maultaschen verzehre, erfülle den Rechercheauftrag in keiner Weise, monierte 2015 die damalige Filmchefin des Südwestrundfunks (SWR), Martina Zöllner, im Rahmen der Veranstaltungsreihe Facts & Fiction , bei der sich Journalist:innen und Drehbuchautor:innen regelmäßig austauschten. An der renommierten Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg sind Recherche-Kurse für Studierende aller Sparten der Filmproduktion seit längerem fester Bestandteil des Curriculums. Häufig werden sie von Journalist:innen gehalten.
Es ist nicht das einzige Terrain, auf dem Erzähler:innen fiktionaler Geschichten zunehmend mit Faktenvermittler:innen in Kontakt treten. Die verstärkte Kooperation von Filmmanagement und Nachrichtenmedienzeichnet sich sogar als medialer Branchentrend ab. Im August 2020 gab Constantin Film die exklusive Zusammenarbeit mit der Süddeutschen Zeitung (SZ) bekannt. Konkret gehe es darum, dass SZ-Autor:innen Produzent:innen und Drehbuchautor:innen bei verschiedenen Filmprojekten beraten. Die neue Partnerschaft sei „ein gelungenes Beispiel dafür, dass sich journalistische Stoffe in unterschiedlichen Formaten, von Print bis Bewegtbild, erzählen lassen“ (Constantin Film 2020).
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