»Sie werden uns nicht begleiten?«
»Nicht ohne einen triftigen Grund«, antwortete Mains.
»Ohne einen triftigen Grund? Wie wäre es mit dreiundzwanzig Leichen? Ist das kein triftiger Grund für Sie?«
Mains ließ seinen Blick über die fassungslosen Gesichter der Überlebenden in der Kantine schweifen. Männer und Frauen, mit Tränen in den Augen oder starr vor sich hin brütend. Menschen, die noch vor Angst zitterten oder immer noch nicht fassen konnten, was hier passiert war. Unter ihnen befanden sich auch einige Kinder. Die einen drückten sich fest an ihre Eltern, ein paar andere saßen stumm nebeneinander. Viele von ihnen waren zu Waisen geworden. Mains fühlte mit ihnen.
Ein paar der Indies hatten ebenfalls überlebt, und ohne ihre Waffen machten sie nun so gar nicht mehr den Eindruck, als hätten sie die Lage unter Kontrolle. Sie traf keine Schuld an dem Massaker, aber Mains brachte es trotzdem nicht über sich, mit ihnen zu sprechen. Wären sie besser ausgebildet und ausgestattet gewesen und hätten die Gefahren ernster genommen, die sie hier draußen am Rande des Outer Rim erwarten würden, hätten sie womöglich effektiver Widerstand leisten können. Womöglich. Aber nun war es eben geschehen.
»Könnten wir die Unterhaltung vielleicht an einem anderen Ort fortsetzen, Commander Niveau?«
Niveau funkelte ihn an, aber seine Drohgebärden und seine Wut dienten nur dazu, seine unglaubliche Angst zu verbergen. Er hatte das Kommando über diese Forschungsstation. Mit dem Schrecken, der sie heimsuchte, hatte niemand gerechnet.
»Aber … es sind wenigstens siebzig Tage bis zum Sprungtor … und unser Orbit trägt uns stetig weiter davon weg.«
»Dann sollten Sie umso eher aufbrechen«, antwortete Mains gleichgültig. »Können wir in Ihr Büro gehen? Bitte? Ihre Leute müssen sich ausruhen, etwas essen, Kräfte für die Reise sammeln. Den Rest können wir unter uns besprechen.«
»Herrgott noch mal!«, brüllte Niveau. Er zitterte, doch anstatt vor Zorn rot anzulaufen, bekam seine Haut einen aschfahlen, geisterhaften Ton. »Sie sind hier, um uns …«
Mains drehte dem Commander den Rücken zu und wandte sich den Überlebenden zu, die in der Kantine verteilt waren und ohnehin an seinen Worten hingen. Er und seine Einheit waren hierher gekommen, um sie zu retten, und nun warteten sie darauf, was als Nächstes passieren würde.
Niveau verstummte und Mains hörte das Knarzen eines Plastikstuhls, auf den er sich fallen ließ.
»Sechs Stunden«, begann er. »So viel Zeit bleibt Ihnen noch, um die Station herunterzufahren. Sammeln Sie alle Daten und Informationen zusammen, die Sie mitnehmen müssen. Packen Sie Ihre persönlichen Sachen zusammen. Was die Flugmannschaft angeht, die Vorab-Checks ihres Apollo-Transporters beginnen in dreißig Minuten.«
Dann nickte er mit dem Kopf in Richtung der Indies. »Sie sammeln die Toten ein. Stecken Sie alle in Leichensäcke, und bringen Sie sie an Bord der Apollo. Zeigen Sie dabei den gleichen Respekt, den Sie auch Ihren eigenen Leute entgegenbringen würden. Meine Leute kümmern sich um die Leichen der Yautja. Sie werden ihre Reise zusammen mit Ihnen antreten.«
Sein letzter Satz schien einigen nicht zu behagen, aber Mains spürte, dass die Wissenschaftler und die Besatzung ihm vertrauten. Das war gut, das war richtig so – aber um es zu gewinnen, hatte er ihrem Befehlshaber die kalte Schulter zeigen und ihn übergehen müssen.
Bevor er sie auf die Reise schickte, würde er das wieder geraderücken müssen.
Nirgendwo steht geschrieben, dass ich auch den Politiker geben muss , dachte er und drehte sich wieder zu Commander Niveau um.
»In Ihr Büro?«, fragte Mains, obwohl es nicht als Frage gemeint war.
Der Raum war karg und funktional gestaltet, ohne luxuriösen Pomp. An der Wand hing ein Holo-Schirm, über den eine Reihe von Daten huschten, als sie das Büro betraten. Für Mains ergaben sie keinen Sinn. Niveau betrachtete die Anzeigen für einen Moment, dann murmelte er einen Befehl und schaltete den Schirm ab. Er setzte sich auf seinen Stuhl hinter seinem Schreibtisch und wandte sich ihm zu.
»Diese Vorstellung eben …«
»Brian Willis war siebenunddreißig Jahre alt«, sagte Mains. »Er war ein Private und wurde mehrere Male für eine Beförderung bei den Colonial Marines übergangen. Wegen seiner angeblich aufsässigen Art, wie es hieß. Er diente in der 17th Spaceborne, als ich ihn rekrutierte. Die Einheit trugt den Spitznamen BloodDoves, und Willis passte irgendwie nicht so richtig hinein. Er war nicht aufsässig, nur neugierig. Er mochte keinen … Trott. Mit Befehlen hatte er keine Probleme, aber ihn interessierte immer, was hinter dem nächsten Außenposten lag, der nächsten Bergbaukolonie, der nächsten Forschungsstation auf einem Asteroiden. Er wollte mehr, also schloss er sich mir an. Ließ seine Frau zurück, die sein Fernweh nie wirklich nachvollziehen konnte. Sie hat die Erde nie verlassen, also können Sie sich vorstellen, wie unterschiedlich die beiden waren.« Mains wusste, dass das für sie alle galt. Wer so weit hier draußen, am äußersten Ende der sich immer weiter ausdehnenden Menschlichen Sphäre arbeitete, brauchte dafür eine gewisse Grundeinstellung.
»Er starb bei dem Versuch, einen Yautja von einem Raum wegzulocken, in dem ein paar Indies einen ihrer Wissenschaftler und dessen Familie beschützten. Wäre der Yautja dort eingedrungen und hätte seine Waffen scharfgemacht, hätte es das Leben aller darin gekostet. Das Ganze wäre wahrscheinlich auch sehr schnell gegangen, denn im Eifer der Jagd töten sie ihre Beute für gewöhnlich so effizient wie möglich. Aber wir wissen auch, dass einige von ihnen durchaus sadistisch veranlagt sein können. Vielleicht hätte er sich also etwas Zeit damit gelassen.«
»Sie haben Ihren Standpunkt deutlich gemacht«, sagte Niveau.
»Noch nicht ganz. Nicht, bevor ich Ihnen nicht noch etwas über Lizzie Reynolds erzählt habe. Sie war noch sehr jung. Tatsächlich war das ihr erster Einsatz außerhalb des Sol-Systems. Die ersten Jahre trug sie das Barett der Marines auf der Charon Station. General Bassett persönlich erkannte das Potenzial, das in ihr schlummerte. Sie war eine Einzelgängerin, die sich in kleinen Einheiten am wohlsten fühlte. Das mag sich wie ein Widerspruch anhören, ist es aber nicht. Lizzie war jemand, die stets nach vorn sah, die bis an ihre Grenzen gehen wollte, und sie erwähnte kein einziges Mal, dass sie wieder nach Hause wollte. Niemals. Soweit es Lizzie betraf, hätten wir ewig durch das Outer Rim patrouillieren können. Wir machen hier unseren Job, Niveau. Lizzie wusste das, und sie starb in Erfüllung ihrer Pflicht.«
Niveau nickte andächtig, seine Augen füllten sich mit Tränen. Er zitterte immer noch. Mit etwas Pech würde er noch zittern, nachdem er geduscht hatte, etwas aß, sich auszog und für die zehnwöchige Reise in seiner Kälteschlafkapsel bis zum Sprungtor vorbereitet wurde.
Er hat ebenfalls Leute verloren, rief sich Mains ins Gedächtnis zurück. Sogar weitaus mehr als er.
»Es tut mir leid«, sagte Niveau. »Es tut mir leid wegen Ihrer Verluste.«
»Ja … und ich bedauere Ihre.«
Niveau starrte ihn eine Zeit lang an, als müsse er sich darauf vorbereiteten, etwas anderes zu sagen. Dann zog er eine Kontrolltafel über den Tisch zu sich heran, wischte über die Oberfläche und hielt sie so, dass er die Anzeige betrachten konnte, die aus dessen Holo-Schirm wuchs.
»Unser Status«, sagte er. »Meine Leute arbeiten schnell. Hier, sehen Sie, die blauen Bereiche sind bereits heruntergefahren.«
Mains ließ sich in einen der gepolsterten Stühle fallen. Er hätte in diesem Moment alles für einen Drink gegeben. Aber die Unruhe in ihm wuchs, der Drang, die Station zu verlassen. Er musste mit seinen Leuten sprechen, und zwar bald. Aufzeichnungen vergleichen, Gedanken austauschen. Und mehr als alles andere musste er eine Nachricht an das Hauptquartier der Excursionists schicken und ihre Meinung zu all dem einholen.
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