Auch in der Geschichte der DDR finden sich Beispiele fortdauernder rassistischer Ausschlussprozesse. Der Kommunismus hatte nach dem Zweiten Weltkrieg den Faschismus zwar unterdrückt, ihn aber nicht zerstört. Rassismus und Antisemitismus wurden fortan strengstens gesetzlich geregelt, aber nie als nationale Realität anerkannt oder aufgearbeitet. So kam es in der DDR durchaus zu rassistischen, antisemitischen und auch neonazistischen Taten, von Schmierereien bis hin zu körperlicher Gewalt. Der Historiker Harry Waibel weist in einer 2014 erschienenen Studie zu unveröffentlichtem DDR-Archivmaterial ca. 9000 neonazistische, rassistische und antisemitische Propaganda- und Gewalttaten nach.[35]
Ein konkretes Beispiel des gesetzlich geregelten Rassismus ist etwa das der Schwarzen Vertragsarbeiter:innen aus Mosambik, Angola und Kuba, die nicht integriert wurden, sondern gezwungen waren, in Segregation zu leben. Nach der Wende wurden sie allerdings nicht in die gefeierte Gesamtgesellschaft eingebürgert, sondern zum Teil des Landes verwiesen, nachdem ihre Verträge beendet wurden. Ähnlich erging es in der DDR lebenden Namibier:innen. Mit dem Verlust der deutschen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg wurde Namibia mit den Vereinbarungen des Versailler Vertrags von 1915 bis 1990 einem anderen afrikanischen Land unterstellt: dem weißen Südafrika. Im Zuge ihrer Befreiungskämpfe gegen das Apartheidregime flohen viele Namibier:innen in das nördlich angrenzende Angola, wo sie von Kuba und der ehemaligen DDR gerettet werden konnten. Insgesamt vierhundert namibische Vorschulkinder kamen auf diesem Weg nach Ostdeutschland, wo sie bis zum Mauerfall gelebt haben. Mit der Wiedervereinigung und dem Erlangen der Unabhängigkeit Namibias wurden sie jedoch nicht eingebürgert, sondern nach Namibia zurückgeschickt, obwohl sie zum Teil seit 1979 in der DDR gelebt hatten. Mit der Wende ging ein wichtiger Teil (Schwarzer) deutscher Geschichte verloren, über den kaum in der Öffentlichkeit gesprochen wird.
Anders als andere Communitys schauen Schwarze Menschen in Deutschland nicht auf ein gemeinsames Herkunftsland zurück und sprechen auch nicht dieselbe Herkunftssprache. Aufgrund dieser Vielfalt ist es fast unmöglich, die Schwarze Community statistisch zu erfassen. Dies soll nun mit dem #Afrozensus erreicht werden. Von Juli bis September 2020 wurde die Onlinebefragung vom Schwarzen Empowerment-Projekt Each One Teach One (EOTO e.V.) durchgeführt, um belastbare Zahlen über die Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen und Zukunftsperspektiven von Schwarzen Menschen in Deutschland zu bekommen. Ziel der Hashtag-Initiative ist es, für mehr Sichtbarkeit der Schwarzen Bevölkerung zu sorgen. Die Ergebnisse werden im Frühjahr 2021 erwartet. Sie werden den Communitys und der Politik zur Verfügung gestellt. Auf dieser Basis sollen konkrete politische Maßnahmen vorgeschlagen werden, um Rassismus abzubauen und Schwarze Menschen in Deutschland besser schützen und fördern zu können.[36]
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass wir über Rassismus nicht aus nur einer Perspektive heraus sprechen dürfen. Wir können verwobene Geschichten nicht erzählen, als handele es sich um eine einzige Geschichte. Wir können nicht viele Realitäten auf eine Realität minimieren und dann behaupten, das sei die ganze »objektive« Wahrheit. Und ebenso wenig können wir unseren Blick auf nationale Gegebenheiten begrenzen, sondern müssen auch immer den globalen Kontext mitdenken. Hinzu kommt, dass auch andere Debatten nicht in ihrer Gänze geführt werden können, ohne über strukturellen Rassismus zu sprechen, wie beispielsweise die Klimadebatte: Industrialisierung als Ursache des Klimawandels wurde nur durch Kolonialisierung und Versklavung möglich, die hier in Europa und nicht in den USA oder auf dem afrikanischen Kontinent mit den »Entdeckungsreisen« der Europäer:innen im 15. Jahrhundert begannen.[37] Auch treffen die Folgen des Klimawandels unterschiedliche geografische Regionen auf unterschiedliche Art und Weise, wie die Schwarze Klimaforscherin Rebecca Abena Kennedy-Asante erklärt:
»Weltkarten über die Verwundbarkeit zeigen, dass Länder im Globalen Süden am stärksten von Klimawandelfolgen betroffen sind. Beispielsweise gibt es in Trockengebieten spezialisierte Ökosysteme, die an hohe Temperaturen und geringe Niederschlagsmengen angepasst sind. Aber wenn sich das verstärkt, kollabieren die Systeme, und Individuen und Arten sterben. Veränderte Lufttemperaturen können Zyklone verstärken, wie dieses Jahr in Mosambik und Zimbabwe. Außerdem schmelzen Pole, Meeresspiegel steigen, Trinkwässer auf pazifischen Inseln versalzen, und Küstenregionen werden überflutet. So werden aus ökologischen Krisen soziale Krisen.«[38]
In Europa schauen wir allerdings vom Sofa aus zu, wie Schwarze Körper seit Jahren im Mittelmeer ertrinken, wenn sie versuchen, diesen Krisen zu entfliehen. Und sollten sie Europa doch erreichen, dann sind sie dazu verdammt, ihr Leben im Lager oder in der Illegalität mit stetiger Bedrohung von (staatlicher) Gewalt zu fristen. Erst dann, wenn wir also verstanden haben, dass Rassismus strukturell ist, das Rassedenken ungebrochen fortwirkt, Kolonialismus noch andauert und die Erderwärmung und das Sterben im Mittelmeer unmittelbar damit zu tun haben, können wir diese Debatten zusammenführen und nicht nur soziale Gerechtigkeit, sondern intersektionale Gerechtigkeit einfordern. Wenn wir aber die politischen Themen und gesellschaftlichen Teilbereiche voneinander isolieren, kommen wir nicht an die verwobenen Strukturen des Rassismus heran und können auch keine nachhaltigen Lösungen finden.
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