Bei der weiteren Etablierung des Rassebegriffs und der Entwicklung von Rassentheorien spielte, wie eingangs erwähnt, der europäische Kolonialismus eine bedeutende Rolle. Das deutsche Kolonialreich umfasste Teile der heutigen Staaten Burundi, Ruanda, Tansania, Namibia, Kamerun, Gabun, Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Nigeria, Togo, Ghana, Neuguinea und mehrere Inseln im Westpazifik und Mikronesien. Koloniale Kontinuitäten zeigen sich heute in Deutschland im öffentlichen Raum (am Beispiel kolonialer Straßennamen), in Museen (am Beispiel kolonialer Raubkunst) oder in den Namen von medizinischen Kliniken, wie beispielsweise beim Virchow-Klinikum Berlin. Der deutsche Arzt und Pathologe Rudolf Virchow (1821–1902) gilt bis heute als einer der wichtigsten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Im Laufe seines Lebens trug er eine große Sammlung von menschlichen Schädeln zusammen. Schätzungen zufolge wurden dafür rund dreihundert Schädel gestohlen. Sie stammen von Opfern des vierjährigen Aufstands der Ovaherero, Nama, Damara und San gegen ihre deutschen Kolonialherren von 1904 bis 1908. Teile dieser Sammlung sowie mehrere Objekte aus anderen Sammlungen sind im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité (BMM) gelagert. Ursprünglich gemessen, um Menschen von Tieren zu unterscheiden, wurden Schädel bald verwendet, um die Idee »menschlicher Rassen« zu bescheinigen. Später wurden sie eingesetzt, um mehr über den menschlichen Geist herauszufinden. Dies schlug jedoch mangels geeigneter Methoden fehl. Der Schweizer Anatom Franz Joseph Gall (1758–1828) versuchte zu beweisen, dass bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen in den Schädel eingeprägt seien, was zu der fiktiven Vorstellung führte, dass Charaktereigenschaften biologisch bestimmbar und messbar seien.[26]
Diese rassistischen Absurditäten nahmen keinen Abbruch und beeinflussten schon früh die soziale Realität von Schwarzen Deutschen, die auf Grundlage der kolonialen »Mischehegesetze« in den meisten Fällen als »illegitime« Kinder deutscher Eltern geboren wurden und aufgrund ihrer vermeintlichen »Rassenzugehörigkeit« kein Aufenthaltsrecht im deutschen Kaiserreich erhielten: Damals wurde Deutschsein per Gesetz als weiß festgeschrieben, ohne es jedoch explizit so zu benennen. Vielmehr wurde gesetzlich geregelt, dass die Nachkommen von Afrikaner:innen, damals »Eingeborene« genannt, nicht Deutsche sein könnten.[27] Auch die Residenzpflicht wurde als politische Kontrollmaßnahme in Kolonialregierungen eingesetzt und ist auch heute wieder im Asylgesetz zu finden: Nach § 56 des Asylgesetzes dürfen sich Asylbewerber:innen und Geduldete nur in einem ihnen zugewiesenen Aufenthaltsbereich bewegen. Als Reaktion auf die rassistischen Brandanschläge in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen Anfang der 1990er Jahre wurde dieses Gesetz durch den sogenannten Asylkompromiss verschärft.[28] Die damaligen Ausschreitungen sowie der seit Ende der 1990er aktive NSU, in Chemnitz und Zwickau verwurzelt, und sein weitreichendes Netzwerk bereiteten den Nährboden für die heutigen rassistischen Bewegungen wie Pegida, die Identitäre Bewegung, rechte Hooligans, NPD, AfD und nicht zuletzt »besorgte Bürger:innen«. Die in den Medien kreisenden emotional aufgeladenen Berichte über »kriminelle Migrant:innen« und »Wirtschaftsflüchtlinge«, gekoppelt mit Angstposts in den sozialen Medien, fanden breitflächig ihren Weg auf deutsche Straßen.[29]
Tödlichen Höhepunkt bildeten die gewalttätigen Ausschreitungen im ostdeutschen Chemnitz im September 2018. Nach einer Auseinandersetzung am Rande eines Stadtfestes war es zu einer Messerstecherei gekommen. Ein Mann wurde tödlich und zwei weitere schwer verletzt. Rechte und rechtsextreme Gruppen riefen aufgrund der Nachricht vom vermeintlichen Migrationshintergrund des Täters zu Demonstrationen auf. Die Polizei sah keinen Anlass, die Einsatzkräfte zu verstärken, obwohl sie rechtzeitig über die Aktivitäten informiert worden war. Die deutsche Presse schaffte es lange nicht, zu benennen, dass der getötete Daniel Hillig ein Schwarzer Deutscher war, der selbst jahrelang rechte Gewalt und Rassismus erleiden musste. Ein Umstand, der den rechten Netzwerken in die Hände spielte. Die rechte Szene zeichnete und instrumentalisierte das Bild eines Täters mit Migrationshintergrund, der einen vermeintlich weißen Deutschen tötete.[30] So versuchte die Szene, die Tat zu rassifizieren und als Beweis für den in der Einleitung bereits angesprochenen Mythos, es gebe Rassismus gegen weiße Menschen, zu missbrauchen.
Die Schwarze deutsche Historikerin Fatima El-Tayeb beschreibt die gegenwärtige Situation folgendermaßen:
»Die Not der Geflüchteten hat etwas erschreckend Stabilisierendes für die deutsche Identität. Die Welle rassistischer Gewalt um die sogenannte ›Asylkrise‹ in den 1990ern, der politische Ruck nach rechts, um den ›Sorgen der Bürger‹ entgegenzukommen, die Verschärfung eines vormals relativ großzügigen Asylrechts, das zum ersten Mal auf die Probe gestellt worden war – all das scheint ebenso vergessen wie die Diskussion um die Notwendigkeit, Rassismus als solchen zu benennen. Stattdessen geht es wie gehabt um ›Fremdenfeindlichkeit‹.«[31]
Rassismus als strukturelles Phänomen darf nicht hinter Worthülsen wie »Fremdenfeindlichkeit« oder »Ausländerfeindlichkeit« verschwinden, denn es geht hier weder um »Fremde« noch um »Ausländer:innen«. Fremdbezeichnungen wie »Migrant:in«, »Mensch mit Migrationshintergrund« oder »Mensch mit Migrationsgeschichte« greifen zu kurz, weil die meisten so bezeichneten Menschen vor vielen Jahrzehnten aufgehört haben zu migrieren. Wie wir am Beispiel von Anton Wilhelm Amo sehen, lebten Schwarze Menschen bereits im 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum, und viele Schwarze Familien haben seit der deutschen Kolonialisierung noch immer ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Daher haben Schwarze Menschen das Recht auf eine eigenständige deutsche Geschichtserzählung, die nicht nur generationsübergreifende Migrationserfahrungen in den Vordergrund stellt, sondern Schwarze Vielfalt und Verwurzelung hierzulande widerspiegelt und Schwarze Menschen als Subjekte anerkennt. Dafür stehen die Selbstbenennungen Schwarze Deutsche oder Afrodeutsche bereit. Diese finden aber aufgrund des Rassismus nur schwer Einzug in Medien und Politik. Dabei kann und darf Schwarze deutsche Geschichte nicht ausschließlich im Kontext von Migration und Integration gelesen werden. Genauso wenig darf sie mit der Geschichte des Rassismus gleichgesetzt werden. Vielmehr müssen die Gesellschaftsstrukturen in den Blick genommen werden, die Ausschlüsse produzieren, eine Schwarze deutsche Geschichtserzählung unmöglich machen und das Gefühl erzeugen, »fremd im eigenen Land«[32] zu sein.
Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts weist viele Beispiele andauernder Kolonialität auf, z.B. wie Schwarzen Deutschen ihr Deutschsein abgesprochen wurde und sie zu Fremden gemacht wurden, – und sie reichen sogar bis in das 21. Jahrhundert hinein. Als Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg im Rahmen des Versailler Vertrags seine Kolonien an die Alliierten abgeben musste, verloren die Deutschen nicht nur ihre Kolonialterritorien: Zahlreiche im Kaiserreich lebende Kolonialmigrant:innen verloren im Zuge dessen ihren Aufenthaltsstatus. Sie erhielten »Fremdenpässe«, wie Theodor Wonja Michael in seiner Biografie berichtet, oder sie wurden des Landes verwiesen.[33] Sie waren gezwungen, ihre deutsche Heimat und ihre Familien zu verlassen. Weiterhin wurden seit Ende des Ersten Weltkrieges die Nachkommen von Schwarzen, meist französischen Soldaten und weißen deutschen Frauen*, als »Rheinlandbastarde« herabgewürdigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde wiederum nach einer offen rassistischen Bundestagsdebatte entschieden, die Kinder von Schwarzen US-amerikanischen Soldaten und weißen deutschen Frauen* in den USA zur Zwangsadoption freizugeben. Die rassistische Struktur war hierbei mächtiger als die Staatsangehörigkeit der weißen deutschen Mütter, deren Kinder nicht mehr als Deutsche in Deutschland leben durften – eine ziemlich perfide Verstrickung von Patriarchat und Rassismus. Die Bundestagsdebatte um diese Zwangsadoptionen verweist zudem auf die institutionelle Dimension rechtlicher Entscheidungen und macht die Billigung und Unterstützung des Anti-Schwarzen Rassismus durch die Alliierten sichtbar.[34]
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