Es wäre unfair, das frühe Christentum und die jüdische Religion danach zu beurteilen, wie sie miteinander umgingen, denn für beide Religionen hatte das Verhältnis zur anderen keinen hohen Stellenwert. Dennoch belastet uns noch immer das Erbe des Misstrauens und der gegenseitigen Animositäten. Erst in jüngster Zeit haben die Christen begonnen, mit dieser dunklen Seite ihres Glaubens und dem Elend und Leid, das daraus erwuchs, ins reine zu kommen. Wiewohl die Grundlagen schon früher gelegt wurden, hat – vor allem seit dem Holocaust – der christlich-jüdische Dialog neue Wege der Versöhnung eröffnet und zur Revision traditioneller christlicher Haltungen, aber auch der christlichen Theologie gegenüber den Juden und dem jüdischen Glauben geführt.
3 Wie entwickelte sich das Judentum weiter?
Am 24. Juni 1985 gab die »Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden« ein Dokument mit dem wenig einprägsamen Titel »Bemerkungen zur korrekten Darstellung der Juden und des jüdischen Glaubens in Predigt und Katechese in der römisch-katholischen Kirche« heraus. Darin stehen die denkwürdigen Worte: »Erinnern wir uns, daß die lange Geschichte Israels von einer ununterbrochenen geistigen Produktivität – in der rabbinischen Periode, im Mittelalter und in der Neuzeit – begleitet ist, die ihren Ursprung in einem Erbteil hat, das wir lange gemeinsam teilten.« Weiter heißt es, Papst Johannes Paul II. habe erklärt, dass »der Glaube und das religiöse Leben des jüdischen Volkes, so wie sie heute noch immer verkündet und praktiziert werden, unser Verständnis gewisser Aspekte der Kirche erheblich vertiefen können.«
Nach neunzehn Jahrhunderten durfte die Wahrheit endlich ans Licht kommen. Nicht nur die Kirche hatte sie unterdrückt. Allzu oft ist die »ununterbrochene geistige Produktivität« von jüdischen Historikern verdunkelt worden, die in einem Maße die Leiden und Martyrien des jüdischen Volkes ausbreiteten, dass die Chronik der Verfolgungen die andere Seite der Geschichte: die spirituelle und geistige Kreativität der Juden »in der rabbinischen Periode, im Mittelalter und in der Neuzeit« zu überschatten drohte.
Es ist ungewöhnlich, dass ein geschundenes, verfolgtes und vertriebenes Volk, häufig zudem der normalen Mittel des Lebensunterhalts beraubt und vom Zugang zu den großen Quellen der Gelehrsamkeit ausgeschlossen, eine Kultur von so hoher Vitalität hervorbrachte. Die zehn folgenden Skizzen illustrieren jeweils einen religiösen, geistigen oder sozialen Wert im jüdischen Leben. Wir hätten andere Personen auswählen können – Gamaliel II. etwa, den Schöpfer der Liturgie, oder den großen Philosophen, Richter und Arzt Moses Maimonides oder den grandiosen jüdisch-spanischen Dichter Jehuda Halevi aus dem 12. Jahrhundert oder Glücke von Hameln, deren jiddisches Tagebuch die intimen seelischen Sorgen und Ängste einer Mutter im 17. Jahrhundert offenbart. Oder hundert andere. Jede Auswahl wäre willkürlich.
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