Abb. 1.6: Das bio-psycho-soziale Modell am Beispiel einer Suchterkrankung
Im letzten Beispiel schließlich geht es um eine körperliche Behinderung in Form einer Querschnittslähmung. In der Komponente »Körperfunktionen« ist das Kapitel 7: »Neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen«, dort die Abschnitte Funktionen der Muskeln (b730 – b749) und die Funktionen der Bewegung (b750 – b789) betroffen. Im Zusammenhang mit diesen beeinträchtigten Körperfunktionen bestehen in der Komponente der »Aktivitäten« erhebliche Schwierigkeiten, zu gehen und sich fortzubewegen. Der technikbegeisterten Person ist es wichtig, nach einem Unfall wieder in Arbeit und Beschäftigung zu kommen. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der medizinischen und beruflichen Rehabilitation, die als Ressource aktiviert werden können. Maßnahmen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation können sowohl technische Hilfsmittel mit Einfluss auf beeinträchtigte körperliche Funktionen und die Aktivitäten sein, beispielsweise in Gestalt eines Rollstuhls. Gleichzeitig üben sie einen erheblichen Einfluss darauf aus, ob es der betreffenden Person möglich sein wird, mit bestehenden Beeinträchtigungen und Schwierigkeiten zukünftig einer Arbeit und Beschäftigung nachzugehen, um den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen.
Beeinträchtigungen des Körpers, der Seele, des Geistes oder der Sinne sind in der ICF in den Komponenten der Körperfunktionen und -strukturen beschrieben; einstellungs- und
Abb. 1.7: Das bio-psycho-soziale Modell am Beispiel einer Querschnittslähmung
umweltbedingte Barrieren bezeichnet einzelne Merkmale in der Komponente Umweltfaktoren, während die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft dem Begriff der Partizipation entspricht.
Dies hat für Instrumente zur Bedarfsermittlung in der Eingliederungshilfe zur Konsequenz, dass sie in Inhalt und Aufbau die einzelnen Komponenten der ICF beschreiben müssen. Darüber hinaus muss es möglich sein, die Wechselwirkung der einzelnen Komponenten und die Folgen dieser Wechselwirkung auf die Teilhabe in nachvollziehbarer Art und Weise transparent zu machen. Zu den Wechselwirkungen heißt es in der ICF:
»Diese Wechselwirkungen sind spezifisch, stehen aber nicht immer in einem vorhersehbaren Eins-zu Eins-Zusammenhang. … Es kann oft vernünftig erscheinen, eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit aus einer oder mehreren Schädigungen oder eine Einschränkung der Leistung aus einer oder mehreren Einschränkungen der Leistungsfähigkeit abzuleiten. Es ist jedoch wichtig, Daten über diese Konstrukte unabhängig voneinander zu erheben und anschließend Zusammenhänge und kausale Verknüpfungen zwischen ihnen zu untersuchen (DIMDI 2010: ICF, S. 22, Hervorhebung vom Autor).«
Im Folgenden werden die Begriffe »Aktivität«, »Leistungsfähigkeit« und »Leistung« im Sinne der ICF eingehender erläutert.
1.2.1 Aktivität: Leistungsfähigkeit und Leistung nach der ICF
Die ICF definiert Aktivität wie folgt: »Aktivität ist die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung durch eine Person. Sie repräsentiert die individuelle Perspektive der Funktionsfähigkeit.« (DIMDI 2010: ICF, S. 272).
Eine Person ist aktiv, wenn sie fähig ist, eine bestimmte Aufgabe zu bewältigen oder eine Handlung auszuführen. Damit eine Aufgabe bewältigt oder eine Handlung ausgeführt werden kann, müssen drei Bedingungen erfüllt sein (Nordenfelt 2003, S. 1076), wie die nachfolgende Abbildung verdeutlichen will (
Abb. 1.8).
Damit eine Aufgabe bewältigt oder eine Handlung durchgeführt werden kann, muss die Person leistungsfähig sein. »Leistungsfähigkeit« bezeichnet die innere Möglichkeit zur Durchführung einer Handlung, mithin die biochemischen, physiologischen und psychologischen Bedingungen, die einer Person eigen sind (Nordenfelt 2003, S. 1076).
Abb. 1.8: Konzept der Aktivität nach der ICF
Das Vorliegen von Leistungsfähigkeit allein führt noch nicht zur Bewältigung einer Aufgabe bzw. der Durchführung einer Handlung. Hinzukommen müssen die äußeren Gegebenheiten als äußere Möglichkeiten der Person, eine Handlung zu tun oder einer Aufgabe zu bewältigen. In der ICF werden die »äußeren Gegebenheiten« mithilfe der Klassifikation der Umweltfaktoren beschrieben.
Ist eine Person fähig, eine bestimmte Aufgabe zu bewältigen oder eine bestimmte Handlung zu tun und ist ihre Umwelt so gestaltet, dass der Bewältigung dieser Aufgabe oder der Ausführung der Handlung nichts im Wege steht (keine Barrieren vorhanden sind), so bedeutet dies nicht, dass die Aufgabe tatsächlich bewältigt oder die Handlung tatsächlich ausgeführt wird. Es muss eine weitere Bedingung hinzutreten, nämlich die der Handlungsbereitschaft.
»Handlungsbereitschaft« bezeichnet den Willen der Person 7 , die Aufgabe zu bewältigen und die Handlung auszuführen.
Nach diesem Handlungsmodell kommt eine Aktivität somit dann zustande, wenn eine besondere Person mit ihrer jeweils besonderen Leistungsfähigkeit in einer konkreten Umwelt lebt, welche die Bewältigung der Aufgabe bzw. die Durchführung der Handlung ermöglicht und diese Person diese Aufgabe tatsächlich bewältigen oder die Handlung tatsächlich durchführen will.
Als Beispiel: Für eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stellt die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, eine besonders bedeutsame Fähigkeit dar. Denn in der Entscheidung, der Auswahl unterschiedlicher Handlungsoptionen, kommt Selbstbestimmung als solche zum Tragen.
Fuchs (Fuchs 2020) gliedert Störungen der Willensbildung und damit der Entscheidungsfindung in drei Gruppen:
• in Störungen der Konation (Antriebsmangel oder -überschuss),
• der Inhibition (Hemmungsmangel oder -überschuss) und
• der Volition (Störungen der Willensbildung).
In der Sprache der ICF: Störungen der Konation und der Inhibition bezeichnen Schädigungen der mentalen Funktionen im ersten Kapitel der Komponente Körperfunktionen und -strukturen der ICF. Sie werden mit psychologischen bzw. medizinischen Methoden ermittelt und nach ihrer Schwere beurteilt. Störungen der Volition sind Beeinträchtigungen der Aktivität im ersten Lebensbereich der Komponente der Aktivitäten und Teilhabe der ICF: d177 Entscheidungen treffen als »eine Wahl zwischen Optionen zu treffen, diese umzusetzen und ihre Auswirkungen abzuschätzen, wie einen besonderen Gegenstand auswählen und kaufen, oder sich entscheiden, eine Aufgabe unter vielen, die erledigt werden müssen, übernehmen und diese ausführen.« (WHO 2005).
Um eine Entscheidung zu ermöglichen, könnte man die Störungen der Konation bzw. der Inhibition und deren Auswirkungen auf die Volition beeinflussen wollen. Oder man bemüht sich, eine Umwelt zu gestalten, die – bei bestehenden Störungen von Konation und Inhibition – gleichwohl Handlungsspielräume eröffnen, bspw. indem Alternativen vorgelegt werden, Zeit geschaffen wird, um eine Auswahl zu treffen und Anreize gegeben werden, eine Option zu wählen. Abbildung 1.9 will den Zusammenhang aufzeigen (
Abb. 1.9).
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