Für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ist das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ein Meilenstein auf dem Weg zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskommission und zu einer inklusiven Gesellschaft. Freilich sind die hierin enthaltenen fachlichen Grundsätze und Regelungen nicht im luftleeren Raum entstanden; sie sind vielmehr vorläufiger Endpunkt eines fachlichen Diskurses zum Aufbau eines personenzentrierten Leistungssystems, welcher beginnend Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrtausends in Deutschland maßgeblich von der Aktion Psychisch Kranke e. V. ( https://www.apk-ev.de/startseite) und der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft e. V. ( https://dhg-kontakt.de) angestoßen und von anderen Akteuren weitergetragen wurde.
So hat der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. im selben Jahr wie die Ratifizierung der UN-BRK durch die Bundesrepublik Deutschland Empfehlungen zur Bedarfsermittlung und Hilfeplanung (Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge e. V. 2009) veröffentlicht. In diesen Empfehlungen wurde erstmals definiert, was »Bedarf« in der Eingliederungshilfe ist 2 ; auch wurde für Deutschland erstmals vorgeschlagen, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2005) als kommunikatives Medium der Bedarfsermittlung zu verwenden. Der Landschaftsverband Rheinland nahm diese Empfehlungen zum Anlass, um sein Bedarfsermittlungsinstrument »IHP« auf die ICF umzustellen. Er führte damit das erste ICF-basierte Bedarfsermittlungsinstrument in der Eingliederungshilfe in Deutschland ein – 15 Jahre, bevor dies mit dem BTHG zum fachlichen Standard der Bedarfsermittlung wurde.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) legte im Jahr 2014 Empfehlungen vor, in denen sie die Anwendung des bio-psycho-sozialen Modells der ICF ebenfalls zum fachlichen Standard bei der Ermittlung von Leistungen der Rehabilitation erklärte ( https://www.bar-frankfurt.de).
UN-BRK und ICF sind konzeptionell eng miteinander verbunden. Beide nehmen Abschied von der Vorstellung, »Behinderung« sei mit der körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung eines Menschen gleichzusetzen. Vielmehr bringen sie eine dynamische Denkweise zum Ausdruck: »Behinderung« ist das Ergebnis einer Wechselwirkung, also eines dynamischen Geschehens zwischen der gesundheitlichen Beeinträchtigung eines Menschen und seiner Umwelt. »Behinderung« bezieht sich immer auf Teilhabe, also auf die Möglichkeit, sich in die menschliche Gemeinschaft und die Gesellschaft so einzubringen und mitzumachen wie Menschen ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen auch. D. h. die Ausrichtung an der Teilhabe der betroffenen Personen steht im Mittelpunkt der Betrachtung und nicht die An- oder Abwesenheit eines Gesundheitsproblems (
Abb. 1.1).
Abb. 1.1: Wegmarken zum Bundesteilhabegesetz
Mit diesem grundlegenden Wechsel der Perspektive auf »Behinderung« sind vielfältige Konsequenzen verbunden, die das eigene fachliche Selbstverständnis ebenso betreffen wie die Organisationen, aber auch die Finanzierung der Fachdienste.
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) soll in dieser Perspektive ein Förderfaktor in der Umwelt von Menschen mit Behinderung in Deutschland sein. Es setzt einen gesetzlichen Rahmen, um ein Mehr an Selbstbestimmung und voller, wirksamer, gleichberechtigter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben von Menschen mit Behinderung zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken (§ 1 SGB IX). Das Gesetz ist also ein Umweltfaktor, um zukünftig ein Mehr an subjektiv erlebter Teilhabe zu ermöglichen. 3
Mit Sicherheit sind auch andere Umweltfaktoren von Nöten, um dem Ziel näher zu kommen. Maßgeblich sind die Einstellungen der bedeutsamen Akteure im Arbeitsfeld, wie der Mitarbeitenden in den Diensten sowie deren Leitungen, und die fachlich-strategische Ausrichtung der Angebote. Wer Wohnheime nur in »besondere Wohnformen« umbenennen will, dürfte einen nur geringen Beitrag zur angestrebten Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten der Betroffenen leisten können. Es ist also keineswegs ausgemacht, ob das Reformvorhaben gelingt oder ob es auf der Strecke bleibt und damit eine aus menschenrechtlicher Sicht unbefriedigende Situation weiterhin bestehen bleibt.
Die Regelungen des BTHG bringen eine kaum zu bewältigende Komplexität mit sich. Das war dem Gesetzgeber bewusst. Deswegen hat er das Reformwerk in vier Schritten umgesetzt (
Abb. 1.2).
Abb. 1.2: Stufen des Inkrafttretens des BTHG
Die vierstufige Umsetzung des BTHG erstreckt sich über einen Zeitraum von sechs Jahren. Die Reformstufen treten jeweils zum 1. Januar des genannten Jahres in Kraft.
1.1.1 Erste Reformstufe: Besserstellung der leistungsberechtigten Menschen mit Behinderungen
In der ersten Reformstufe steigt das Schonvermögen für Bezieherinnen von SGB XII Leistungen von 2 600 auf 5 000 Euro (BMAS, 2018, S. 71). Der Einkommensfreibetrag wurde um 260 Euro gesteigert, der Vermögensfreibetrag spürbar erhöht, d. h. finanzielle Entlastungen für die Betroffenen wurden unverzüglich umgesetzt.
1.1.2 Neue Anforderungen an die Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs und Stärkung der Position von Menschen mit Behinderungen
Die Änderungen bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind im Januar 2018, also in der zweiten Stufe in Kraft getreten. Seitdem gilt auch der Teil 1 des neuen SGB IX, welcher sich auf das Verfahrensrecht bezieht, sowie der Teil 3, welcher sich mit dem Schwerbehindertenrecht befasst. 4 Im Verfahrensrecht wird das Prinzip der Leistungen »wie aus einer Hand« umgesetzt. Dieses Prinzip verpflichtet die Rehabilitationsträger, ihre Leistungen im Interesse der Leistungsberechtigten untereinander zu koordinieren und die Bedarfe gebündelt zu decken. 5 Außerdem wurde die Anwendung des bio-psycho-sozialen Modells als verbindlich für die Bedarfsermittlung erklärt (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) e. V. 2019).
Neben den Änderungen im Verfahrensrecht wurde das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen durch eine »Präzisierung bei der Angemessenheits- und Zumutbarkeitsprüfung« (BMAS, 2018, S. 4) erweitert. Diese Präzisierung stärkt die Wünsche der leistungsberechtigten Person insoweit, als der gewünschten Wohnform grundsätzlich zu entsprechen ist:
»Ist eine von den Wünschen des Leistungsberechtigten abweichende Wohnform nach diesen Kriterien nicht zumutbar, ist die gewünschte Wohnform entscheidend. Ist das Wohnen in besonderen Wohnformen zumutbar, ist den Wünschen nach einem Wohnen außerhalb dieser Wohnformen dennoch zu entsprechen, wenn der Bedarf ansonsten nicht gedeckt werden kann; andernfalls ist ein Kostenvergleich vorzunehmen. Werden das Wohnen in und außerhalb von besonderen Wohnformen im Rahmen der Angemessenheits- und Zumutbarkeitsprüfung gleich bewertet, ist dem Wohnen außerhalb besonderer Wohnformen der Vorzug zu geben, wenn dies dem Wunsch des Leistungsberechtigten entspricht« (ebd., S. 4)
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